Editorial

Zu mir, zu dir oder ins Büro?

• Anderthalb Jahre, in denen die Begegnung mit dem Kollegen, der Nachbarin, dem befreundeten Paar eine potenzielle Gefahr darstellte.



Anderthalb Jahre, in denen wir gelernt haben, uns im Home Office zu disziplinieren und Videokonferenzen einzurichten. Anderthalb Jahre, in denen wir viele Grenzen, aber auch neue Möglichkeiten kennengelernt und Gewohnheiten verändert haben. Was wird davon bleiben?

In die Unternehmen kehren langsam die Menschen zurück, je nach Branche, Arbeitsgebiet und Mentalität der Vorgesetzten mal schneller, mal langsamer. Wo es möglich und die Führung offen ist, verschwindet eine der wichtigsten Routinen der Vor-Corona-Zeit: aufstehen, fertig machen und ab in die Firma. Die Alternativen sind plötzlich real, und aus der Morgenroutine wird für viele ein Abwägen: ins Büro, zu Hause arbeiten oder an einem anderen Ort (S. 36, 104)?

Das sind neue Freiheiten – und Herausforderungen. Wer als Führungskraft seine Belegschaft im Haus haben will, muss mehr bieten als einen Schreibtisch im Großraumbüro. Und alle müssen neu überlegen, wo das bestmögliche Arbeitsergebnis zu erzielen ist. Das aus der Schule bekannte Wort „Stillarbeit“ spielt nun bei der Büroplanung eine Rolle. Und eine der wichtigsten Funktionen des Arbeitsortes wird künftig sein, Begegnungen, aber auch Gruppen- und Cliquenbildung zu ermöglichen: Ein Heer von Einzelkämpfern bleibt besser zu Hause (S. 56).

Denn auch das ist eine der Lehren aus den vergangenen Monaten: Wir brauchen die Begeg- nung, das ganze Bild, das eine Videokonferenz schwer bieten kann. So praktisch Abstimmungen, Präsentationen, der konkrete Austausch in der digitalen Kachel sind, so mühsam ist es, vor dem Bildschirm Kreativität zu entfalten oder Beziehungen aufzubauen.

Das wissen vor allem die, die vom Beziehungsaufbau leben. Veranstalter, Beraterinnen – oder der Außendienst von Vorwerk, bekannt durch Staubsauger, den Thermomix und seine besondere Treue zum Direktvertrieb. Corona hat dem Mittelständler den Einstieg ins Online-Geschäft beschert, ausgeknockt hat es den Außendienst allerdings nicht (S. 88).

Weit weniger glimpflich ist die Veranstaltungsbranche davongekommen. Mit mehr als 80 Prozent Umsatzrückgang im vergangenen Jahr wurde sie mit am härtesten getroffen – und hat noch immer keine verlässlichen Aussichten auf Besserung. Solange es keine einheitlichen Kontakt-Regelungen gibt und sich nicht genügend Menschen impfen lassen, bleibt nur die Suche nach dem kreativen Kompromiss. Da gibt es inzwischen erstaunliche Lösungen, und doch braucht die Branche vor allem wieder Begegnungen, gern neu gedacht und konfiguriert (S. 66).

Das wird für vieles gelten, was wir nun wieder in unser Leben lassen können: Es wird nicht mehr sein wie zuvor. Die Städte werden sich verändern, Geschäftsreisen sorgsamer geplant werden und Vorbilder wie das Mittelstands-Netzwerk NIRO Schule machen, in dem aus Kontakten Beziehungen und dann auch Geschäfte werden (S. 96, 98, 44).

Das haben uns die vergangenen Monate gelehrt: Die Begegnung ist ein wertvolles Gut. ---