Anja Röcke im Interview

Die Soziologin Anja Röcke über den schmalen Grat zwischen sinnvoller Sorge um sich selbst und zwanghafter Selbstoptimierung.





Anja Röcke, 43, ist derzeit Gastprofessorin am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Habilitationsschrift zur „Soziologie der Selbstoptimierung“ löste auch jenseits der akademischen Fachöffentlichkeit Debatten aus. Als Buch ist die Studie im Suhrkamp Verlag erschienen.

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„Selbstoptimierung und Statusangst hängen zusammen“, sagt die Soziologin Anja Röcke. Im Podcast spricht sie darüber, woher der Hang zur Verbesserung kommt, was die soziale Schicht damit zu tun hat und wie der Forschungsstand ist.

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brand eins: Frau Röcke, als Wissenschaftlerin stehen Sie in harter Konkurrenz mit Kolleginnen und Kollegen. Wie sehen Ihre eigenen Selbstoptimierungsstrategien aus?

Anja Röcke: In der akademischen Welt gilt das Karriere-Mantra „Publish or Perish“. Man soll also möglichst schnell möglichst viel publizieren. Allerdings gibt es auch intellektuelle Interessen, die dem entgegenstehen. So wollte ich lieber ein Buch über Selbstoptimierung schreiben statt viele Aufsätze. Das ist ein Beispiel dafür, dass die Optimierungs-Imperative eben doch nicht alles dominieren. Den eigenen Interessen zu folgen ist generell nicht das Schlechteste, was man tun kann.

Es kann allerdings Schuldgefühle hervorrufen, weil man selbst- oder fremdgesetzten Anforderungen nicht gerecht geworden ist.

Auf jeden Fall. Das ist ein allgemeines Phänomen – es ist eigentlich nie genug.

Andererseits: Was ist so schlimm daran, sich ambitionierte Ziele zu setzen, um sich weiterzuentwickeln?

Nichts. Das kann motivierend und erfüllend sein, solange man sich nicht unerreichbaren Zielen unterwirft. Ich finde die Ambivalenz des Begriffs der Selbstoptimierung interessant. Deshalb halte ich nicht viel von einem kulturpessimistischen Diskurs, der darin nur Verdinglichung, Entfremdung und Leistungsideologie sieht.

Diese Kritik ist zu pauschal, wenn sie den Menschen unterstellt, dass sie nur als willenslose Opfer gesellschaftlicher Zwänge handeln. Nicht jeder, der beim Sport Biotracker benutzt, um seinen Trainingsfortschritt zu messen, ist das Opfer neoliberaler Ideologie.

Dieser Diskurs ist problematisch, wenn er alles vereinheitlicht und übersieht, dass es viele Treiber der Entwicklung gibt, neben ökonomischen zum Beispiel auch technische und kulturelle. Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht von der „Gesellschaft der Singularitäten“, also dem Ziel, sich selbst zu einer besonderen Persönlichkeit zu machen. Der australische Soziologe Anthony Elliott beobachtet eine „Culture of Reinvention“, eine Kultur der permanenten Selbst-Erfindung. Das ist nicht so weit entfernt von Kulturen der Selbstoptimierung.

Was unterscheidet eine souveräne Entscheidung von einer, die durch Angst, Konkurrenz und gesellschaftliche Erwartungen erzwungen wird?

In der Soziologie und auch Philosophie wird zwischen Autonomie und Heteronomie unterschieden, also vereinfacht gesagt zwischen selbstbestimmten und fremdbestimmten Entscheidungen. Der heteronome Pol unterwirft sich komplett den Erwartungen anderer. Der autonome Pol orientiert sich an den eigenen Wünschen und Vorstellungen eines gelungenen Lebens. Allerdings lässt sich das nicht immer säuberlich voneinander trennen, einfach weil wir als Individuen in der Gesellschaft leben.

Der französische Philosoph Michel Foucault hat dieses Wechselspiel zwischen Autonomie und Heteronomie sehr differenziert untersucht. Auch wer sich Schönheitsoperationen antut oder leistungssteigernde Substanzen einnimmt, glaubt ja oft, dass er das aus eigenem Willen macht, und nicht, um Erwartungen von anderen oder dem Konkurrenzdruck zu genügen. Diese widerstreitenden Kräfte deutlich zu unterscheiden, aber auch in ihren Wechselwirkungen zu verstehen, ist wichtig.

Wenn man schon Betablocker nimmt, um besser durch eine Prüfung zu kommen, sollte man sich zumindest nicht einreden, das wäre ein Akt der Selbstverwirklichung?

Korrekt. Aber gerade bei diesem sogenannten Neuro-Enhancement gibt es verschiedene Facetten und auch selbstbewusste Experimentierfreude. So nehmen einige Menschen Substanzen, um die nächsten drei, vier Stunden hochkonzentriert zu arbeiten und danach vielleicht früher freizuhaben. Auf diese Weise takten sie ihren Arbeitstag. Das muss man nicht als instrumentelles Selbstverhältnis verdammen.

Dieser Begriff spielt in Ihrem Buch eine wichtige Rolle. Können Sie erklären, was mit instrumentellem Selbstverhältnis gemeint ist?

Man betrachtet sich selbst und den eigenen Körper als Mittel zum Zweck, als Instrument, um bestimmte Ziele zu erreichen. Man investiert Arbeit und Aufmerksamkeit, um dieses Instrument entsprechend zu ertüchtigen und zu formen. Es geht darum, den eigenen Output zu steigern, der einen im Konkurrenzkampf weiterbringt. Das unterscheidet sich deutlich von dem, was Foucault „Selbstsorge“ nennt.

Wie befreit man sich von dem ungesunden Drang, ständig an sich selbst zu arbeiten?

Zuerst ist es sinnvoll, sich von der Vorstellung zu lösen, dass es immer besser gehe – also dem bereits erwähnten Ballast der extremen Heteronomie. Man muss zum Beispiel nicht zwanghaft versuchen, den Kriterien von jugendlichem Aussehen zu genügen. Der Konkurrenzdruck, beim Versuch, irgendwelche Schönheitsideale zu erreichen, wird durch die sozialen Medien massiv verstärkt und ist besonders für jüngere Frauen gefährlich.

Bezeichnen Sie auch deshalb in Ihrem Buch den Körper als „das Schaufenster schlechthin für eine gelungene Selbstoptimierung“?

Ein extremes Beispiel ist die 24-jährige französische Schauspielerin Maeva Ghennam, die im September dieses Jahres direkt nach ihrer Schönheitsoperation stolz und freudig postete, sie hätte ihren Intimbereich verjüngt und fühle sich nun so, als wäre sie zwölf Jahre alt. Das sorgte zu Recht für einen kleinen Skandal. Statt sich als Person eines gewissen Alters zu akzeptieren, unterzieht sie sich einer Operation im Intimbereich und nutzt das für ihr Selbstmarketing. Von solchem Ballast sollte man sich wirklich befreien, wobei „Ballast“ ein zu schwacher Begriff ist. Es geht hier vor allem darum, patriarchale und sexistische Strukturen in der Gesellschaft zu bekämpfen.

Es ist aber bestimmt nicht falsch, sich vernünftig zu ernähren, etwas Sport zu treiben und das eigene Aussehen nicht völlig zu vernachlässigen.

Der Graubereich zwischen gesunder Selbstsorge und übersteigerter Selbstoptimierung ist groß. Die Gefahr besteht darin, den kulturellen Imperativ, an sich selbst zu arbeiten, ins Extrem zu treiben. Selbstoptimierung ist tendenziell ein endloser Prozess. Egal welches Level man erreicht, es gibt immer ein weiteres Ziel. Es kann daher hilfreich sein, die Perspektive umzudrehen und sich über erreichte Fortschritte zu freuen, statt sich an unerreichbaren Idealbildern zu orientieren.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesem Phänomen der unaufhörlichen Steigerung und den wirtschaftlichen Verhältnissen?

Selbstoptimierung kann eine Reaktion auf Status-Angst sein. Wenn soziale Positionen unsicher werden, wenn allgemein das Klima rauer wird, will man sich fit machen für den Konkurrenzkampf. Ein Treiber ist die permanente Veränderung, etwa im Arbeitsumfeld. Mitzuhalten wird schwieriger, man muss sich anstrengen, um die eigene Position zu sichern.

Interessant ist, dass der Begriff der Selbstoptimierung nicht immer so populär war wie heute. Seine Verwendung in den Medien und in der Fachliteratur ist seit der Jahrtausendwende signifikant gestiegen.

Also seitdem Digitalisierung und Globalisierung die Arbeitswelt verändern und dem Einzelnen mehr Flexibilität abverlangt wird?

Man kann zumindest vermuten, dass es einen Zusammenhang gibt. Wenn alte Sicherheiten brüchig werden, sucht man in der eigenen Person einen Halt. Man will wenigstens den eigenen Körper, die Ernährung, das Aussehen, die eigenen Verhaltensmuster kontrollieren. Das hat etwas Kompensatorisches in einer gesellschaftlichen Situation, die als unübersichtlich und bedrohlich wahrgenommen wird. Vielleicht kippt das gerade wieder, wenn soziale Bewegungen wie Fridays for Future die gesamte Gesellschaft in den Blick nehmen und zukunftstauglich machen wollen.

Ist der Hang oder Zwang zur Selbstoptimierung in bestimmten Schichten und Milieus besonders stark verbreitet?

Dazu fehlt es noch an empirischer Forschung. Aber sicher spielen die kulturelle Orientierung an bestimmten Werten und die ökonomischen Ressourcen, die den Einzelnen zur Verfügung stehen, eine wichtige Rolle. In der Mittelschicht sind Aufstiegschancen und Abstiegsrisiken besonders groß. Das sorgt für einen besonderen Drive.

Wer wenige Aufstiegschancen hat oder umgekehrt so vermögend ist, dass ihm nicht viel passieren kann, kann es sich eher leisten, sich gehen zu lassen?

Das ist sicher zu zugespitzt. Phänomene wie Selftracking oder minimalinvasive Schönheits-OPs sind in allen Schichten zu beobachten. Aber soziale Mobilität, also die Möglichkeit, auf- oder abzusteigen, ist sehr wichtig, um das Phänomen der Selbstoptimierung zu verstehen – vor einigen Jahrzehnten war sie eher verbunden mit Aufstiegshoffnungen, heute eher mit Abstiegsängsten. ---

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