Allgäuer Überlandwerke

Die Allgäuer Überlandwerke versorgen ihre Region seit 102 Jahren mit Strom. Sie wurden immer größer. Sonst änderte sich nicht viel. Bis 2017. Da begann das Unternehmen, vieles, das bis dahin galt, über den Haufen zu werfen.





• Ja, es gibt neuerdings auch einen Raum mit bunten Sofas und anderen auffälligen Möbeln. Das lässt sich wohl nicht vermeiden, wenn sogenannte Change Manager bei einem gut hundertjährigen und leicht verschnarchten Provinzbetrieb aktiv werden.

Wir sitzen im neuen Besprechungsraum 219, und die halbe Führungsmannschaft der Allgäuer Überlandwerk GmbH (AÜW) kauert auf kleinen Stühlen hinter einer Art Schulbank. Links Michael Lucke, der Geschäftsführer, rechts sein Pressesprecher. Nur Doris Sommer, die Personalchefin, sitzt auf der Couch, und Volker Wiegand hat den lindgrünen Sitzsack erwischt, aus dem man schwer wieder rauskommt. Das ist ein schönes Bild, wie er da fast auf dem Rücken liegt, weil es symbolisch ist für den „Wind of Change“, der seit vier Jahren durch das AÜW bläst: Wenn der Prozess der Wandlung erst mal Fahrt aufgenommen hat, gibt es nicht nur Rückenwind, sondern gelegentlich auch Sturmböen von vorn. Manche Beteiligten bläst es dann einfach um, und sie kommen von allein nicht mehr auf die Beine.


 

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Im Fall von Volker Wiegand ist die Sache etwas komplexer. Er hat als Geschäftsführer der Allgäunetz GmbH & Co. KG (sie liefert den Strom der AÜW an die Kunden) die Windmaschine mit angeworfen, die den Muff aus der Firma blasen soll.

Viel Zeit ist vergangen, seit sich die Stadt Kempten 1919 am Elektrizitätswerk einer Holzschleiferei in Au an der Iller beteiligte. Immer mehr Gemeinden schlossen sich an, sogar das österreichische Kleinwalsertal. Heute versorgt das Überlandwerk rund 90 000 Kundinnen und Kunden im Allgäu, viele davon mit Ökostrom aus den eigenen zehn Wasserkraftwerken in den Alpen, aber immer noch mehr als 35 Prozent mit Strom aus Kohle und Atomkraft. Am Kohlekraftwerk Lünen-Stummhafen in Nordrhein-Westfalen ist das AÜW sogar seit 2005 beteiligt. Das ist den Leuten hier im Besprechungsraum gerade ziemlich peinlich.

„Das mit dem Kohlekraftwerk war ein klarer Fehler“, sagt AÜW-Chef Lucke hinter seinem Schultischchen. „Damals dachten wir aber, es ist eine gute Idee, um die Grundversorgung zu sichern und uns unabhängiger von den Großen zu machen.“ Falsch gedacht: Der Kohlestrom aus NRW wurde nur ganz selten benötigt und war dann auch noch viel zu teuer. Außerdem versaut er das Image der Allgäuer.

Lucke trägt Rollkragenpullover und Anzug in Nachtschwarz, dazu blütenweiße Sneaker. Seit einem schweren Skiunfall vor 18 Monaten muss er auf seine klassischen Lederschuhe verzichten. Bei der Gelegenheit legte er auch gleich seine Krawatten endgültig ab. Das passt ohnehin viel besser zum neuen Drive der Firma.

Noch vor seinem Unfall hatte Lucke zusammen mit Doris Sommer den Veränderungsprozess eingeleitet. Vielen in der Führungsetage des regionalen Energieversorgers war da zwar schon lange klar, dass die Energiewende kommen und ihr bisheriges Geschäftsmodell zerstören würde: Strom quasi behördenmäßig zuteilen, die Kunden abkassieren und den beteiligten Kommunalunternehmen, Stadtwerken und Gemeinden jährlich ein paar Millionen Euro überweisen. Das funktionierte schon ein paar Jahre nicht mehr richtig, denn die Energiebranche erlebte einen heftigen Zeitenwandel: der Markt dereguliert, die Produktion dekarbonisiert, die Atomkraftwerke abgeschaltet, die Kohlekraftwerke geschmäht – und immer mehr Häuslebauer als private Solarstrom-Produzenten.

Bis 1998 hatten die Stromanbieter in Deutschland ein Monopol. „100 Prozent aller Verbrauchsstellen in unserem Gebiet wurden von uns versorgt“, sagt Lucke. Seit wirklich freier Wettbewerb herrscht, gingen dem AÜW 15 Prozent der Kunden verloren. Sie buchten entweder Ökostrom oder wechselten fast im Jahresrhythmus zum jeweils billigsten Anbieter. „Am Preiswettlauf wollten wir uns nicht beteiligen“, sagt Lucke. „Aus unserer Sicht machte es keinen Sinn, Kunden in ganz Deutschland anzuwerben.“ Für ihn ist das eine einfache Rechenaufgabe: Die durchschnittliche Marge pro Kunde beträgt 25 Euro im Jahr. Wer wie einige Wettbewerber 150 Euro Bonus für den Wechsel anbietet, zahlt drauf, wenn der neue Kunde nicht mindestens sechs Jahre bleibt. Kein Wunder, dass einige der Billiganbieter auf der Strecke blieben. Die Allgäuer Überlandwerke aber sind immer noch da.

Trotzdem musste dringend etwas geändert werden. Die überalterte Belegschaft hatte es sich in einer Art Beamtenmentalität gemütlich gemacht. Bürokratie lähmte die Innovationskraft. Für neue Herausforderungen war man nicht gerüstet. In internen Sitzungen wurde das Schreckensbild von Nokia an die Wand gemalt: ein Handykonzern, der mit Geräten glücklich war, mit denen man telefonieren und Kurznachrichten verschicken konnte – während anderswo längst das Smartphone mit seinen unendlichen Möglichkeiten entwickelt wurde.

Das wollte Lucke unbedingt verhindern. Für ihn ging es um alles oder nichts: Schaffen wir die Wende, oder gehen wir unter?


Von links: AÜW-Geschäftsführer Michael Lucke, Personalchefin Doris Sommer und Volker Wiegand. Vorige Seiten: Wasserkraftwerk und Lucke am AÜW-Firmensitz in Kempten

Im Jahr 2017 beschloss Michael Lucke die Entwicklung eines Crash-Programms, das die beschaulichen Überlandwerke anpassungsfähiger und innovativer machen sollte, jünger, schlanker und agiler. Er und seine Kollegen aus der Chef-Etage heuerten Transformationsberater aus Köln an und nannten das Programm U2020, weil es bis dahin Früchte tragen sollte.

Die drei wichtigsten Ziele:

— weniger Führung, mehr Eigenverantwortung

— Beschäftigte nicht streng nach Stellenbeschreibung einsetzen, sondern so, dass sie flexibel auf Marktanforderungen reagieren können

— von Mitarbeiterfähigkeiten, die zu Hause, etwa für Hobbys genutzt werden, auch in der Firma profitieren.

Die Verantwortlichen wussten, dass die Veränderungen wehtun würden. Wie sehr, das ahnte damals noch niemand.

Die Gelegenheit allerdings war günstig: Denn für das veranschlagte Zeitfenster stand in der Firma ohnehin ein Generationswechsel an. Mehr als 20 Prozent der 376 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schieden altersbedingt aus, darunter auch Mitglieder der Geschäftsführung. Alte raus, Junge rein – das Durchschnittsalter der Belegschaft sank auf einen Schlag von 39 auf 33 Jahre. Diesen glücklichen Umstand habe man genutzt, sagt Sommer, um auch an anderer Stelle radikale Einschnitte vorzunehmen. Zum Beispiel beim Management: Zehn Top-Stellen wurden gestrichen, zwei Führungsebenen eliminiert. Tummelten sich früher 32 Geschäftsführer, Bereichsleiterinnen, Abteilungsleiter und Teamleiterinnen in den obersten Gehaltsgruppen, blieben jetzt nur noch zwei Geschäftsführer und 20 Funktionsleiter übrig.

Das verursachte Stress, vor allem die neue Machtverteilung von oben nach unten. Die Führungskräfte sollten Befugnisse abgeben, zuvor Untergebene sollten sie annehmen. Einige Mitarbeiter empfanden es als Zumutung, Entscheidungen treffen zu müssen. Könnte ja schiefgehen. Aber auch die Chefs taten sich schwer damit, loszulassen und nur noch als „Hüter der Strategie“ und „oberster Risikomanager“ aufzutreten.

Noch heute ertappt sich Lucke dabei, wie er Mikromanagement betreibt und sich in Dinge einmischt, die ihn eigentlich nichts mehr angehen sollten. „Besonders beim Fuhrpark passiert mir das immer wieder mal“, sagt er. Zurzeit, so heißt es in der Firma, diskutiere er zu eifrig mit bei der Frage, ob man im steilen Kleinwalsertal einen sündteuren, aber im Gelände nahezu unschlagbaren Unimog für die Leitungsbauer mit ihren Kabeltrommeln braucht – oder ob es auch billiger geht. Das liegt aber neuerdings nicht mehr in seiner Entscheidungsbefugnis. Darüber bestimmen jetzt die Leute, die den Job in den Bergen machen. Die diskutieren das untereinander aus. Lucke soll nur noch eingreifen, wenn das Gesamtbudget deutlich überschritten wird oder ihm das Risiko unverantwortlich hoch erscheint.


Selbstverständlich strombetrieben: ein Firmen-Fahrzeug der AÜW

Auf anderen Gebieten hat es besser geklappt: Die Bürokratie mit Anträgen für Dienstreisen und Urlaub ist abgeschafft. Die Termine werden im Team besprochen. Niemand muss mehr irgendetwas genehmigen. Aber selbst das kam bei Teilen der Belegschaft nicht so richtig gut an. „Ist das jetzt euer Break-Through“, lästerten die AÜW-Leute, „dass man keinen Urlaubsschein mehr benötigt?“ Und bei der Gelegenheit spotteten sie auch gleich noch über den neuen bunten Besprechungsraum: „Wo ist eigentlich das Bällebad?“

Michael Lucke lässt sich davon nicht beirren. „Ich kenne mich mit eigenwilligen, bodenständigen Menschen aus“, sagt er, „ich komme schließlich aus Oldenburg.“ Kritisiert wurde am Anfang vor allem, dass es gar keinen Grund gebe für gravierende Veränderungen, der Firma gehe es doch gut. Das Argument, dass man solche Einschnitte in der Organisation besser macht, bevor es zu spät ist, überzeugte nicht alle. Nur etwa 60 der rund 350 Mitarbeiter meldeten sich für die sogenannte Resonanzgruppe, in der die Belegschaft ihr Feedback zu den Maßnahmen geben sollte.

Aber schließlich einigte man sich doch, zum Beispiel auf Werte: Verlässlichkeit, Wertschätzung, Nachhaltigkeit – Standard-Schlagworte aus dem Unternehmensberater-Baukasten, gegen die kaum jemand etwas haben kann. Auch einige Prinzipien flutschten ziemlich anstandslos durch:

— Wir haben wenige verbindliche Regeln, aber die halten wir ein.

— Entscheidungen werden dort getroffen, wo die Verantwortung liegt.

— Die Rollen und Verantwortungen sind transparent.

— Jede Rolle hat einen Sinn und Zweck.

— Wir probieren uns aus und sind bereit, Fehler zu machen.

— Wir teilen Wissen.

— Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf Dinge, die besser laufen könnten.

2020, als die Pandemie kam, waren alle froh, dass sie diese Prinzipien hatten. Ein großer Teil der Kollegen war im Home Office oder in Quarantäne. Wenn dann noch jemand erkrankte, gab es vor Ort nicht mehr viele, die anderen Verantwortung abnehmen konnten. Da half nur: selber machen. Und das hat zur Überraschung aller plötzlich ziemlich gut geklappt. „Das war der Live-Test“, sagt Volker Wiegand. „Ohne die in der Theorie vereinbarten Werte, Haltungen und Mechanismen einer selbstführenden Organisation hätten wir die Herausforderungen dieses Jahres nicht so gut gemeistert, wie wir es getan haben.“

Ein paar Probleme gab es aber, das wurde in internen Workshops festgestellt:

— Jeder fünfte Mitarbeiter bekam eine neue Rolle im Unternehmen zugeteilt. Das schaffte Unruhe und stellte hohe Anforderungen an die Flexibilität. Manchmal waren diese zu hoch.

— Die neue Fehlerkultur zu akzeptieren fiel vielen schwer. „Wenn’s um Strom geht, macht man keine Fehler, das ist ein eisernes Gesetz“, sagt Doris Sommer. Dass man jenseits von Hochspannung und Starkstrom mal etwas Neues ausprobieren und riskieren kann, hat noch nicht jeder verinnerlicht.

— Durch den Wegfall von Hierarchieebenen gibt es weniger Aufstiegschancen, und die neuen Anreizsysteme (wie erfolgsabhängige Gehaltsbestandteile) auf den Ebenen darunter funktionieren wegen der Tarifbindung noch nicht richtig. Das schmälert die Motivation.

— Es sind noch nicht genügend Beschäftigte vom neuen Kurs überzeugt. Auf der Job-Bewertungsplattform Kununu klagen sie: Das AÜW sollte zu seinen „alten Werten zurückkehren und sein Kerngeschäft wieder ins Auge fassen“. Oder: „Manchmal war früher doch alles besser.“

— Es fehlt ein Forum, in dem die kritischen Stimmen gehört und Sorgen besprochen werden können.

— Nach einer starken Startphase war am Schluss der Elan weg.

Dennoch werten die Überlandwerke die Transformation als ziemlich gelungen. Trotz der Disruption im Energiemarkt sind die Umsätze stabil, und das AÜW konnte fast jedes Jahr mindestens 12,5 Millionen Euro Gewinn an die kommunalen Gesellschafter ausschütten. Lucke begründet das nicht mit einzelnen Maßnahmen des Veränderungsprogramms. „Kluge Diversifikation ist der Grund dafür. Wir erzeugen und verkaufen nicht nur Strom, sondern haben auch strategische Beteiligungen an Wohnungsbauunternehmen, Bergbahnen und im Bereich Telekommunikation.“

Künftig soll der Blick ohnehin wieder mehr nach außen statt nach innen gerichtet sein – weniger auf die Mitarbeiter, mehr auf die Kunden. Die heißen beim AÜW jetzt nicht mehr Konsumenten, sondern Prosumenten, weil jeder Zehnte von ihnen Strom aus seiner privaten Solaranlage ins Netz einspeist. ---

Die Allgäuer Überlandwerke in Kempten bestehen aus der Allgäuer Überlandwerk GmbH (AÜW) und der Allgäunetz Gmbh (AN), die für die Stromleitungen zuständig ist:

Umsatz: 405 Millionen Euro
Beschäftigte: (inkl. 37 Azubis) 376
Zahl der Kundinnen und Kunden: 90 000
Stromabsatz: 1162 Millionen kWh
Betriebene Wasserkraftwerke: 10
damit erzeugter grüner Strom: 84 Millionen kWh
damit versorgte Haushalte: 25 000

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