Editorial

Was wir nicht mehr brauchen

• Es sind Jahre, auf die wir vermutlich irgendwann mit dem Gefühl zurückblicken werden, dass es eine Zeit radikalen Wandels war. Denn durch Corona sind nicht nur viele Freiheiten geschwunden, sondern auch Gewissheiten und Routinen.

Foto: André Hemstedt & Tine Reimer


Wir kaufen anders ein, fahren nicht mehr jeden Tag ins Büro, entscheiden uns öfter für den Videocall statt für die Dienstreise. Und da schon so viel ins Rutschen geraten ist, liegen auch die grundsätzlicheren Fragen nah: Sind wir als Firma für die neue Zeit optimal organisiert? Ist das eigentlich noch der richtige Job? Was ist unverzichtbar, und was kann weg?

Das haben wir Menschen aus Sport, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft gefragt, und es ist eine ebenso kurzweilige wie anregende Sammlung von Statements zusammengekommen (S. 42). Denn eigentlich hat jede und jeder auf die Frage, was sie oder er loswerden will, etwas zu sagen, und es ist eine anregende Übung, darüber nachzudenken, was genau der Ballast ist.

In den USA, so zeigen Studien, ist das immer öfter der Job, unser Kolumnist Stephan Jansen hat dafür interessante Motive gefunden. Die Gründer des Streetlabels Capone, über die wir im Januar 2010 berichtet hatten, mussten sich von der Idee der eigenen Marke verabschieden – und haben danach eine erstaunliche Firma aufgebaut. Handwerker organisieren sich neu, weil die Reisebeschränkungen sie auf Ideen brachten. Und Klaus-Philipp Felderer, Chef des gleichnamigen Lüftungsgroßhandels, stellt sowieso grundsätzlich alles infrage, auch das, was gut läuft. Seiner stetig wachsenden Firma hat das so wenig geschadet wie seinem Ansehen in der Belegschaft (S. 76, 50, 72, 78).

Ganz anders die Situation der Allgäuer Überlandwerke: 102 Jahre lang wurde der Energieversorger immer nur größer – 2017 beschloss das Management einen für Allgäuer Verhältnisse tiefgreifenden Veränderungsprozess. Die Bilanz nach fünf Jahren ist gemischt, spricht aber nicht gegen den Umbau. Zumindest, wenn er mit Sinn und Verstand vollzogen wird. Die Chronologie der Entwicklung des lange gehypten US-Start-ups Wework zeigt, dass das auch in der Wirtschaft nicht immer der Fall sein muss (S. 98, 56).

Im Grunde hat Wework auch nichts verändert, sondern nur gesammelt. Und das geht nur gut, wenn man, wie die Fliesenfirma Schittek, dafür eine zwingende Idee hat. Viel hilft viel ist eine der Überzeugungen, von denen wir uns schleunigst trennen sollten. Das gilt für Arbeitszeiten – in Japan noch ein Ballast, der schwer abzuwerfen ist. Und für Feindseligkeiten, wie sie zwischen den USA und Kuba noch immer üblich sind. Weil beide Länder auch knapp 60 Jahre nach der Kubakrise noch nicht zu einem normalen Miteinander gefunden haben, sind Kubaner mit Freiheitsdrang noch immer zu schmerzlichen Trennungen gezwungen (S. 106, 104, 66).

Vorurteile sind in aller Regel sinnloser Ballast, und die sind besonders hartnäckig, wenn es um die Einschätzung Afrikas geht. Deshalb beginnt in dieser Ausgabe eine Serie, in der Ihnen Sophia Bogner und Paul Hertzberg ein Afrika der Chancen näherbringen. Sechs Monate lang sind sie mitten in der Corona-Zeit durch zwölf Länder gereist und haben nicht nur Geschichten aufgesogen, sondern auch den Rhythmus eines hoffnungsvollen Kontinents (S. 18).

Ballast abwerfen heißt auch, wieder frei sein für Neues. ---