„Wenn ein Mensch von einem Bären angefallen wird, dann hat er etwas falsch gemacht“

Das sagt der Wagnisforscher Siegbert Warwitz. Ein Gespräch über kalkulierte Risiken, die Motive abenteuerlustiger Leute und Gefahren, welche überbehüteten Kindern drohen.





brand eins: Herr Warwitz, das Wagnis ist Ihr Lebensthema – wie kam es dazu?

Siegbert Warwitz: Es ist eines meiner Lebensthemen, aber in jedem Fall ein sehr wichtiges. Es ergab sich bei mir schon als Kind. Wir lebten in der Nachkriegszeit im Ruhrgebiet, und nicht weit von uns fuhren lange, mit Kohle beladene Güterzüge vorbei in Richtung Niederlande. Wir hatten nichts zum Heizen zu Hause, und es war bitterkalt. Meine Großmutter lobte deshalb eine kleine Belohnung für jedes organisierte Brikett aus. Und so zogen wir Kinder los zu einer Stelle, wo die Züge ganz langsam bergan fuhren, sprangen auf und luden so viel Kohle ab wie nur möglich. Das war nicht ganz ungefährlich, aber spannend und mit Lohn verbunden. Der Reiz, mich solchen als sinnvoll oder sogar als notwendig erachteten Situationen auszusetzen, ist seitdem geblieben.

War das auch der Grund, das Thema wissenschaftlich zu untersuchen?

Ich habe mich schon als Student gefragt, was hinter der Lust auf solche Abenteuer steckt. Was ist die Motivation der Menschen? Was haben sie davon? Aus diesen Fragen entstand meine Wagnisforschung, ein neues Gebiet, das von der Psychologie noch kaum untersucht war.

Aber es gab bereits Theorien dazu.

Ja, zum Beispiel von Sigmund Freud, der das Phänomen pathologisiert hat. Er meinte, der risikobereite Mensch sei behandlungsbedürftig. Das hat mich nicht überzeugt.

Was ist Ihre Erklärung?

Menschen gehen aus sehr unterschiedlichen Beweggründen Wagnisse ein. Ein bedeutender ist das Streben nach mehr Sicherheit. Das klingt paradox, ist es aber nicht. Man setzt sich einer Situation aus, die mit Risiken verbunden ist. Bewältigt man sie, gewinnt man an Souveränität. Mit jeder solchen Erfahrung entwickeln sich Menschen weiter. Das ist der bewusste oder unbewusste Wunsch, der hinter Wagnissen steht.

Besteht nicht die Gefahr, dass ein abenteuerlustiger Mensch wie Sie die Sache allzu positiv sieht?

Diese Gefahr besteht. Allerdings sehe ich die größere Gefahr darin, ein Gebiet erforschen zu wollen, von dem man keine Ahnung hat. Risikoscheuen Wissenschaftlern fällt es schwer, sich zum Beispiel in Extremsportler oder Stuntleute hineinzuversetzen. Mir fiel das leicht, weil ich auf etlichen Wagnisfeldern eigene Erfahrungen habe, unter anderem Gleitschirm geflogen bin und Expeditionen in menschenleere Gebiete wie Papua Neuguinea unternommen habe. Aber Sie haben recht: Als Wissenschaftler muss man sich selbstverständlich um Objektivität bemühen. Meine Mitarbeiter und ich haben deshalb Tausende Menschen – sowohl Wagnissucher als auch Wagnismeider – methodisch sauber nach ihren Motiven befragt. Und dabei kristallisierte sich das Thema persönliches Wachstum bei den Wagemutigen klar heraus. Sie wollen mehr Lebensqualität, mehr Selbstständigkeit. Und das erreichen sie nur, wenn sie sich Risiken aussetzen.

Spielt nicht auch der Kick eine Rolle?

Ja, bei bestimmten Abenteurern. Das unterscheidet Wagende von Hasardeuren. Die einen gehen gut vorbereitet ein kalkuliertes Wagnis ein. Die anderen riskieren um des Nervenkitzels wegen ohne Sinn und Verstand Kopf und Kragen. Sie liefern sich mitten in der belebten Stadt Autorennen oder machen Selfies vor dem herannahenden Zug. Das ist reines Glücksspiel, dazu braucht es keine Kompetenz. Aus diesem Grund unterscheide ich auch Wagnissport von Risikosport. Menschen, die sich etwa mit Wingsuits genannten Flügelanzügen von Felsen stürzen, betreiben Risikosport. Sie setzen sich bei hoher Geschwindigkeit nicht zu kalkulierenden Windströmungen aus. Selbst erfahrene Fallschirmspringer, die sich zu dieser Risikosportart hinreißen lassen, verunglücken dabei. Das ist fast unvermeidlich. Irgendwann schlägt das Schicksal zu.

Sie selbst sind allerdings auch schon abgestürzt.

Einmal mit dem Gleitschirm und einmal mit dem Drachen, beide Male durch Fremdverschulden. Aber es ging jeweils glimpflich aus, weil ich gut auf solche Situationen eingestellt war, also den Sicherheitsschirm aktivieren konnte. Das ist ein zentraler Punkt bei dem Thema. Wagemutige Menschen gehen verantwortungsbewusst an ihre Vorhaben heran und lernen viel, um sie zu meistern. Aus diesem Grund haben sie das Potenzial, die Welt voranzubringen, zum Beispiel als Forscher oder Unternehmer.

Wenn das Eingehen kalkulierter Risiken so nützlich ist, dann müsste das Thema eigent- lich auf dem Lehrplan stehen, oder?

Das müsste es, aber es kommt in der Schule leider viel zu kurz. Dabei liegt der Nutzen auf der Hand, etwa bei der Verkehrserziehung. Es ist statistisch erwiesen, dass überbehütete Kinder, die jeden Tag mit dem Elterntaxi zur Schule gefahren werden und die Gefahren des Verkehrs deshalb nicht kennenlernen, am häufigsten verunglücken. Kinder sollten durch eine gute Verkehrserziehung dazu befähigt werden, sich selbstständig auf den Straßen zu bewegen. Sie sollten nicht entmündigt werden. Generell gilt: Wer ständig auf Nummer sicher geht, wird immer unsicherer – und das ist letztlich gefährlich.

Auf dem Bedürfnis nach Abenteuern einerseits und der Furcht, sich Gefahren auszusetzen andererseits, beruht eine ganze Industrie, die allerlei Events verkauft wie zum Beispiel Bungee-Jumping. Was halten Sie davon?

Wenig, denn zu einem wirklichen Wagnis gehört der selbst verantwortete Aufbruch ins Unbekannte, eine eigenständige Leistung und das persönliche Risiko: Wenn es schiefgeht, muss man die Folgen tragen. All das können solche Instant-Events nicht vermitteln.

Welches persönliche Wagnis war Ihr jüngstes?

Ich bin im vergangenen Sommer mit dem Wohnmobil durch Kanada gefahren und an einem Rastplatz einem Braunbären begegnet. Er kam aus dem Wald, um sich an einem gedeckten Tisch zu bedienen. Alle Leute flohen, ich blieb und filmte den Bären. Ich ging ihm auch mit Sicherheitsabstand nach, als er sich satt gefressen zurück in den Wald trollte.

Das war unvernünftig.

Nein, denn ich wusste, wie man sich zu verhalten hat. Man muss für das Tier berechenbar sein, darf es also nicht überraschen. Und wenn es sich einem nähert, muss man eine Demutsgeste einnehmen, sich zum Beispiel klein hinducken. Bären haben Angst vor uns. Wenn ein Mensch von einem Bären angefallen wird, hat er etwas falsch gemacht.

Sie sind offenbar ein furchtloser Mensch. Was raten Sie unsicheren Menschen, die einmal über sich hinauswachsen wollen?

Das hängt von der jeweiligen Person ab. Wer Angst vor der Dunkelheit hat oder vor dem Alleinsein, sollte eventuell mal nachts in den Wald gehen und dort vielleicht sogar im Zelt übernachten. Das ist hierzulande ungefährlich. Wer sich fürchtet, vor Leuten etwas zu sagen, sollte zum Beispiel eine kleine Rede für eine Geburtstagsfeier vorbereiten. Mir ging das übrigens früher selbst so. Das Wichtigste beim Wagnis öffentliche Rede: Man muss den Schlussgedanken parat haben. Dann kann nichts schiefgehen. ---

Siegbert A. Warwitz, 83,
studierte nach einer Ausbildung zum Offizier der Bundeswehr zunächst Sportwissenschaften, Germanistik und Philosophie für das höhere Lehramt und promovierte nach einem anschließenden Psychologiestudium. Später wurde Warwitz als Professor an die Pädagogische Hochschule Karlsruhe berufen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sportpsychologie und Verkehrserziehung, wobei ihn besonders das Verhältnis von Wagnis und Risiko interessiert. Literatur von ihm zum Thema:

„Sinnsuche im Wagnis – Leben in wachsenden Ringen. Erklärungsmodelle für grenzüberschreitendes Verhalten“, Schneider Hohengehren, 2. Aufl., 2016