Die neue Qualität

Jeder will etwas Gutes haben. Dazu muss sich in der Wissensgesellschaft aber die Mitarbeit aller verbessern.





• Übrigens, bevor es losgeht, gleich zu Beginn mal eine Frage: Wer kennt die Zeile:

Bestimmt viele, oder?

Denn mit dieser Phrase beginnen gefühlte 90 Prozent aller Kundenrezensionen auf Amazon und anderen Verkaufskanälen. Sie ist die Startfrage in unzähligen Blogs und Texten engagierter Nachwuchsschreiber. Man kann im Grunde genommen Wer kennt das nicht? nicht nicht kennen. Und das ist nicht nur der allgemeinen Nivellierung der Sprache geschuldet, sondern auch dem Gegenstand, der durch diese Einstiegsfloskel erschlossen werden soll. Denn Wer kennt das nicht? ist der Auftakt zu all den Alltagsdramen, die heute die Medien füllen, etwa den Geschichten, die erzählen, wie man mit einem Smartphone, das zu hundert Prozent geladen ist, noch nicht mal über den halben Tag kommt. Oder wie man am Flughafen feststellt, dass die Airline, bei der man gebucht hat, wieder mal das Handgepäck nicht mitnehmen will.

Ja, wer kennt das nicht, wenn beim neuen Auto der Rücksitz, der in der Werbung so supereinfach bei Bedarf umgeklappt werden konnte, stur klemmt, bis irgendwas kracht und reißt? Wer kennt das nicht, wenn er in einem Intercity der Deutschen Bahn aussteigen will, es aber nicht kann, weil wieder mal die Tür blockiert? Wer kennt das nicht, wenn das letzte Update den Computer oder das Handy lahmlegt?

Scheißqualität sagt man nicht.
Die hat man schon.

Wer kennt das nicht, wenn man heute etwas kauft, das immer erst dann den Geist aufgibt, wenn die Garantiezeit gerade abgelaufen ist?

Wer kennt das nicht, dass Sachen und Dienstleistungen nachlassen, dünnwandiger, fehleranfälliger werden und dabei irgendwie nach billigem Kunststoff riechen?

Mal ehrlich: Scheißqualität, das sagt man nicht. Muss man auch nicht, denn sie ist sowieso allgegenwärtig.

Man kann sich, wie das in der entwickelten Konsumgesellschaft schon seit Jahrzehnten erfolglos geschieht, darüber beklagen oder sich fragen, wie man daran arbeitet, diese schreckliche Phrase wieder loszuwerden.

Und klar: Es gibt sie noch, die guten Dinge, wie der Werbeslogan des Handelsunternehmens Manufactum lautet. Aber es sagt einiges über den allgemeinen Zustand der Qualität aus, wenn man schon vor 31 Jahren, als der ehemalige Grünen-Politiker Thomas Hoof den Laden gründete, damit etwas Besonderes war.

Und sicher diskutiert man – mit unterschiedlicher Intensität – immer wieder mal über eine bessere Qualität von Lebensmitteln, über langlebigere Produkte. Aber viel mehr als ein neues Modewort ist bei alldem nicht herausgekommen: nachhaltiger Konsum. Ein Wort, das nach eingeschlafenen Füßen klingt, und so gehen die meisten Menschen damit auch um. Es macht schlechte Laune.

Woran das liegt? Vielleicht daran, dass die Menschen nicht so sind, wie sie sein sollen. Im Grunde genommen lässt sich die Qualitätsfrage ideal in dem alten Witz zusammenfassen, bei dem zwei ältere Damen auf der Veranda einer Frühstückspension sitzen, die sie seit drei Jahrzehnten jeden Sommer besuchen. Es regnet, sie sind in Decken eingemummelt und haben schlechte Laune. „Es ist immer kalt hier“, sagt die eine, und die andere ergänzt: „Und das Essen ist so schlecht!“ „Ja!“, ruft ihre Freundin, „und immer so kleine Portionen!“

Das ist der Sound der Konsumgesellschaft, ihr Grund- und Kammerton.

Da fährt man 30 Jahre lang in ein verregnetes Kaff, das einem eigentlich gar nicht gefällt, aber was soll man machen, und vom schlechten Essen gibt’s auch nie genug. Genau das ist es, was sich die meisten Leute heute bestellen. Viel von etwas, das ihnen nicht schmeckt, Ramsch, aber den bitte in rauen Mengen. Und immer noch mehr, sonst könnte man ja zu kurz kommen.

Keine Sorge, das hier artet nicht in jene Sorte wohlfeiler Konsumkritik aus, die einem heute überall entgegenquillt und bei der behauptet wird, man könne das Problem eben nur durch Konsumverbote lösen. Weniger ist mehr und so. Das klappt aber nicht.

Wir müssen erst mal sehen, woher der Tick mit der Menge denn kommt. Aus langer Mangelwirtschaft natürlich, die erst seit einigen Jahrzehnten überwunden ist, aber die Menschen und ihre Kulturen tief geprägt hat.

Noch feiner eingestellt sehen wir unter dem Qualitätsmikroskop die Industriegesellschaft, das Zeitalter der reinen Quantität, in der sich Güte und Menge immer ähnlicher wurden. Die Konsumgesellschaft besteht in ihrem Kern aus einer einfachen Forderung: viel für möglichst viele. Selbst wenn es schlecht ist, wir haben ein Recht darauf, möglichst viel und möglichst oft von dem Mist etwas abzubekommen.

So definieren wir Teilhabe. Damit legitimieren sich politische Parteien und Interessensgruppen seit Langem. Sie haben nie und niemandem einen Rosengarten versprochen. Die Politik hat Qualität immer nur als Quantität interpretiert.

Es kommt aber drauf an, selbst zu verstehen, was gut und richtig für einen ist. Und das auch klar zu fordern und zu definieren. Der Qualitätsbegriff in der Wissensgesellschaft kommt ohne die aktive Mitwirkung des Kunden nicht aus. Der Kunde ist König? Das ist ja super. Aber es wäre schon gut, wenn man ihn zum Kooperationspartner machte. Gute Qualität ist das Ergebnis einer Beziehung, bei der nicht die eine Seite ständig der anderen sagt, was gut für sie ist.

Gute Qualität ist das Ergebnis einer Beziehung, bei der nicht die eine Seite ständig der anderen sagt, was gut für sie ist. 

Das markiert den Unterschied zwischen der Industrie- und der Wissensgesellschaft. Qualität in der Wissensgesellschaft, der Preis dafür, der Wert und ihr Nutzen sind weithin unbekannte Größen, obwohl wir alle täglich tiefer in die Welt der Wissensökonomie vordringen. Wir denken in Quantitäten, aber das genügt hinten und vorne nicht mehr. Und selbst dort, wo uns bewusst ist, dass mehr vom Gleichen oder noch mehr Kram uns nicht fröhlicher macht, fällt uns nichts Besseres ein als Verzicht, Verbot und Reduktion. Das ist ziemlich jämmerlich, insbesondere dann, wenn man sich sonst rühmt, mit Wissen und Innovationsfähigkeit sein Geld zu verdienen. Nichts, liebe Freunde, ist keine Qualität. Nichts ist einfach nur nichts.

Eigentlich ist das klar. Allmählich dämmert es den meisten, dass die Antwort auf die Konsumgepflogenheiten der Massengesellschaft nicht darin liegen kann, diese einfach nur ersatzlos zu streichen, sondern dass man sich etwas Besseres ausdenken muss. Es geht darum, die alten Damen auf der Veranda glücklich zu machen. Das wird kaum klappen, indem man ihnen das schlechte Essen wegnimmt und nur den Regen lässt. Das Zeitgeistspielchen namens Materialismus vs. Postmaterialismus, es versagt auch hier. Man braucht beides. Bessere Produkte sind die mit besseren Ideen, und Ideen sind Wissensarbeit.

Wer wüsste das nicht?

Nun ist es so, dass alles, was wir über Qualität wissen, aus der Welt des Materiellen stammt. Wir haben nur wenige und auf den ersten Blick kaum zuverlässige Vorstellungen von einer Qualität, die in die Wissensgesellschaft passt. Die Welt der Qualität, wie wir sie kennen, ist eine, die aus industriellen Standards und DIN-Normen besteht.

Diese Qualitäten beschreiben vorwiegend physische und mechanische Eigenschaften, die sich wiederum in Daten und Mengen ausdrücken lassen. Da muss ein Stahl eine bestimmte Bruchfestigkeit haben. Ein Schalter muss sich beispielsweise wenigstens 15 000-mal betätigen lassen, bevor er ausfällt. Dieser Qualitätsbegriff entspricht ganz dem Sinn des alten lateinischen Wortes qualitas. Das bedeutet so viel wie Beschaffenheit, Zustand, Merkmal oder Eigenschaft. Hier erkennt man im Grunde gleich, worum es geht: um Sicherheit und Zuverlässigkeit, Berechenbarkeit. Qualität muss man berechnen können, und das ist gleichsam das Kernthema der Industriegesellschaft. Wie man Stähle und Werkstoffe normieren, exakt bestimmen und berechenbar machen kann, so muss auch der Mensch, der diese Werkstoffe nutzt, berechenbar gemacht werden.

Die industriellen Normen und Standards enden nicht an der Werkbank. Sie sind nicht bloß dafür gemacht, dass sie ein Material berechenbar und kontrollierbar machen. Sie sind für eine Welt geschaffen, in der dasselbe auch mit den Menschen, die das Material benutzen, geschehen muss, sonst hat der Aufwand keinen Sinn.

Dass Schulen und Ausbildungsstätten im Industrialismus wurden, was sie sind – nämlich Bildungsfabriken, deren Inhalte so beliebig skalierbar sein sollen wie die Menschen, denen sie eingetrichtert werden –, ist kein Betriebsunfall, sondern eine logische Entwicklung.

Auch hier gilt: Weglassen ist keine Lösung. Nur Differenzierung hilft weiter. Es ist eine gute Sache, dass wir normierte Werkstoffe haben, sichere Fahrstühle und Reifen, die nicht gleich platzen, wenn man sie zu lange anguckt. Nichts gegen die DIN-Normen. Nichts gegen die Technischen Überwachungsvereine.

Sie sind sicher nicht verantwortlich dafür, dass sich diese Gesellschaft mit individueller, kreativer Wissensarbeit so schwertut. Man sollte nur die Kirche im Dorf lassen – das heißt, die industrielle Qualität, die auf Berechenbarkeit beruht, nicht mit persönlicher Qualität verwechseln, die die Grundlage der Wissensökonomie ist. Solange das klar ist, kann eigentlich nichts schiefgehen. Doch es läuft eben nicht so.

Exzellente Qualität ist keine Stangenware, sondern das Ergebnis persönlichen Einsatzes.

Da werden, nicht nur an Schulen und Universitäten, Qualitätskriterien für Exzellenz entwickelt, die nichts weiter sind als die alten Industriestandards. Sie taugen zur Massenproduktion, aber nicht zu dem, was sie vorgeben: Exzellenz bedeutet, ganz besonders bei der Qualität, eben nicht das besonders gekonnte Organisieren von intellektueller Stangenware, sondern die Entwicklung von Innovationsfähigkeit – und die liegt nicht im Nachahmen und Standardisieren, sondern im Abweichen von der Norm, im Individuellen. Das lateinische excellens heißt auf Deutsch „hervorragend“. Man muss das wörtlich nehmen. Und dann? Wenn in einer Fabrik etwas hervorragt, wird es in der Regel aussortiert, weil es nicht passt.

Nun geht es bei den Exzellenz-Universitäten natürlich in erster Linie um mehr Knete vom Staat, die es dafür gibt, dass man in bestimmten Fächern die Norm erfüllt, und es geht, seit es diesen Prozess gibt, um das Gezänk zwischen Politikern, die ihre Universität gern bevorzugen würden.

Mit der Entwicklung von Wissen und Kreativität hat das nichts zu tun. Es setzt auf eine industrielle Qualitätsvorstellung, die in Deutschland stets konkurrenzlos war: die A-priori-Qualität. A priori bedeutet so viel wie „von Haus aus“, „von vornherein“ oder „vom Früheren her“. Qualität ist also, was als Qualität definiert ist, was man messen, verwalten und managen kann. Man ist gut oder schlau, weil man den bestehenden Kriterien von gut und schlau entspricht. Nicht schlau ist demnach alles, was nicht dieser Norm entspricht.

Man könnte die Anwendung der A-priori-Qualität, die sich in der Bildung und in der Industrie verfestigt hat, geradezu als Qualitätsnorm dafür festlegen, dass Entwicklung und Innovation nicht stattfinden. In Zeiten der Irritation, die die Transformation mit sich bringt, merkt man, wie sich die meisten Leute auf die alte A-priori-Qualität stürzen. Dann wird viel über die Notwendigkeit der Veränderung geredet, aber es geht nichts voran. Wie auch? Die A-priori-Qualität bestimmt ja nicht nur die Güte und Beschaffenheit von Material, sondern auch Meinungen, Kultur, Moral.

Das klingt esoterisch, ist aber eine ganz nüchtern weltliche Angelegenheit. 

Aber gibt es dazu Alternativen? Die Killerphrase dazu – wie auch zu jeder Forderung nach mehr Individualität – ist ja die, dass jede andere Qualität subjektiv wäre, persönlich, da könnte ja jede und jeder kommen.

Ja, stimmt genau. Da haben die alten industriellen Verwaltungsdickschädel ausnahmsweise mal recht, wenngleich ohne jede Absicht, also rein zufällig. Tatsächlich geht es in einer differenzierten Welt der Vielfalt um subjektive Qualitäten.

Das war früher schon mal so. Man nannte das Geschmack. Darunter verstand man vor den Zeiten der industriellen Durchnormierung eine persönliche Angelegenheit, das, woran man Menschen erkannte. Das war eine Reihe von unterscheidbaren Eigenheiten, subjektiven Eindrücken, Bedürfnissen und Forderungen an etwas, ganz gleich, ob in materieller oder immaterieller Hinsicht. Wer Geschmack hatte, legte seine Qualitätsstandards offen. Sie waren, kurz gesagt, die Summe der Entscheidungen einer Person, das, was sie unter Qualität verstand.

Denken wir nicht an Produkte, sondern an Ideen, den Rohstoff der Wissensgesellschaft, dann wird die Sache weit konkreter.

Jeder versteht gleich, dass eine individuelle Beratung besser ist als eine von der Stange, die nur so tut, als sei sie für den gemacht, der sie braucht. In Sachen Service und Dienstleistung etwa kann man sich relativ leicht darauf einigen, was richtig schlechte Qualität ist – nämlich dass die Dienstleister gar nicht auf individuelle Wünsche des Kunden eingehen, sondern nur stur ihr Programm abspulen.

Hier zeigen sich die Grenzen der A-priori-Qualität seit Jahren deutlich. Es genügt eben nicht, ein Produkt zuverlässig und sicher zu machen – auch wenn selbst das mittlerweile längst nicht mehr die Regel ist. Es braucht mehr: das, was der vor zweieinhalb Jahren verstorbene amerikanische Wirtschaftswissenschaftler David A. Garvin die „transzendente Qualität“ nannte. Das klingt esoterisch, ist aber eine ganz nüchtern weltliche Angelegenheit. Die transzendente Qualität beschreibt die Qualität, wie sie in den Augen des Betrachters, des Kunden, des Nutzers entsteht.

Ein iPhone besteht aus hochwertigen Einzelkomponenten, die von Markenherstellern aus aller Welt zugeliefert werden. Das ist sozusagen die A-priori-Qualitätsplattform. Sie ist kopierbar. Aber die Benutzer des Produkts erkennen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Es ist ihre Beziehung zu dem Ding, das ihm seine Aura verleiht. Diese Beziehungsqualität ist nicht messbar, sie besteht nicht aus Daten, aus Zahlen, aus Material, sie ist nicht in Excel-Tabellen zu übertragen oder kalkulierbar. Sie ist eine persönliche Konstruktion von Qualität, die umso stärker ist, je mehr sie vom Kunden – vom Partner –mitgetragen wird.

Diese Beziehungsqualität folgt nicht den sturen Regeln aus Tabellen und Normblättern, sie gehört in das Reich der Netzwerkökonomie. Dort entwickeln sich Qualitäten situativ, so wie man sie jeweils benötigt. Ich brauche gerade die Lösung dieses Problems. Die Antwort auf diese Frage. Ziemlich unberechenbar ist das. Persönlich eben.

Deshalb gilt der transzendente Ansatz unter konservativen Managern als irrelevant – ein schwerer Fehler. Denn Garvins transzendente Qualität nimmt den Kunden, den Menschen, als Maßstab. Die transzendente Qualität ist heute schon lebenspraktischer als das Festklammern an den alten Normen. Klar, die werden wir weiter brauchen. Aber die neue Qualität ist vielschichtiger.

„Qualität ist ein Versprechen, aber sie wird immer stärker zur Orientierungshilfe.“

Markus Reimer 

Markus Reimer weiß noch eine ganze Menge mehr, wenn es um die neue Qualität geht. Seit Jahren ist der Berater aus Deggendorf bei Unternehmen aller Art unterwegs, um das neue Qualitätsbewusstsein zu schärfen – als Referent und Qualitätsauditor. Das sind Leute, die in Organisationen prüfen, ob dort die zahllosen DIN- und ISO-Normen zur Qualitätssicherung auch eingehalten werden. Diese Tätigkeit ist natürlich streng standardisiert und normiert und hat deshalb auch eine eigene ISO-Norm, die ISO 19011, mit der die Auditierung von Qualitätsmanagementsystemen, die berühmte ISO 9001, gecheckt wird. Allerdings heißt das nicht, dass Reimer nicht selbstkritisch mit seiner Branche ins Gericht ginge, weil sich, wie er sagt, „der Qualitätsbegriff in der Wissensgesellschaft völlig neu aufstellt. Es geht darum, das, was wir nicht messen können, in der Qualitätsfrage sichtbar zu machen.“

Das gehe nur, „indem man die Unterschiede betont, die ,Vorher-Nachher-Differenz‘ “, sagt Markus Reimer, nur sei die nicht mit konventionellen Methoden messbar. Mit Benchmarks komme man da nicht weiter. Es gehe eher um Eindrücke bei den Menschen, für die die Qualitätsverbesserung gemacht ist: „Qualität verstehen heißt, was gelernt zu haben.“

Ein klassisches Alltagsproblem dabei sei aber, so Reimer, das Festhalten an der Vorstellung von A-priori-Qualität: „Industrieunternehmen sehen nur die Produktqualität. Die sagen: Wir erfüllen das ganz exakt, und damit ist es gut.“ In der alten Qualitätskultur war das auch genug. Man hatte ein messbares Versprechen gemacht, eine DIN-Norm eingehalten sowie Standards, die man als Kunde nachvollziehen konnte. Man hatte gemessen. Und wenn die Messung dem Prüfkatalog entsprach, dann galt der Kunde als zufrieden. Doch das, sagt Reimer, sei ein „Irrtum. Das ist einfach zu wenig.“

Das ist sogar amtlich: Seit 2015 hat die ISO 9001, die Mutter der Normen der Qualitätsmanagementsysteme, einen wichtigen Zusatz. „Es heißt nicht mehr: Der Kunde muss zufrieden sein, sondern: Interessierte Parteien müssen zufrieden sein“, so Reimer.

Diese Norm beschreibe schlicht das „größere System, in dem Qualität stattfindet“. Früher genügte es, wenn ein Autohersteller einen Wagen baute, den Herr Müller aus Wuppertal super fand. Doch längst misst sich die Qualität des Autos nicht mehr allein an der überschaubaren Beziehung von Produzent und Kunde. Was ist mit dem Schadstoffausstoß, der auch andere etwas angeht? Mit dem Klimawandel? Der passiven Sicherheit des Fahrzeugs, einer lebenssichernden Qualität für Dritte?

Die interessierten Parteien schießen, nicht nur bei Autos und Umweltthemen, seit Jahrzehnten aus dem Boden. Und fast jede neu hinzukommende definiert ein eigenes Problem – und damit auch die Qualitätsanforderungen neu. Die Regeln der Netzwerke, die die Wissensgesellschaft so maßgeblich gestalten, lassen statische Qualitäten – also die im Management nach wie vor als einzige berechenbare Option gehandelte A-priori-Qualität – immer seltener als einzige Antwort zu.

Die unberechenbare Qualität, die es nicht geben darf, weil man sie im Management nicht handhaben kann, sie ist längst da. Und sie sorgt für massive Irritationen in den Unternehmen. Doch ein Zurück in die alte Welt der A-priori-Qualität gibt es nicht. Denn wenn auch die vorhandenen Normen und Qualitäten nicht verschwinden – sie allein taugen nicht mehr, um die Beziehungen zwischen Anbietern und ihren Märkten zu regeln, die weit über die Zahl der Kunden und potenziellen Kunden hinausgehen.

„Qualität ist ein Versprechen, das weiß man, aber sie wird immer stärker zur Orientierungshilfe in der Komplexität“, sagt Reimer.

Wem traue ich zu, die Dinge besser zu machen? In der Industriegesellschaft war das Nachdenken über Qualität Pflicht, und zu ihr kommt jetzt, in der Wissensgesellschaft, die Kür.

Viele in den Audits seien überrascht, so Markus Reimer, wenn er zeige, wie wichtig die neue Dimension der Qualität wirklich ist, die intensiven Austausch zwischen den interessierten Parteien verlangt. Im Gegensatz zur A-priori-Qualität ist die transzendente Qualität nicht ein für alle Mal festschreibbar. Sie hat keine Norm, keine engen Standards.

Das schafft Unsicherheit, zumal in Branchen, die stets auf exaktes Messen und Wägen ausgerichtet waren. Es sei schon mal gut, sagt Reimer, wenn man die alte und neue Qualität nicht gegeneinanderstelle, sondern als Ergänzung verstehe. Er predigt deshalb die Öffnung des Qualitätshorizonts für die Wissensökonomie: „Qualität braucht viele Mess- und Bewertungsperspektiven“, sagt er.

Qualität ist mehrdeutig.

Allein das ist schon ein ziemlicher Sprung zu den gängigen Vorstellungen, geradezu transzendent, was ja so viel bedeutet wie jenseits der Erfahrung liegend oder grenzüberschreitend.

Das ist mehr als das Befolgen einer Norm. Erkenntnis heißt: Verstehen.

Zu dieser Grenzüberschreitung gehören mindestens zwei – die, die bereit sind, über den Tellerrand der alten Normen zu denken, und die, für die man das macht. Wissensökonomie setzt auf Personalisierung. Und das heißt manchmal auch: Man muss einiges ganz persönlich nehmen.

Ohne diese Einsicht werde sich ein neues Qualitätsverständnis nicht so einfach entwickeln, sagt der Ökonom Birger Priddat. An der zentralen Wissensdienstleistung unserer Tage, der Beratung, kann man das gut erkennen. „Daran herrscht kein Mangel, Beratung gibt’s an jeder Ecke“, sagt der Professor der Universität Witten/Herdecke. Man kann sich zu Rechtsfragen und Steuerangelegenheiten, zu IT und Big Data und jeder anderen Materie in einer komplexen Welt beraten lassen. Die Qualität einer Beratung bemisst sich nicht allein an der Vermittlung von Regeln und Normen, Paragrafen und Vorschriften.

Die Frage ist ja: Was hat das mit mir, mit uns und mit unserem konkreten Problem zu tun? Eine gute Qualität von Wissensarbeit geht aber noch einen Schritt weiter. Sie ist immer auch „Beratung über die Beratung“, wie Priddat sagt, eine Aufklärung für Suchende, was Wissen zu leisten imstande ist.

„Die Qualität eines Beraters – eines typischen Wissensarbeiters – misst sich an dem Erkennen, welches Problem der Kunde hat. Und das ist es, was der Auftraggeber an Wissensleistung erwarten darf: die Darlegung des Problems, das er hat. Dazu muss sich aber auch der Kunde auf Prozesse einlassen, die jenseits dessen liegen, was er kennt – und über die üblichen Routinen hinausgehen. Ich muss wissen wollen, in welcher Lage ich stecke. Sonst ist das alles wenig wert“, sagt Priddat. „Man muss verstehen wollen, was man noch nicht versteht, um zu wissen, was man weiß.“

Das ist kein kokettes Wortspiel, sondern bitterer Ernst. Die zentrale Qualität der Wissensgesellschaft ist Erkenntnis. Das ist mehr als das Befolgen einer Norm. Erkenntnis heißt: verstehen.

Wissensqualität schafft Zugänge, weil sie sichtbar –und verstehbar – macht, was bis dahin nicht gesehen wurde. Sie nimmt nicht nur Erfahrungen ernst. Sie möchte neue machen. Wissensqualität bringt alle Beteiligten auf eigene Ideen. Sie durchbricht den Teufelskreis des Weiter-So. Wissensqualität besteht nicht aus toten Zahlen, sondern aus quicklebendigen Ergebnissen.

Das gehe weiter als die „Inszenierung von Beratungsqualität“, so Priddat, die heute vielfach geboten werde – und bei der die Wissensarbeiter in aus der Beratung „oft nur längst getroffene Entscheidungen des Managements legitimieren sollen“.

Das gehört zu einer Industrie, die versucht, höchst unterschiedlichen Problemen mit den immer gleichen Standardantworten beizukommen. Um die Qualität zu verbessern, müsse man die Regeln ändern – und persönlich werden, sagt Priddat. Dazu seien auch weniger angenehme Fragen nötig. „Warum sind eigentlich die ganz oben im Management, die, die den Beratungsauftrag geben, die Neutralen?“, fragt er. Konsequent wäre etwas anderes: „Zweifelsohne muss man auch ein Beratungsergebnis akzeptieren, in dem es heißt: Wir haben ein Problem in der Führung, im Management.“ Dort, wo die Aufträge gegeben werden.

Das ist nicht wenig verlangt. Aber wer es ernst meint, weiß, dass es auf das Neue keine Garantien gibt. Dazu braucht es Souveränität. Und andere Fragen vielleicht.

Mal weniger das lakonische, hoffnungslose Wer kennt das nicht?

Sondern ein mutiges: Wer kann das? ---