„Ich will das echte Leben spüren“

Die Chirurgin Vera Kühne verzichtet freiwillig auf eine Karriere im Krankenhaus. Sie hat höhere Ansprüche.





Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 03/2020.

• Vera Kühne hat die Nacht mal wieder durchgearbeitet. Diese Schichtdienste sind anstrengend, trotzdem verbindet die 51-jährige Chirurgin damit vor allem: Freiheit. So entgeht sie der Festanstellung in einer Klinik. Oder „dem fremdbestimmten Gehetze in einer Fließbandkrankenhausfabrik“, wie sie sagt.

Die Ärztin wohnt mit ihrem Mann in einem gemütlichen Häuschen in Bischberg bei Bamberg. Großer Garten, Kachelofen, Bücher über Bücher. Die beiden nennen ihr Zuhause „Logbasis“, was für logistische Basis steht und andeutet, dass ihr Leben in der Vergangenheit wenig routiniert ablief. Ihr Mann, ein Bundeswehroffizier, war an wechselnden Orten stationiert, sie in diversen Krisenregionen im Einsatz. „Wir haben das Haus gekauft, weil wir eine Stätte brauchten, an der unsere Sachen einen festen Platz haben“, sagt Kühne.

Die schmale, feingliedrige Frau sieht deutlich jünger aus, als sie ist, sie hat lange dunkle Haare und ein freundliches Gesicht, trägt Jeansrock, rote Strumpfhose und Wollsocken. Beim Besuch Ende Januar in Bischberg stellt sich heraus, dass sie vor allem eines ist: anspruchsvoll. Sie will einen aufregenden Beruf und ein ausgefülltes Sozialleben. Sie will intensive Begegnungen und viel Zeit für sich. Sie will Abwechslung und Muße.

Und sie setzt ihre Ziele konsequent in die Tat um. Es gab eine Zeit, da fühlte sie sich von zwei Seiten bedrängt: ihrem damaligen Lebenspartner und ihrem Chef. Beide wollten mehr von ihrer Zeit. Von beiden hat sie sich getrennt.

Ihre Ansprüche hält sie weder als Angestellte in einer Klinik noch als Inhaberin einer Praxis für realisierbar, darum ist sie seit zwölf Jahren freiberufliche Honorarärztin. In der vergangenen Nacht schob sie Notarztdienst, wartete in der Rettungswache des Bayerischen Roten Kreuzes in Bamberg, bis sie durch die Leitstelle alarmiert wurde und zum Einsatz ausrückte. Eine alte Frau war gestürzt, ein Mann litt unter starken Schmerzen, ein Kind unter Atemnot. Insgesamt sieben Notfälle. Kühne leistet Erstversorgung und stabilisiert die Patienten auf der Fahrt zum Krankenhaus, die im ländlichen Raum schon mal eine Stunde dauert.

Mehrere Jahre war sie als Honorarärztin auch in der Notaufnahme diverser Kliniken tätig. Doch weil dies seit vergangenem Jahr als Scheinselbstständigkeit gilt, musste sie sich nach Alternativen umschauen. Sie übernimmt nun abends, an Wochenenden und an Mittwochnachmittagen, also immer wenn die Praxen geschlossen sind, Bereitschaftsdienste. Die niedergelassenen Ärzte sind mit diesen Extraschichten überfordert, darum hat sich die Kassenärztliche Vereinigung in Bayern der Sache angenommen und schließt die Versorgungslücke mit Leuten wie Kühne.

Bereitzustehen, wenn die Kollegen Feierabend haben – das klingt erst mal nicht nach Freiheit. Aber für Kühne ist entscheidend, dass sie selbst bestimmen kann, wann und wie viel sie arbeitet. Sie will flexibel bleiben, um spontan zusagen zu können, wenn ein Angebot hereinkommt, von dem sie sich ein Abenteuer verspricht. Sie sagt: „Ich gehe gerne an meine Grenzen und auch ein bisschen darüber hinaus.“

So wie im Sommer 1999. Damals war sie 30, sie hatte ihr Studium beendet und danach zweieinhalb Jahre in der Chirurgie und drei Monate in der Anästhesie gearbeitet, zudem einen Kurs in Tropenmedizin absolviert. Sie fuhr nach Köln zum Malteser Auslandsdienst, ließ sich von einigen Leuten interviewen, und schon war sie engagiert für ein Hilfsprojekt im Sudan. Ihre Aufgabe: im vom jahrelangen Bürgerkrieg gebeutelten Süden des Landes ein Buschkrankenhaus leiten.

Foto: privat

Der Einsatzort war Rumbek, eine total zerstörte Kleinstadt. Als sie dort zusammen mit einem Techniker aus Uganda ankam, fand sie sich in einer fremden Welt wieder. Überall Ruinen. Reste von Zivilisation, die zunehmend vom Busch zurückerobert wurden. Kühnes Unterkunft war eine runde Bambus-Grashütte, die sie sich mit Ratten und Skorpionen teilte. Das Hospital war in weißen Zelten untergebracht, doch zu Kühnes Entsetzen war es noch gar nicht in Betrieb. Es gab Kartons voller Medikamente und in einem riesigen Container rund 80 Kisten, in denen sich die Einzelteile für ein Narkosegerät und allerhand OP-Instrumente befanden. In Köln hatte man ihr erzählt, sie solle die medizinische Basisversorgung von Menschen in Notlagen koordinieren. Alles sei vorbereitet, ein einheimischer Chirurg einsatzbereit. Doch stattdessen musste sie jetzt Aufbauarbeit leisten: einen Operationsplatz einrichten und Einheimische zu Pflegepersonal ausbilden. Unterstützt wurde sie von einem sogenannten Medical Officer aus Kenia, der über gewisse Fachkenntnisse verfügte, aber kein Chirurg war. Kühne musste also auch bei Operationen selbst ran.

Die Chirurgin hat über ihre Auslandseinsätze ein Buch geschrieben, und beim Besuch in Bischberg erzählt sie so anschaulich von ihren Erlebnissen, dass man merkt, wie sehr sie davon zehrt. Es gab viele bewegende, aber auch schreckliche Momente. Einer der schlimmsten war, als sie zwischen dem Leben einer jungen schwangeren Frau und dem ihres Kindes entscheiden musste. Dessen Kopf ragte zu einem Drittel aus der Vagina heraus, aber es war fraglich, ob es überhaupt noch lebte. Die Mutter war bereits bewusstlos, der Puls sehr schwach. „Ein normaler Kaiserschnitt war unter den Bedingungen nicht möglich“, sagt Kühne. Eine schnelle Entscheidung habe hergemusst, darum habe sie die Schädeldecke des Kindes zerstört und es herausgezerrt, still hoffend, dass es schon vorher tot war. „Ich konnte die Mutter auf diese Weise retten, aber ich werde nie vergessen, wie sie nach dem Aufwachen zum Ausdruck brachte, dass sie ihr Baby stillen wolle.“

Acht Monate blieb Kühne im Sudan, sie glaubt heute, dass sie hinterher unter einer traumatischen Belastungsstörung litt, aber die Erfahrungen, die sie dort machte, hielten sie nicht von weiteren Einsätzen in Krisenregionen ab. Im Jahr 2000 war sie mit einer Entwicklungshilfe-Organisation in Papua-Neuguinea, zwischen 2007 und 2009 mehrfach mit der Bundeswehr in Afghanistan, 2010 mit einer NGO in Haiti, 2015 und 2017 wieder mit der Bundeswehr in Mali. „Ruhe ist auf Dauer nichts für meine Frau“, sagt ihr Ehemann Hubertus Kühne, „die braucht das Abenteuer.“

Foto: privat

Im Jahr 2008 in Afghanistan: Bei Einsätzen mit der Bundeswehr trägt die Ärztin Uniform und Waffen

„Ich will das echte Leben spüren“, sagt Vera Kühne selbst.

Eine Zeit lang kehrte sie nach ihren Trips immer wieder in die Festanstellung zurück – allein schon, weil sie sich unbedingt zur Fachärztin für Chirurgie qualifizieren wollte und sie dafür mindestens sechs Klinikjahre und einen festgelegten Katalog von Operationen vorweisen musste. Immer wieder hat sie versucht, ihren Erlebnishunger mit ihrem Job in Einklang zu bringen, indem sie ihren Chefs diverse Teilzeit-Modelle vorschlug. Vergeblich. „Überall verlangte man von mir, dass ich mich mit Haut und Haaren der Krankenhaus-Karriere verschreibe.“ Die Folge: Sie blieb zumeist nicht mal ein ganzes Jahr.

Viele Mediziner klagen über hohen Zeitdruck und permanente Überlastung. Mehrere Tausend gingen Anfang Februar aus Protest auf die Straße. Die Unzufriedenheit ist so groß, dass laut einer Mitgliederbefragung der Ärztegewerkschaft Marburger Bund jeder fünfte Klinikarzt darüber nachdenkt, den Beruf aufzugeben. Vera Kühne sagt, dass sie gern viel arbeite. Aber die permanente Hektik wollte sie nicht mehr hinnehmen. Als unerträglich empfand sie es, dass sie ständig Verabredungen mit Freunden, Familienfeiern oder Urlaubsreisen in letzter Minute absagen musste, weil es in der Klinik mal wieder zu einem personellen Engpass gekommen war. „Wenn ich in der Klinik-Tretmühle steckte“, sagt sie, „war es, als rase das Leben an mir vorbei.“

Im Jahr 2006 kulminierte ihr Frust. Damals war sie in der Abteilung für Lungenchirurgie einer Klinik in Oberfranken angestellt, als sogenannte Funktions-Oberärztin. Hieß: Sie hatte die Aufgaben und die Verantwortung einer Oberärztin, wurde aber nicht dementsprechend bezahlt. Eines Tages riet sie einem Patienten, einem Mann jenseits der 80 mit fortgeschrittenem Lungenkrebs, auf eine Operation zu verzichten. „Die Chance, dass er nach dem Eingriff die Intensivstation noch mal verlassen könnte, war nicht groß“, sagt Kühne. In einem persönlichen Gespräch habe sie ihn gefragt, was ihm am Herzen liege. Seine Antwort: Dabei zu sein, wenn in drei Monaten seine Enkelin eingeschult werde, das sei das Einzige, was er sich vom Leben noch wünsche. Sie habe ihm Hoffnung gemacht, sei dann aber mit ihrem Vorgesetzten aneinandergeraten. „Der vertrat die Auffassung, dass Nichtstun keine Option sei“, sagt sie. Letztlich sei der Mann operiert worden und wenige Monate später in der Klinik gestorben. „Die Einschulung hat er verpasst.“

Kein Sozialleben, keine Selbstbestimmung und dann auch noch Zweifel am Sinn ihres Tuns – all das kam zusammen, als Kühne den Entschluss fasste, fortan als unabhängige Honorarärztin ihr Geld zu verdienen. Dass der Leiter der Lungenchirurgie ihr anbot, sie auch formal zur Oberärztin zu befördern, konnte sie nicht umstimmen.

An Aufträgen hat es ihr seitdem nie gemangelt. Eine ihrer Lieblingsdisziplinen wurde die Notfallmedizin. Seit ihrer Zeit im Sudan weiß sie, dass sie gut darin ist, in hektischen Situationen die Ruhe zu bewahren, abzuwägen und Entscheidungen zu treffen. „Man merkte ihr die Erfahrung in Krisenregionen an. Das ist keine Ärztin, die man anweisen muss. Die packt sofort an“, sagt Martin Stapper. Er war administrativer Leiter des Krankenhauses St. Josef in Schweinfurt, als Kühne dort als Honorarärztin engagiert war.

Im Jahr 2015 wurde Stapper von der Gemeinde gebeten, die in großer Zahl ankommenden Flüchtlinge in der Erstaufnahmeeinrichtung in Schweinfurt ärztlich zu betreuen. Er schlug Vera Kühne für diese Aufgabe vor, und die freute sich mal wieder über eine neue Erfahrung, auch wenn sie manchmal mehr als 200 Menschen am Tag untersuchen musste. „Ich bin ein Typ für den Ausnahmezustand“, sagt sie.

Dass ihr Einkommen unter dem liegt, was bei einer Krankenhaus-Karriere möglich gewesen wäre, stört sie nicht. Im Schnitt verdient sie 60 bis 70 Euro die Stunde, bei ihrem Pensum, das mindestens einem Vollzeitjob entspreche, reiche ihr das. Zumal sie auf Materielles nicht viel Wert legt. Sie hat kein teures Auto, keine Design-Möbel und geht im Urlaub lieber campen als ins Hotel.

Vielmehr treibt sie um, was sie tun kann, um ihre Ansprüche an ein abwechslungsreiches Leben noch besser unter einen Hut zu bringen. Ihr Ziel sei es, so viel am Block zu arbeiten, dass sie jeden Monat eine ganze Woche am Stück frei hat. „Dann habe ich mehr Zeit für meine Freunde.“

Abhängigkeiten sind ihr ein Graus, darum passten auch weder Kinder noch Haustiere noch eine eigene Praxis mit Mitarbeitern in ihr Leben. Ihr Mann hingegen steht ihrem Erlebnishunger nicht im Weg. Seit Anfang dieses Jahres ist er pensioniert, und Vera Kühne plant schon, dass sie sich gemeinsam in Entwicklungsprojekten engagieren, er als Logistiker und sie als Ärztin. Nichts, sagt sie, fürchte sie mehr, als „eingelullt zu werden vom bequemen Alltag“. ---

Selbstständige Honorarärzte

Geschätzte Zahl in Deutschland: zwischen 1500 und 6000, hauptberuflich und nebenberuflich
Verdienst je nach Tätigkeit: zwischen 36 und 90 Euro pro Stunde

Motive für die Freiberuflichkeit, in Prozent (Mehrfachnennungen möglich):

Autonome Zeitgestaltung: 47
Gefühl von Unabhängigkeit: 39
Abwechslung im Berufsalltag: 16
Höhere Wertschätzung: 15
Entlastung von administrativen Aufgaben: 14
Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf: 10
Hauptfokus Zuverdienst: 4

Quelle: Bundesverband der Honorarärzte

Problem Scheinselbstständigkeit

Bis zum Sommer vergangenen Jahres haben Krankenhäuser neben fest angestellten gern auch selbstständige Ärzte als freie Mitarbeiter eingesetzt. Doch aus Angst vor Strafen nehmen sie davon Abstand, seit das Bundessozialgericht nach einer Prüfung urteilte, dass in Krankenhäusern tätige Honorarärzte nicht als Selbstständige anzusehen sind, sondern als abhängig Beschäftigte.

Eigentlich soll das Vorgehen gegen Scheinselbstständigkeit die Arbeitnehmer schützen. Doch die Ärzte, die flexibel bleiben wollen und sich daher bewusst nicht anstellen lassen, fühlen sich durch das Urteil eher gegängelt.

Angestellte Klinikärzte

Zahl der hauptamtlich tätigen Klinikärzte in Deutschland: 186.000
49 bis 59 Arbeitsstunden pro Woche: 41 Prozent
60 bis 80 Arbeitsstunden pro Woche: 22 Prozent
Weniger als 49 Arbeitsstunden pro Woche: 36 Prozent
Durchschnittliche Überstunden pro Woche: 6,7
Klinikärzte, die glauben, dass die Arbeitszeiten ihre Gesundheit beeinträchtigen: 74 Prozent
Klinikärzte, die sagen, dass sie häufig überlastet seien: 49 Prozent
Klinikärzte, die angeben, ständig über ihre Grenzen zu gehen: 10 Prozent

Quelle: Marburger Bund, Mitgliederbefragung MB-Monitor 2019