Nahfeld-Kommunikation

Was fehlt uns wirklich, wenn wir uns nicht mehr persönlich begegnen? Nicht unbedingt das, was uns spontan einfällt. Und doch mehr, als gut ist.





1. Verlustanzeigen

In Zeiten, in denen die Vielfalt beschworen wird, herrscht nicht selten das Gegenteil. Nirgendwo wird das klarer als in den sogenannten sozialen Netzwerken. Ausgerechnet an einem Ort, der keiner ist, und unter Umständen, die nicht besonders sozial sind, klagt man am lautesten über den Verlust der persönlichen Begegnung. Das sei, so heißt es, das Schlimmste an der ganzen Pandemie, ein Zeichen für den Verlust dessen, was gemeinhin das Menschliche genannt wird.

Diese Meinung kann man teilen oder fragen, was die Qualität der persönlichen Begegnungen sein könnte. Was genau stünde denn drin in der Vermisstenanzeige? Das ist keineswegs boshaft gefragt, sondern von Neugierde getrieben, denn zu klären, was der Wert des Persönlichen, Sozialen, also der Begegnung als solcher ist, sollte etwas Mühe wert sein.

Dass die persönliche Begegnung immer etwas Großartiges sei und ihr Ausbleiben ein Verlust, glaubt nur, wer zu kurz nachdenkt. Waren die Römer froh über das Kennenlernen von Barbaren (und umgekehrt)? Die Begeisterung der Inkas über die direkte Begegnung mit den spanischen Eroberern war doch eher kurzfristiger Natur, ebenso wie die ihrer Nachbarn in Nordamerika, die den europäischen Kolonialisten begegneten.

Die Vorstellung, man müsse sich nur näher kennenlernen, dann werde schon alles gut, ist empirisch und historisch nicht haltbar. Wer will schon Außerirdische kennenlernen oder jene Aliens, die sich speziell nachts in U-Bahnen und Bussen finden – denen man aber leider auch in Supermärkten, auf Autobahnen und, seien wir offen, in Büros und im Geschäft begegnet?

Das ist eben auch das Menschliche und mit die Ursache dafür, dass viele, wie es auf dem Titel dieses Magazins schon einmal hieß, montags kotzen könnten (siehe brand eins 06/2013: Schwerpunkt Motivation). Das Schönreden der persönlichen Begegnung ist ein wenig wie der naiv begeisternde, aber kompetenzfreie Umgang mit Technik, etwa der sogenannten Nahfeldkommunikation (bekannt unter NFC, Near Field Communication). Theoretisch verspricht das problemlose Verbindungen, praktisch haut das hingegen fast nie auf Anhieb hin. Persönlich ist nicht per se gut, ebensowenig wie technische Vermittlung sozialer Interaktion.


2. Begegnungen

Wer die persönliche Begegnung vermisst, meint nicht selten die Qualität der Kommunikation. Und die hat nachgelassen, seit uns die Pandemie ins Home Office geschickt hat. Besonders Organisationen, die auf die Digitalisierung gepfiffen und stattdessen die alte Präsenzkultur zur einzig wahren Größe erhoben haben, lernen jetzt auf die harte Tour den Preis der Ignoranz gegenüber der Digitalisierung kennen.

Wie lief die letzte Videokonferenz? Klar, anfangs war das für alle schwierig, aber anderthalb Jahre nach Pandemiebeginn immer noch? Das ist kein Pech, sondern Absicht, ein Zeichen dafür, dass einige einfach keinen Bock auf das Neue haben. Das muss man auch nicht, aber dann ist man halt nicht transformationsfähig. Für Unternehmen, die Wissen erzeugen, nutzen und damit handeln – der größte Teil aller Firmen heute – ist das schlecht und für die Leute, die für diese Firmen arbeiten, zum überwiegenden Teil auch.

3. Zufallsbekanntschaften

Im Grunde sollte jede Organisation gelernt haben, ein vernünftiges Verhältnis zu dieser neuen Arbeitswelt zu entwickeln. Hat sie darauf verzichtet und beklagt stattdessen den Verlust des Menschlichen, ist das auch ein Hinweis darauf, dass es an klarer Kommunikation fehlt. Wenn die Spielregeln für die Kooperation unklar sind und man die Unternehmenskultur erahnen muss, werden soziale Begegnungen mit Menschen, die nicht ständig miteinander arbeiten, unmöglich. Der vermeintliche Verlust an Menschlichem ist dann eigentlich einer an Klarheit und Offenheit. Unvoreingenommene Begegnungen bauen auf Durchschaubarkeit und offenen Spielregeln, nicht verdeckten Karten. Alles andere, nicht nur in der digitalen Kachel, führt zu schlechten Eindrücken und zu einem miesen Ton.

Videokonferenzen und Meetings, Conference Calls und die Teilnahme an Kommunikationssystemen wie Slack, Teams und Co sind eine gute und solide Grundlage für den Austausch von Informationen, aber sie sind ziemlich ungeeignet für die Entwicklung von Beziehungen. Technisch gute Videokonferenzen können sehr effizient sein, wenn es klare Aufgabenstellungen gibt – etwa das Absprechen in Teams, wo klare Fragen und klare Antworten gefordert sind.

Weitaus schwieriger ist es allerdings, in einem solchen Rahmen gemeinsam etwas zu entwickeln. Wenn man genau weiß, was zu tun ist, also ein Plan abgearbeitet wird, bei dem es – wie auf einer Checkliste – nur darum geht, ob alles so läuft wie besprochen, ist die Netzwerkkommunikation prima, vielleicht sogar besser als live. Aber was ist mit den Zufällen? Was ist mit Fragen, Sachverhalten, mit denen niemand gerechnet hat? Wo man Meetings abhält wie Fließbandgespräche, darf es so was natürlich nicht geben. Aber in offenen Runden kann man ja auch mal die Frage stellen, ob man eigentlich überhaupt auf dem richtigen Weg ist. Oder im Gespräch feststellen, dass es eine ganz andere Abzweigung gibt. Es wird etwas im laufenden Prozess entdeckt.

Deutlich wird das am Beispiel von Meetings, bei denen der Verlauf zwar feststeht, aber die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einander nicht alle persönlich kennen. Da gibt es dann wen, mit dem man sich gut versteht und austauscht, weit über den Plan hinaus, vielleicht auf dem Weg in die Kaffeepause nebenan.

Kommunikation ist eben kein Abarbeiten von Checklisten. Sie wird gerade dort, wo etwas herauskommen soll, durch Neugier und Überraschungen geprägt. „Hat noch jemand eine Frage?“ – und dann hat jemand eine, die so interessant ist, dass daraus etwas ganz Neues entsteht. Oder aber man kann Missverständnisse durch Nachfragen klären – freilich auch bestehende Differenzen, auch das ist viel wert.

4. Accuracy loss

Persönliche Begegnungen leben von der Bereitschaft, sich überraschen zu lassen. Der amerikanische Soziologe Robert K. Merton hat das vor mehr als sechs Jahrzehnten mit dem Begriff der Serendipity beschrieben, worunter ein nicht vorherseh- barer, glücklicher Umstand zu verstehen ist. Diese Zufallsbekanntschaften gibt es auch in den sozialen Medien, aber es ist weitaus schwieriger, sie dort zu erkennen. Serendipität ist die berühmte Chemie, die im Wortsinn existiert – und eine persönliche Begegnung auszeichnet.

Die meisten Menschen in liberalen, demokratischen Gesellschaften suchen sich ihre Partner selbst aus, und das geschieht nicht von langer Hand geplant wie in Stammesgesellschaften, wo man schon Kinder fürs Leben verkuppelt, sondern zufällig. Jede und jeder kann sich daran erinnern, wie man einem geliebten Menschen, dem besten Freund zum ersten Mal begegnete.

In der Netzwerktechnik gibt es den Begriff Accuracy loss. Damit meint man, dass das technische Signal nicht mehr gut genug ist, um jene Qualität zu liefern, die gefordert wird. Das muss nicht heißen, dass alles rauscht und scheppert. Oft ist es ein unmerklicher Verlust an jener Akkuratesse, mit der man früher das deutsche Wort Sorgfalt übersetzte.

Sorgfalt ist mehr als Genauigkeit. Sorgfalt setzt die Einhaltung technischer Anforderungen voraus, die erfüllt sein müssen, aber das genügt ihr nicht. Gewiss: Gestik, Mimik, Tonlage, sie alle lassen sich auch auf Videoübertragungen erkennen und zuordnen.

Aber es gibt ein Hintergrundrauschen, Informationen, die sich nur im direkten, persönlichen Gespräch einstellen. Das kennen wir alle – es ist leichter, jemandem auf Distanz über die Videokamera etwas ins Gesicht zu sagen als wahrhaftig face to face, von Angesicht zu Angesicht also ganz ohne Kamera, Mikrofon und unzähligen Kilometern Netzwerkkabel.

Und das hat Folgen: Wir gewöhnen uns daran, über die Netzwerke jene Sorglosigkeit zu entwickeln, die einem Kündigungsschreiben eigen ist, dessen Inhalte man nicht persönlich vortragen möchte. Das Virtuelle hat die Sorglosigkeit einer funktionierenden Bürokratie, den Charak- terzug eines Schreibtischtäters, der zwar alles ordentlich erledigt hat, den das Objekt seiner Sorgfalt aber ungerührt lässt. Distanz kann sehr nützlich sein, sie ordnet, erleichtert, strukturiert Verhältnisse. Aber sie ist, ihrem Wesen nach, ungenau. Accuracy loss.

5. Echtheitszertifikate

Die persönliche Begegnung hat ein Echtheitszertifikat. Das lernt man von Chris-tian Hoffmann, der sagt: „Nichts löst genauer auf als die Realität.“

Der Leipziger Kommunikationswissenschaftler weiß: „Für uns Lehrende war der Lockdown meist ein Gewinn, wir konnten effizienter arbeiten. Für die Studierenden war er eine Katastrophe, weil fast alles, was ihr Leben schön macht, wegfiel: zufällige Begegnungen, Gespräche, Überraschungen, die man im Home Office nicht haben kann.“ Dazu kam der Druck, mit improvisierenden Systemen zurechtzukommen. Zu allem Unglück meinten einige auch noch, sie müssten den Verlust der analogen Welt durch besonderen digitalen Eifer wettmachen. „Digitale Coffeebreaks gab es in einigen Firmen“, sagt Hoffmann, „wo man dann geplant und völlig überraschungsfrei so tun musste, als ob man sich locker wie in der Teeküche unterhalten würde.“

Viele meinen bis heute, sagt Chris- tian Hoffmann, dass man sich im Home Office an der Arbeit vorbeidrücken könne – was allerdings nur der Ausdruck von Ahnungslosigkeit sei: Abgesehen davon, dass sich dislozierte – also die entfernt in Netzwerken stattfindende Arbeit – weitaus besser messen lasse als jene vor Ort, gelte noch etwas anderes: „Die Leute haben gelernt, dass fixe Termine im virtuellen Raum viel mehr Druck machen. Man entgeht ihnen viel schlechter, weil es gleich heißt: Wir sehen uns doch sonst gar nicht mehr.“

Was da zu tun ist? Hoffmann verweist auf die Arbeit des österreichisch-schweizerischen Verhaltensökonomen Ernst Fehr und dessen Vertrauensarbeitsmodelle. Wenn es nicht um Anwesenheit, sondern das Ergebnis gehe, sagt Hoffmann, „müssen sich auch die Begegnungsformen und -arten durchmischen“. Leistung hilft.

Das bedeutet eine Zunahme hybrider Kooperationsformen. Für das miteinander Zusammen- und Ins-Reine-Kommen die persönliche Begegnung, für die nüchternen Check-Arbeiten der virtuelle Raum. Selbstbestimmte Arbeit verbindet sich dann mit der sozialen Sorgfalt, die in vielen Organisationen vermisst wird. Die Voraussetzung dafür ist eine Organisation, in der Begegnungen weder verordnet noch geplant werden, sondern stattfinden dürfen, wann immer sie sich ergeben.

Dabei geht es auch nicht um den zwanghaften Konsens, die erzwungene Harmonie. „Wenn man gezwungen wird, alle zu mögen und allen persönlich zu begegnen, die man nicht leiden kann“, sagt Christian Hoffmann, „dann wächst nur der Druck – und die Ergebnisse leiden.“

Denkt jemand an die Römer, Inkas oder U-Bahnen um Mitternacht? Es sei „okay, wenn man sich nur mit den Leuten umgibt, die man mag“. Um die zu finden, muss man allerdings immer wieder auch rausgehen.

Wer gut arbeiten will in den neuen Netzwerkorganisationen, muss nicht 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche greifbar sein für alle. Aber gelegentlich einen Tag der offenen Tür machen – und mal sehen, wer da so reinkommt. Der Rest, mit etwas Glück, ergibt sich. ---