Kinderstadt

In Spielstädten lernen Kinder, wie Wirtschaft funktioniert. Ist das ein sinnvolles Bildungsprogramm oder Kapitalismus-Propaganda? Ein Ortstermin in Hamburg.





Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 09/2021.

• Lucas, 8, ist immer noch schockiert. „Zuerst“, sagt er, „war ich im Sportpark fest angestellt. Aber da musste man nur ein bisschen turnen und spielen. Und dafür gab’s Geld! Geld fürs Spielen!! Hast du das schon mal gehört?“ Lucas war das ein wenig unheimlich.


Alltag im Mini-Kapitalismus: In der Fahrradwerkstatt wird das Geld gezählt, vor der Bank drängelt sich die Kundschaft, und der Druckwerkstatt fehlt’s an Arbeitskraft

Deshalb hat er im Sportpark gekündigt und arbeitet jetzt in einer seriösen Branche: beim täglichen Newsletter. Hier ist er neuerdings Redakteur und hantiert mit einem Tablet-Computer, auf dem er ein Interview aufgezeichnet hat. Leider weiß er nicht mehr, mit wem und um was es ging, und außerdem versteht man kaum, was da geredet wird. Ist aber egal: Lucas muss ziemlich viel lachen, wenn er seine Tonspur abhört, besonders ganz am Schluss, wenn man nur noch seltsame Knackgeräusche hört.

Lucas ist eines von 200 Kindern zwischen 7 und 15 Jahren in der Hamburger Kinderstadt, die im Sommer rund um das Museum der Arbeit im Stadtteil Barmbek aufgebaut ist. Hier soll der Nachwuchs spielerisch lernen, wie Politik, Demokratie und Wirtschaft funktionieren. Es gibt ein Parlament, Stadtplaner, ein Arbeits- und ein Einwohnermeldeamt, eine Währung („Zaster“), eine Bank, Geschäfte, Werkstätten, eine Müllabfuhr, die Newsletter-Redaktion und Kultureinrichtungen wie eine Bibliothek oder ein Theater. Wer irgendwo mitmacht, bekommt als Stundenlohn sechs Zaster, die er sparen oder ausgeben kann: für Süßigkeiten und Pizza oder für ein Grundstück.

Weltweit gibt es etwa 200 Kinderspielstädte, die meisten in Deutschland, einige in anderen europäischen Ländern sowie gut zwei Dutzend in Japan und eine in Ägypten. Die erste Kinderstadt wurde 1979 in München erbaut. Seitdem machen jeden zweiten Sommer täglich bis zu 2500 Kinder beim Projekt Mini-München mit. Sie bestreiten Wahlkämpfe, bestimmen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und betreiben sogar eine eigene Börse. Neben legalen entstanden auch illegale Geschäfte. Besonders clevere Kids versprachen etwa Rechtsberatungen gegen Vorkasse und tauchten nach Bezahlung ab, außerdem bildeten sich in den vergangenen Jahren auch kriminelle Banden. Die Junior-Gangster spezialisierten sich auf Banküberfälle und waren so erfolgreich, dass das Kinderparlament die Gründung einer Polizeieinheit beschloss.

„Das war aber keine besonders gute Idee“, sagt Joscha Thiele, 28. Der Kulturpädagoge arbeitet für Mini-München und berät Hamburg beim Aufbau seiner Kinderstadt. „Kaum hatten die Polizisten ihre Mütze auf, wollten sie auch jemanden festnehmen.“ Es kam zu Verfolgungsjagden und gewaltsamen Verhaftungen. „Durch die Polizei eskalierte die Lage so sehr“, sagt Thiele, „dass die Kinder beschlossen, die Einheit aufzulösen.“ Seitdem herrscht wieder Ruhe in Mini-München.

In Hamburg, mit nur 200 Kindern, ist bisher keine Polizei nötig. „Die kriminelle Energie“, sagt Thiele, „ist hier sehr unterdurchschnittlich ausgeprägt.“ Daran muss er sich erst gewöhnen.

Setzer drohen mit Streik

Gewöhnungsbedürftig ist das neue Projekt auch für Mitorganisatorin Hella Schwemer-Martienßen vom Verein Patriotische Gesellschaft von 1765. Die Organisation „zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe“ gibt es seit mehr als 250 Jahren, sie versteht sich traditionell als fortschrittlich und eher kapitalismuskritisch, sagt Schwemer-Martienßen. Umso verstörender war es für sie, als die Kinder am ersten Öffnungstag der Spielstadt eindeutig kapitalistische Präferenzen hatten: „Etwa 30 Prozent wollten zur Bank, der Rest wollte Geschäfte machen.“

Anton, 11, zum Beispiel hatte einen regelrechten Businessplan dabei: zwei Tage richtig ranklotzen und Geld verdienen. Damit beim Planungsbüro ein Grundstück mieten, in der Holzwerkstatt einen Marktstand in Auftrag geben und dann Erdnüsse und Süßigkeiten verkaufen. Mittlerweile kann sich Anton einen Mitarbeiter leisten. Joshua, 8, steht jetzt am Tresen, und Anton kümmert sich hauptsächlich um seine Partei DKU (demokratische Kleinunternehmer und Umweltpartei). Diese wirbt damit, die Grundstückspacht zu reduzieren, kleine Unternehmen mehr zu fördern und eine Versicherung für Sturmschäden einzuführen.

Die Kinder spielen nach, was die Großen umtreibt: bezahlbare Mieten, Subventionen, Katastrophenschutz. Revolutionäre Ideen entstehen hier nicht, es ist eher ein Bootcamp für Demokratie und Marktwirtschaft. Knallharter Kapitalismus ist allerdings kaum möglich. „Die meisten Betriebe hier in der Kinderstadt“, sagt Thiele, „befinden sich im Eigentum der öffentlichen Hand. Gewinne müssen an die Stadt abgegeben werden.“ Privatwirtschaftliche Initiativen wie Antons „Big Peanut“-Stand sind die Ausnahme. Und oft auch nicht besonders erfolgreich. Ein Trupp Siebenjähriger beispielsweise hatte eine Geschäftsidee, die überhaupt nicht aufging.

Die Jungunternehmer kauften bei anderen Läden Ware auf (Bilder aus der Druckerei, Erdnüsse bei Big Peanut, Bücher im Buchladen und Pizzastücke im Restaurant), um sie an ihrem eigenen Stand teurer anzubieten. Doch die Unternehmer hatten die Rechnung ohne ihre Kunden gemacht. Die erkannten die überhöhten Preise und kauften lieber direkt bei den Anbietern ein. Die Siebenjährigen mussten sich etwas anderes überlegen. Für sie keine schöne, aber womöglich eine nützliche Erfahrung.

In der Stadtversammlung wird gerade Demokratie trainiert. Die Setzer fordern einen Zaster mehr Lohn pro Stunde, weil ihre Aufgabe härter und anspruchsvoller sei als die der anderen. Sie haben selbst gemachte Plakate dabei mit Aufschriften wie „Mehr Arbeit verdient mehr Lohn“ und „Mehr Zaster für harte Arbeit in der Druckerei – sonst streiken wir“. Die Mehrheit aber ist für „Gleicher Lohn für alle“, und der Aufstand wird mit den Worten abgebügelt: „Wenn ihr streikt, löst die Bank eure Gehaltschecks nicht mehr ein.“

Eine andere Idee wird hingegen sofort angenommen: das Vergraben einer Zeitkapsel, die im kommenden Jahr ausgebuddelt wird. Was da reinkommt, bestimmt ein noch zu gründendes Gremium. Ziemlich sicher ist nur, dass ein Bündel Zaster dabei ist. Darum dreht sich hier zwar nicht alles, aber viel.

Die Geldfrage ist auch einer der häufigsten Kritikpunkte an den Mini-Städten, gleich nach dem Thema Kinderarbeit. Ist es korrekt, wenn Kindern in den Sommerferien einen Job annehmen, auch wenn er im geschützten Biotop einer Kinderstadt stattfindet?

„Die meisten Kids wollen arbeiten und Geld verdienen“, sagt Thiele. „Das bringt Dynamik ins Spiel und soziale Anerkennung.“ Ein Junge sparte seine Zaster, um beim Abholen abends die ganze Familie zum Pizzaessen einladen zu können. „So ein Erfolgserlebnis wird Kindern sonst vorenthalten“, sagt Thiele.

Soziologen nennen Kinderspielstädte „Aneignungsräume“. Ulrich Deinet, Professor für Sozial- und Kulturwissenschaften an der Hochschule Düsseldorf, fiel bei einem Besuch in Mini-München auf, wie intensiv die Kinder mit den bereitgestellten Materialien und Werkzeugen arbeiten. Er spricht in diesem Zusammenhang vom „Aneignungskonzept“: Dieses beruht auf der Vorstellung, dass die tätige Auseinandersetzung eines Kindes mit seiner Umwelt die Grundlage der menschlichen Entwicklung bildet. Sinnvoll auseinandersetzen kann man sich nur mit dem was ist. Natur und Umwelt, Werte und Regeln, Arbeit und Geld.

Für Geld machen auch Kinder mehr als für lau. Aber am Ende ihres Aufenthalts in der Kinderstadt kommt für sie der Schock. Plötzlich ist der Zaster nichts mehr wert. Im kommenden Jahr gibt es eine neue Währung, im Malstudio arbeiten bereits zwei Mädchen am Design der neuen Geldscheine für 2022. Wer am letzten Tag sein Geld nicht sinnvoll ausgibt, sondern glaubt, mit Sparen reich zu werden, steht mit leeren Händen da. Auch das ist ein Lerneffekt der Spielstadt.

Lucas, der Nachwuchsreporter aus der Newsletter-Redaktion, stellt gerade fest, dass es gar nicht so einfach ist, ein Interview zu Papier zu bringen, das kaum zu verstehen ist, besonders dann, wenn man den Computer nicht bedienen kann. Macht aber nichts, er hat schon eine neue Idee. „Ich geh’ einfach in die Politik“, sagt er, „da muss man fast nichts machen und kriegt trotzdem Geld. Cool, oder?“

Lektion gelernt. ---