Telefonseelsorge

Uwe Müller hat den Humor nicht verloren – was in seinem Job nicht selbstverständlich ist. Er leitet die Kirchliche Telefonseelsorge in Berlin, die er 1988, ein Jahr vor dem Mauerfall, im Ostteil der Stadt gegründet hat.





Im vergangenen Jahr erreichten knapp 1,4 Millionen Anfragen die Telefonseelsorge in Deutschland. Die Mehrheit der Ratsuchenden klagt über Depressionen, gefolgt von Einsamkeit und körperlichen Leiden. Mehr als die Hälfte ist 50 Jahre und älter, etwa zwei Drittel sind Frauen. 2020, im ersten Corona-Jahr, wurden etwa zehn Prozent mehr Beratungsgespräche geführt, wobei sich thematisch kaum etwas geändert hat. Menschen zwischen 15 und 40 Jahren, die unter den Restriktionen durch die Pandemie litten, nutzten vermehrt Online-Angebote. Die Zahl der E-Mail- und Chat-Kontakte nahm gegenüber dem Vorjahr um 70 Prozent zu.

Art und Zahl der Kontaktaufnahmen im vergangenen Jahr:
Telefonanrufe: 1.277.764
E-Mails: 44.600
Chats: 33.578
Besuche vor Ort: 41.439

• Am Anfang des Projekts stand eine pragmatische Entscheidung, erzählt Müller bei einem Treffen in der Geschäftsstelle. Nach seinem Sozialpädagogikstudium an einer kirchlichen Hochschule in Potsdam hatte er für die Diakonie Hausbesuche bei Familien in prekären Verhältnissen gemacht. Weil Gewalt gegen Frauen und Kinder ein großes Problem war, wollte er ein Frauenhaus gründen. Doch das wäre ein sichtbares Eingeständnis gewesen, dass der sozialistische Mensch nicht besser war als der kapitalistische – was die Staatsführung nicht zugelassen hätte. Zudem wäre eine solche Einrichtung teuer und personalintensiv gewesen, Telefonseelsorge konnte man dagegen mit wenigen festen Mitarbeitern betreiben.

Die Verantwortlichen in der Politik waren auch von dieser Idee nicht begeistert und stellten der Initiative zunächst keinen Telefonanschluss zur Verfügung: Man fürchtete, dass dort vor allem Ausreisewillige beraten würden. Doch Müller fand einen ungenutzten Anschluss in einem Nebenraum des Französischen Doms am Gendarmenmarkt. Dort klingelte dann am 1. November 1988 das erste Mal offiziell das Seelsorge-Telefon.

Jeden Tag um kurz nach 18 Uhr hob Müller von nun an ab, zunächst war das Angebot auf die Abend- und Nachtstunden beschränkt. Manchmal klingelte es, ohne dass jemand sprach, und man musste davon ausgehen, dass die Staatssicherheit gerade ein Tonbandgerät einschaltete und mithörte.

Dass es tatsächlich so war, bestätigte sich für Müller nach dem Ende der DDR. Ehemalige Stasi-Spitzel seien unter den Ersten gewesen, die sich bei der Telefonseelsorge gemeldet und über ihre Erwerbslosigkeit geklagt hätten. „Die kannten unsere Arbeit eben“, stellt er ironisch fest. Einige der ehrenamtlichen Seelsorger fanden es nicht gut, dass sich nun ausgerechnet diejenigen bei ihnen als Opfer darstellten, unter denen sie so lange gelitten hatten. Müller sah das anders: „Deren ganzes Weltbild hatte sich abgewickelt“, sagt er, da sei es verständlich, dass sie nach Hilfe suchten.

Die Kirchliche Telefonseelsorge in Berlin arbeitete nach der Wende ohne Unterbrechung weiter. Bis heute existiert sie neben der nicht kirchlichen Telefonseelsorge, die bereits 1956 im Westen der Stadt gegründet worden war.

Müller ist Christ, das helfe ihm, das Leid hinter vielen Gesprächen auszuhalten, sagt er. „Aber auf die Frage, warum Gott das zugelassen hat, habe ich auch keine Antwort.“ Manchmal könne er nur seine eigene Hilflosigkeit ausdrücken oder seinen Zorn, was Anruferinnen und Anrufer entlasten könne. Am wichtigsten aber sei, deren Gefühlschaos zu ordnen. „Am Telefon dürfen sie alles: Heulen, schreien, toben.“ Einmal warf jemand im Gespräch mit ihm den Telefonhörer an die Wand, meldete sich nach ein paar Sekunden zurück, und sie sprachen weiter.

Wut sei gut, sagt Müller – weil sie oft ein erster Schritt heraus aus der Trauer sei. Wenn jemand einen geliebten Menschen verloren hat, der Verlust aber schon eine Weile zurückliegt, traut er sich deshalb zu fragen: „Sind Sie wirklich nur traurig? Sind Sie nicht auch wütend, dass er oder sie Sie allein gelassen hat?“

In solchen Momenten versteht er sich als ein Gegenüber, das die Erlaubnis erteilt, ein Gefühl zuzulassen. Zum Beispiel bei der jungen Mutter dreier Kinder, die ihm aufgelöst von einer niederschmetternden Krebsdiagnose erzählt. Sie traute sich nicht, jemand anderem von ihrer Diagnose zu berichten, sie fürchtete, die Familie würde es nicht aushalten. Also erzählte sie erst einmal ihm am Telefon davon. Die beiden machten eine Trockenübung an deren Ende die Anruferin ahnte, dass ihre Familie die schlimme Nachricht verkraften würde.

Als Chef hat Müller mittlerweile nur noch Telefondienst, wenn eine Schicht nicht besetzt ist oder einer der rund 150 Ehrenamtlichen in Berlin und Brandenburg kurzfristig ausfällt. Seine Hauptaufgabe ist es, den Rund-um-die-Uhr-Service am Laufen zu halten und neue Telefonseelsorger auszubilden. Davor steht die Auswahl. „Sechs Leute schauen unabhängig voneinander auf einen Kandidaten, bevor wir uns entscheiden“, sagt Müller. „So ein Assessment leistet sich wahrscheinlich nicht mal Siemens.“

Vor seinem Schreibtisch stapeln sich Aluminiumboxen mit Schnappverschluss. Sie enthalten Klebezettel, Bälle, Stifte, Karten, Poster. Ausbildungsmaterial. Vor allem Rollenspiele sollen die künftigen Helfer auf ihre Arbeit vorbereiten und Müller zeigen, wer geeignet ist: Wie verhalten sie sich, wenn ein Mitspieler aus einer eben noch fröhlichen Runde plötzlich traurig wird? Sind sie hilflos? Sprachlos? Und finden sie den richtigen Ton im Gespräch mit Menschen in Not?

Seit der Corona-Pandemie gibt es mehr Bewerber, die ehrenamtlich in der Telefonseelsorge arbeiten möchten. Sie wollen anderen helfen oder etwas von Bedeutung in ihrem Leben tun. Wer sich dafür entscheidet, verpflichtet sich, mindestens 30 Dienste à vier Stunden im Jahr zu übernehmen. Dazu kommen eine Weiterbildung, zwei Vollversammlungen und, ganz wichtig, elf Stunden Supervision. Damit die, die sich mit den Problemen anderer belasten, regelmäßig Gelegenheit bekommen, sich selbst zu entlasten.

Uwe Müller ist für sein Team immer ansprechbar, sein Telefon nie ausgeschaltet. „Den Ehrenamtlichen muss es gut gehen, das ist mein Job“, sagt er. Wenn das Schicksal eines Anrufers besonders schwer zu ertragen ist, rät er zu einem Ritual, um den Ballast loszuwerden: aufschreiben, was man gerade gehört hat und das Papier dann im Büro lassen. Oder vernichten. Nur nicht mit nach Hause nehmen.

Etwa zehn Prozent der Kandidatinnen und Kandidaten brechen die Ausbildung ab. Manche unterschätzen, wie intensiv sie sich dabei mit sich selbst auseinandersetzen müssen. Wer Zugang zur Gefühlswelt anderer Menschen bekommen will, sollte wissen, was in ihm selbst vorgeht: Verluste, Verdrängtes, Sexualität, die Angst vor Einsamkeit – alles komme bei der Ausbildung auf den Tisch, sagt Müller. Wichtig sei zudem emotionale Stabilität. Geeignet für die Tätigkeit seien meist jene, die wissen, was Schmerz ist, ihm aber nicht erlegen sind.

Der Gründer des Projektes ist so lange dabei, dass er jede Lektion mit einer Anekdote unterfüttern kann. Kurz nach dem Mauerfall habe er einen Mann am Telefon gehabt, der ihm erzählte, dass seine Frau mit seiner Tochter in den Westen abgehauen sei. Ihn sitzen gelassen habe. Uwe Müller hörte besonders interessiert zu, denn ihm war das Gleiche passiert, nur dass er mit seiner Frau einen Sohn hat, keine Tochter. Jedenfalls waren beide Partnerinnen weg, über Nacht. Zwei Stunden redeten die beiden Verlassenen, schimpften auf die Frauen und die marode DDR. „Das war ein solidarisches Gespräch unter Männern, aber keine Seelsorge“, sagt Müller heute. „Das hat ihn kein bisschen weitergebracht.“

Ihm selbst jedoch habe es geholfen zu verstehen, dass er die Trennung von seiner Frau und seinem Sohn nicht verwunden hatte. Er suchte Rat bei einer Familienberatung und machte später selbst eine Weiterbildung zu dem Thema. Zu seinem Sohn, der in der Schweiz lebt, hat Müller mittlerweile ein gutes Verhältnis.

An diesem Nachmittag im Herbst sitzen zwei erfahrene Ehrenamtliche in je einem der beiden Telefonzimmer. Müller legt die Hand auf die Türklinke und drückt sie behutsam nach unten, alte Holztüren knarren gern. Der Mann hinter der ersten Tür trägt Brille und Headset, dass er zuhört, merkt man an seinem gespannten Gesichtsausdruck. Sonst ist in dem Raum noch ein grüner Gymnastikball, ein Bett für den Nachtdienst, ein Holzkreuz an der Wand. Tür wieder zu. Im Nachbarzimmer sitzt eine Frau mit kurzen, rot gefärbten Haaren und einem Telefonhörer in der Hand. „Man sieht“, flüstert Müller, „es gibt die Headset- und die Hörertypen.“

Wenig später hat der Mann sein Headset abgesetzt und betritt Müllers Büro. Er lehnt sich an die Wand und atmet durch, Schichtende. Er sei Lehrer im Ruhestand, erzählt er, und mache im Schnitt zweimal die Woche Dienst. In den vergangenen vier Stunden hat er über eine Trennung und eine tote Katze gesprochen, unter anderem. Die Frequenz der Anrufe sei hoch: „Wenn zwischendurch mal fünf Minuten Pause sind, ist das lang.“ Das meiste vergesse er schnell wieder, was nicht das Schlechteste sei. „Ich kann ja nicht selbst in Verzweiflung ausbrechen.“

Anders ist das, wenn jemand aus einer akuten Notlage heraus anruft. Wie die Frau kürzlich, er hatte Nachtdienst, die gerade erfahren hatte, dass ihr Mann bei einem schweren Autounfall verletzt worden war und im Krankenhaus lag. Am Ende suchten sie gemeinsam eine Busverbindung für den nächsten Morgen heraus. Mit einem Plan im Kopf, habe sich die Frau beruhigen können und vielleicht sogar ein wenig geschlafen. Hilfe leisten, in diesem Fall ging das ganz konkret. Es gibt aber auch Stammkunden, Einsame, die regelmäßig die Nummer der Seelsorge wählen und ihn schon an der Stimme erkennen.

Wie viele sorgenvolle Anrufe Uwe Müller in seinem mehr als 30-jährigen Berufsleben entgegengenommen hat, kann er nur schätzen. Ein paar Tausend werden es gewesen sein. Und sie haben ihn verändert. „Ich bin toleranter geworden“, sagt er. „Ich habe gelernt, wie unterschiedlich Lebensentwürfe sein können – und wie ähnlich sich die Probleme der Menschen trotzdem sind. Alle wollen gesehen und geliebt werden.“ ---

Uwe müller square

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