Was Wirtschaft treibt

Nicht für die Tonne

Kenia hat ein Müllproblem. Und findige Unternehmer, die nach Lösungen dafür suchen – die auch für andere Länder nützlich sein könnten.




Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 11/2020.


In der Fabrik, die früher eine Brauerei war, werden Tetra Paks in etwas Neues verwandelt

• Nairobi ist eine bunte Stadt. Auch wenn es in Zeiten der Pandemie ruhiger geworden ist, herrscht auf den Straßen reges Treiben, von Menschen und auch von Müll. Manchmal bedeckt der Abfall in Kenias Hauptstadt ganze Gehsteige, sodass Fußgänger auf die Straßen ausweichen müssen. Brachflächen wirken wie Müllkippen, übersät mit Flaschen, Verpackungen und Gemüseresten.

Das Problem ist so gravierend, dass Nairobis neuer Verwaltungschef Mohamed Badi Ende März als erste Amtshandlung das Militär einspannte, um die Müllberge abzutransportieren. Doch auch wenn solcher Aktionismus bei vielen Menschen gut ankommt – das Problem löst er nicht.

Denn Kenias einzige Deponie quillt über. Recycling wird dort vor allem von Müllsammlern betrieben: Sie suchen auf dem stinkenden Riesenberg nach einzelnen Stücken, die sie für ein paar Schilling versilbern können. Erst nach und nach entdecken Unternehmer, dass Müll wertvoll sein kann.

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Ein Pionier auf dem Gebiet ist Daniel Paffenholz. Seine Firma Taka Taka Solutions sammelt und verwertet Haushalts- und Gewerbeabfälle. Das Büro liegt in einem ruhigen Viertel der Stadt, umgeben von tropischen Gärten, hier sind die Straßen sauber. Während Paffenholz an seinem Schreibtisch über Kenias Müllproblem spricht, zwitschern draußen Vögel. Eine Abfuhr wie in Deutschland, die alle Stadtteile in gleichem Maß vom Abfall befreit, gebe es nicht. „Weniger als 50 Prozent des Mülls wird in Nairobi überhaupt gesammelt“, sagt der 33-Jährige. Täglich fallen hier rund 3000 Tonnen Müll an. Der Großteil ist organisch, er verrottet allmählich auf den Straßen, während daneben Kinder spielen. Rund 40 Prozent sind verschiedene Sorten Kunststoff, Papier, Glas oder Dosen.


Vorerst werden nur Abschnitte verarbeitet, die bei der Herstellung von Getränkekartons übrig bleiben


Auf Knopfdruck werden die Reste zu Brettern gebacken – dabei riecht es nach verbranntem Plastik

Taka Taka Solutions sei eine von mehreren Dutzend Firmen, die in der Stadt Müll einsammeln, sagt Paffenholz, und die einzige, die den Müll entweder selbst recycelt oder an Wiederverwerter weiterverkauft. Aus 90 Prozent des organischen Abfalls macht die Firma Kompost und aus dem Rest Schweinefutter, für beides gibt es eine Nachfrage. Nur fünf Prozent des Mülls, den die Firma sammelt, landen am Ende auf der Deponie. Die meisten anderen Unternehmen dagegen kassieren Müllgebühren von denen, die es sich leisten können, und kippen die Abfälle einfach auf die Deponie. Das kostet sie nicht viel.

„In Deutschland muss derjenige, der seinen Müll entsorgt, für die Müllverbrennung rund hundert Euro je Tonne bezahlen“, sagt Paffenholz. „Die Deponierung in den USA kostet etwa die Hälfte. In Kenia muss man nur drei bis fünf Euro je Tonne bezahlen, um seinen Müll auf der Deponie loszuwerden.“ Kenia war zwar eines der ersten Länder, das Plastiktüten verbot, darüber hinaus gibt es jedoch keine Vorschriften und Quoten für die Industrie wie in Europa, etwa was das Sammeln und Verwerten von Verpackungen betrifft. Und so werden die Müllberge immer größer.

Dabei enthalten Abfälle, zum Beispiel Getränkekartons, wertvolle Rohstoffe. Das Schweizer Unternehmen Tetra Laval ist mit seiner Tochter Tetra Pak der weltweit größte Produzent für diese Verpackungen. Sie bestehen aus Zellstofffasern, Kunststoffen und Aluminium. Viel zu schade zum Wegwerfen, findet Paffenholz. „Wir haben in unserem Lager mittlerweile 85 Tonnen Getränkekartons angesammelt“ – in der Erwartung, irgendwann einen Abnehmer zu finden.

Einer, der dafür infrage kommt, ist Richard Rugendo. Der 71-Jährige ist einer der größten Getränkeproduzenten Ostafrikas. Seine Firma Kevian sitzt in Thika, rund eine Stunde Autofahrt nördlich von Nairobi. Dort produziert Rugendo tropische Säfte und vertreibt sie unter Marken wie Pick n Peel und Afia. In der Nähe seiner Saftfabrik hat er sich das Gelände einer alten Brauerei gesichert. Dort beginnt er nun, eine neue Geschäftsidee umzusetzen: Er bereitet Getränkekartons auf. Genau solche Verpackungen, in die er seine Säfte füllt, nutzt er hier als Rohstoff für neue Produkte.

Zig Plastiksäcke stehen in der Halle der ehemaligen Brauerei auf dem Boden, gefüllt mit zerschnittenen Tetra Paks. Bisher arbeite er mit Produktionsausschuss, erzählt Rugendo, Material also, das bei der Herstellung der Getränkekartons übrig bleibt. Es stammt aus der Tetra-Pak-Fabrik in Nairobi, wo die Schweizer jährlich rund 150 Millionen Kartons produzieren.


„Alles stabil und sicher!“ Richard Rugendo hat die Möbel aus dem recycelten Material intensiv getestet

Rugendo lässt ein paar Schnipsel durch seine Hände gleiten. „Wir nutzen die Rohstoffe, die in den Kartons stecken, und machen etwas Neues daraus“, sagt er und klopft auf ein buntes Brett, das vor ihm auf einem Tisch liegt. Es klingt, als würde er auf Holz klopfen, doch die Bretter bestehen aus einem Gemisch: zu rund drei Vierteln aus Holzfasern, zu etwa 20 Prozent aus dem Plastiktütenrohstoff Polyethylen sowie aus Aluminium – der typische Mix eines Tetra-Pak-Kartons.

Richard Rugendo ist seit mehr als 30 Jahren Unternehmer. Seine Firmengruppe vertreibt landwirtschaftliche Geräte, sie pflanzt Blumen für den Export an und Kartoffeln für den heimischen Markt. Auch die neue Sparte Recycling hat Rugendo bereits ausgeweitet: Aus den Deckeln der Getränkekartons produziert er Wassertanks, obwohl das Geschäft mit den recycelten Brettern erst anläuft.

Um die Bretter herzustellen, kippen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den gelben Overalls die Abschnitte aus den Säcken auf ein Förderband, das zu einem Häcksler über ihren Köpfen führt. Der schreddert das Material und transportiert die Schnipsel in Bottiche. Dort sortieren Kollegen sie und verteilen sie auf Bleche.


Und noch eine neue Aufgabe für Tetra Paks: Setzlinge großziehen


Ein kreativer Beitrag zur Lösung des Müllproblems, nicht nur in Kenia

Ein Band befördert die Bleche zur großen Presse. Einige stecken schon in einem Ofen, übereinander gereiht wie riesige Kuchenbleche. Rugendo gibt seinem Maschinenchef ein Zeichen. Über jeden der Böden senkt sich nun eine Metallplatte. Während Hitze und Hydraulik die Melange komprimieren, breitet sich der Geruch von verbranntem Plastik aus.

Es dauert nur wenige Minuten, dann ist die Verwandlung vollzogen: Aus den Kartonschnipseln hat die Maschine feste Bretter gebacken, so lang wie Haustüren und ein paar Millimeter dick. Zwei Arbeiterinnen kratzen die Bretter mit Schabern von den Blechen und legen sie auf Bänder. Am Ende der Halle schneidet eine Maschine die Kanten glatt.

„Wir müssen etwas gegen das Müllproblem tun“, sagt Rugendo, während er den Prozess über den Rand seiner Sonnenbrille verfolgt, die er selbst in der dunklen Halle nicht abnimmt. „Deshalb investiere ich in Recycling.“ Er kramt aus seinen Unterlagen einen Packen Flyer, das einzige Werbematerial, das seine neue Firma Ramani Recyclers bisher erstellt hat. „Der Rohstoff der Bretter ist Tetra-Pak-Abfall“, steht darauf. Dieser werde bisher „auf Deponien entsorgt. Dort stellt er ein Umweltrisiko dar“ (siehe Seite 40).

Noch etwas treibt Rugendo um: Nur noch sieben Prozent der Fläche Kenias ist mit Bäumen bedeckt. Er hofft, dass seine Bretter sich als Alternative zu Holz durchsetzen. „Natürlich soll sich das Recycling lohnen, aber manchmal muss man die Sorge vor den Profit stellen“, sagt er. Dann aber hört man doch wieder den Unternehmer sprechen: „Wenn wir die Umwelt weiter zerstören, alle Bäume abholzen, habe ich keine Getränkekartons mehr. Das ist langfristig das große Risiko für unsere gesamte Industrie.“

Rugendo ist mit Säften reich geworden. Seine neueste Produktlinie sind Energy-Drinks, die bei jungen Kenianern gut ankommen. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, kam als Junge vom Land in die Hauptstadt, um sein Glück zu suchen. Er hat es gefunden. Mit seiner Frau wohnt er in Nairobi in einer Villa, die Presse bezeichnet ihn als Multimillionär. Er winkt ab: „Wenn das wahr wäre, würde ich nicht mehr arbeiten. Das Gegenteil stimmt: Ich stehe jeden Tag um fünf Uhr auf, schwimme eine Runde im Pool und fahre zur Arbeit. Das ist mein Leben.“

Und doch ist er einer der wenigen Kenianer, die sich ein solches Investment leisten können. Mehr als drei Millionen Euro hat er in die Recycling-Fabrik gesteckt. Kartonhersteller hätten ihn nicht unterstützt, auch Tetra Pak nicht. Und das, obwohl er eine Lösung anbietet, die der ganzen Branche nutzen kann. Schließlich brauchen alle Getränkehersteller weiterhin das Holz von Bäumen, um ihre Verpackungen zu produzieren.

In einem Showroom in den Halle stehen Bänke, Tische und ein Vogelhäuschen aus recycelten Tetra Paks. Auch Krankenhausbetten und Fernsehschränke wurden aus den Brettern schon hergestellt. Die Möbel sind bunt gesprenkelt, als hätte sie jemand wild mit Farbe bespritzt. Eine eigenwillige Optik, die durch die verschiedenfarbigen Getränkekartons entsteht.

„Wenn die Kunden es wollen, sortieren wir nach Farben vor“, sagt Rugendo. Deshalb gibt es auch Platten in blauen oder grünen Farbtönen. „Und wem es nicht gefällt, der kann die Bretter einfach lackieren – oder als stützende Struktur im Inneren von Polstermöbeln verwenden.“ Rugendo nimmt auf einer Bank Platz, klopft das Material ab. „Es ist alles stabil und sicher. Wir haben die Bretter getestet und sie einen Monat in Wasser gelegt. Danach waren sie immer noch glatt und nirgendwo aufgequollen.“

Ramani Recyclers versteht sich als Vorproduzent und bietet die Bretter in Stärken zwischen drei und 25 Millimeter und in verschiedenen Längen an. Die Wertschöpfung aus dem Möbelbau interessiert Rugendo nicht. „Leben und leben lassen“, sagt er. Noch fehlen Geschäftsabschlüsse, aber das sei nur eine Frage der Zeit. Er denkt schon darüber nach, wie er weiter wachsen kann.

Derzeit können die Häcksler täglich 240 Tonnen Kartons zerkleinern, künftig sollen es 1500 Tonnen werden. Um das zu erreichen, muss Rugendo neben dem Ausschuss von Tetra Pak auch an die Müllberge der Kenianer ran. Zum Beispiel an solche, die Daniel Paffenholz sammelt. Noch haben beide nicht über Preise gesprochen, Paffenholz wäre aber bereit zu liefern: „Verpressen wäre eine vernünftige und wohl auch die wirtschaftlichste Lösung“, sagt er.

Im Gegensatz zum Produktionsausschuss sind benutzte Tetra Paks dreckig, im Inneren befinden sich Getränkereste. Müsste man den Abfall vor der Verarbeitung säubern, entstünde zusätzlicher Aufwand. Nach Einschätzung von Experten wäre das hier jedoch nicht notwendig: Der Ingenieur Benedikt Kauertz beschäftigt sich am Institut für Energie- und Umweltforschung in Heidelberg mit der Ökobilanz von Getränkekartons. Da Rugendo die Bretter bei mehr als 170 Grad Celsius presst, würden die Getränkereste verdampfen. Bakterien und Keime würden abgetötet.

Kauertz bewertet das Verfahren positiv: „Aus Papier, Kunststoff und Aluminium entsteht ein stabiler Verbund, der sich als Baumaterial eignet.“ Gerade für Länder wie Kenia sei eine solche Verwertung eine gute Idee. Die bunten Möbel könnten so einen Beitrag leisten zur Lösung des Müllproblems, nicht nur in Kenia, sondern auch in anderen ärmeren Ländern.

In Kenia will Rugendo mit Getränkekartons auch direkt dazu beitragen, dass es wieder größere Waldflächen gibt: An den Außenwänden der Fabrik sind Setzlinge einheimischer Bäume aufgereiht, sie strecken ihre Blätter aus aufgeschnittenen Tetra Paks heraus. Anstelle von Orangensaft sind diese nun mit Erde gefüllt. ---

Tetra Paks seien nicht recycelbar, so steht es auf den Flyern, mit denen Richard Rugendo wirbt. Deutliche Worte, die 9000 Kilometer weiter nördlich auf Widerspruch stoßen. „Kenia ist nicht mit Deutschland vergleichbar“, sagt Heike Schiffler, die in Hochheim am Main bei Tetra Pak für Nachhaltigkeit in Deutschland und Europa verantwortlich ist. „Hier haben wir eine Recyclingquote von rund 75 Prozent“, sagt sie. Milch- und Saftkartons werden über den gelben Sack entsorgt, Sortieranlagen picken sie anschließend heraus. „Papierfabriken gewinnen daraus die Holzfasern wieder und stellen neue Pappkartons und Faltschachteln her. Und auch die sind wieder recycelbar.“ Für neue Tetra-Pak-Kartons seien recycelte Fasern aber nicht mehr zu gebrauchen, sie würden durch die Aufbereitung zu kurz. Neuware braucht deshalb Fasern aus Frischholz.

2017 konsumierten die Deutschen dem Umweltbundesamt zufolge Getränke in Kartons mit einem Verpackungsgewicht von insgesamt knapp 180 000 Tonnen. Wie gut diese Abfälle recycelt werden können, ist umstritten. Während die Industrie von einer Quote von 77 Prozent ausgeht, spricht die Deutsche Umwelthilfe von nur 36 Prozent. Was die Zahlen verzerrt: An den alten Tetra Paks klebt auch anderer Müll aus dem gelben Sack wie Plastikfolien oder Joghurtdeckel. Außerdem befinden sich in vielen Packungen noch Getränkerückstände. Beides erhöht das Gewicht. Das Institut für Energie- und Umweltforschung (Ifeu) in Heidelberg ermittelte 2019, dass die Quote tatsächlich weniger als 65 Prozent beträgt.

Auch wenn die Deutschen zwei Drittel aller Milch- und Saftkartons in die Wertstofftonne geben, wird also nur ein Teil davon zu neuem Rohstoff. Denn das Recycling der Kartons aus Papier, Kunststoff und Aluminium ist aufwendig. Die beiden Papierfabriken, die in Deutschland als einzige solche Verpackungen aufbereiten, gewinnen nicht alle Holzfasern zurück. Übrig bleibt ein verklumptes Gemisch aus dem Rest, der sogenannte Reject. Der wurde bisher in der Zementindustrie verbrannt oder nach China exportiert. Weil die Chinesen seit 2018 keinen Plastikmüll mehr annehmen und die EU die Anforderung an das Recycling erhöht hat, muss die Industrie nun selbst Hand anlegen. Die Getränkekartonhersteller Tetra Pak, Elopak und SIG Combibloc wollen mit einer neuen Recyclinganlage ab Mitte 2020 dem Restverbund aus Papier, Kunststoff und Aluminium zu Leibe rücken.* Bis dahin aber werden unter dem Strich laut der Deutschen Umwelthilfe nur gut 36 Prozent der Fasern tatsächlich wiedergewonnen. Das Ifeu bestätigt die von den Umweltschützern genannte Größenordnung.

In Deutschland gab es die Idee, Getränkekartons zu verpressen, schon einmal. In den Neunzigerjahren produzierte eine deutsche Firma unter dem Produktnamen Tectan solche Bretter als Alternative zu Pressspan aus Holzresten. Laut Tetra Pak Deutschland konnten sie sich gegenüber den Spanplatten in der Baubranche aber nicht durchsetzen, weil sie schwerer und teurer waren.

*Die Anlage wurde im April 2021 eröffnet

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