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Sipgate

Das Telekommunikationsunternehmen Sipgate könnte eine ziemlich langweilige Firma sein. Doch sie ist so innovativ wie wenige andere.




• Manchmal geht es um Tomaten oder um Wein. Auch Achterbahnen standen schon auf dem Konferenzplan. Genauer gesagt deren Konstruktion. Die ist nämlich immer doppelt und dreifach abgesichert. Ein Mitarbeiter und Freizeitpark-Fan erzählte seinen Kollegen von den strengen Vorkehrungen. Abseitig? Zeitverschwendung? Nur auf den ersten Blick.

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Wer ist hier Navigator, wer Driver? Die Firmenchefs Tim Mois und Thilo Salmon

Bei Sipgate, einem Anbieter für Internet-Telefonie, ist der Blick über den Tellerrand Pflicht. In den hellen, loftartigen Räumen einer ehemaligen Druckerei nahe des Düsseldorfer Medienhafens arbeiten 130 Mitarbeiter. Die Büros haben Glaswände, es gibt eine Bibliothek und statt einer Kantine ein schickes Restaurant mit Designerstühlen und einer Mittagskarte, auf der nicht Klopse, sondern japanische Spaghetti stehen. Abends wird eine Event-Location daraus. Rockstars wie Bruce Dickinson von Iron Maiden haben hier schon Vorträge gehalten. Ende September war Bela B. von den Ärzten da.

Dabei ist Sipgate nicht gerade dazu prädestiniert, eine besonders aufregende Firma zu sein. Internet-Telefonie oder Voice over IP (VoIP) mag für manchen ein spannendes Thema sein, die meisten Menschen haut es aber eher nicht vom Hocker. Sipgate ist weder Facebook noch Snapchat; die Art, wie wir kommunizieren, wird nicht in Düsseldorf revolutioniert. Die Firma bietet Festnetz- und Mobilfunkprodukte für Geschäfts- und Privatkunden an. Im Tagesgeschäft geht es zum Beispiel um komfortablere Telefonkonferenzen und um bessere Anwendungen für Vertriebler.

In den Anfangsjahren war Sipgate auch einmal jung und wild. Das Unternehmen war 2004 der erste Anbieter von Internet-Telefonie auf dem deutschen Markt. Tim Mois und Thilo Salmon, die die Firma bis heute führen, hatten sich in einem Düsseldorfer Studentenwohnheim kennengelernt. 1998, als der deutsche Telekommunikationsmarkt vollständig liberalisiert war, gründeten sie den Tarifvergleich Billiger-telefonieren.de, danach Sipgate. 2004 hatte die Firma 17 Mitarbeiter, funktionierte per Zuruf über den Schreibtisch und hatte innerhalb von drei Monaten ein eigenes virtuelles Telefonnetz aufgebaut. Die ersten Nutzer waren begeistert von der neuen Technik.

Heute ist Internet-Telefonie Standard. Und aus dem einstigen Start-up ist ein etabliertes Unternehmen mit Hunderttausenden Kunden geworden, das dieses Jahr voraussichtlich 25 Millionen Euro umsetzen wird. Nach eigenen Angaben war Sipgate von Anfang an profitabel, Geld von Investoren gab es nicht. Dabei ist das Umfeld nicht gerade friedlich. „Die Telefonie ist ein hochkompetitiver Markt, sowohl im Business- als auch im Endkundenbereich“, sagt Professor Jan Krämer vom Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik an der Universität Passau. „Dazu kommt, dass wir immer weniger telefonieren und zunehmend über andere Kanäle kommunizieren.“

Sipgate ist ein kleiner Fisch, steht aber mit einer Umsatzrendite von 9,7 Prozent laut Jahresabschluss 2016 solide da. Zu den Konkurrenten zählen neben Vodafone und der Deutschen Telekom auch Dutzende kleinere Anbieter. „Wir wollen einen anderen Mehrwert bieten, inhaltlich andere Produkte und immer wieder Neues wagen“, sagt Thilo Salmon.

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Immer offen für Neues: Beim Open Friday können die Mitarbeiter erzählen, was sie wollen

Eine Brücke findet sich immer

Wie gelingt das? Wie schafft man es, innovativ und beweglich zu bleiben? „Es gehört hier dazu, auch mal etwas zu tun, das nicht direkt mit dem eigenen Arbeitsbereich zu tun hat. Diese Impulse helfen, uns weiterzuentwickeln“, sagt der Mitarbeiter Stefan Lange-Hegermann. Er hatte die Idee zu jener Veranstaltung, bei der es auch mal um Tomaten und Wein geht, von einer Entwicklertagung mitgebracht. Seitdem findet im Unternehmen alle zwei Wochen der sogenannte Open Friday statt. Jeder Mitarbeiter kann bei dieser Spontankonferenz das thematisieren, was er an diesem Tag für wichtig hält. Die Kollegen suchen sich aus, an welchen Workshops sie teilnehmen möchten. Es gibt keinen Plan, der Tage vorher ausgehängt wird, sondern das Programm entsteht direkt, wenn die Redner ihre Themen vorstellen. Und dazu kann eben auch mal der Bau von Achterbahnen gehören. Aber was hat das mit Internet-Telefonie zu tun? „Sicherheit spielt auch in der Software-Entwicklung eine große Rolle“, sagt Lange-Hegermann. „Eigentlich lässt sich immer eine Brücke bauen.“ Auf der Tafel neben ihm hängen noch die Themen vom vergangenen Freitag. Auf den bunten Post-its geht es zum Beispiel um Programmiersprachen. Jemand will einen Film über das Elektrogeräte-Unternehmen Braun zeigen, ein anderer darüber reden, wie er nach der Geburt seines Kindes halbtags arbeiten kann. Die Teilnahme am Open Friday ist freiwillig, 2016 haben zwei Drittel der Mitarbeiter mindestens einen Workshop gestaltet. Auch Gäste sind eingeladen, etwas beizutragen.

Sie spielen bei Sipgate eine große Rolle. „Rund 10 000 Menschen haben uns in den vergangenen zwölf Monaten besucht“, sagt der Geschäftsführer Tim Mois. Darunter waren Teilnehmer von Entwickler-Meetings oder einem Augenärztekongress ebenso wie Konzertbesucher und Gäste, die zur „Nacht der Museen“ kamen, um die Kunstwerke an den Wänden zu betrachten. Zudem wollten sich zahllose Firmenvertreter inspirieren lassen. Sie kamen zum Beispiel von Lufthansa, der Deutschen Bahn oder von schwäbischen Maschinenbauern. „Wir waren früher eine sehr introvertierte Firma“, sagt Mois. Heute führt er viele Gäste selbst herum. Dabei geht es ihm nicht nur um Eigenwerbung: „Zu uns kommen Leute, bei denen ich sonst nur sehr schwer einen Termin bekäme. Wenn mir ein Bahnvorstand von seinen Problemen erzählt, lerne ich daraus natürlich viel.“

Ende-zu-Ende-Verantwortung

Mois geleitet seine Gäste auch am gläsernen Büro des sogenannten Zahlenteams vorbei. Für alle sichtbar hängen dort Diagramme an den Wänden. Zwei Mitarbeiter sind dafür zuständig, Unternehmenszahlen zu recherchieren und einmal im Monat einen 150-seitigen Report an alle Kollegen zu schicken. „Wenn wir die Leute ermutigen wollen, das ganze Unternehmen im Blick zu haben, müssen wir ihnen ja auch die Daten zur Verfügung stellen“, sagt Mois.

Verantwortung ist ein weiteres wichtiges Thema, seitdem Mois und Salmon ihre Firma 2010 auf den Kopf gestellt haben. Drei Jahre lang hatten sie zuvor daran gearbeitet, ein neues Produkt zu entwickeln: eine Telefonanlage im Netz für Geschäftskunden. „Es war ein wahnsinnig anstrengender Prozess, alles dauerte zu lange und funktionierte nur unter größten Mühen. Wir hatten ernsthaft Sorge, nie wieder ein Produkt liefern zu können“, sagt Mois. Dass die Entwicklung dann erfolgreich war, sei letztlich nur Glück gewesen.

Seitdem arbeitet Sipgate – wie viele andere Softwarefirmen – agil. Das Unternehmen setzt auf kurze Projektzyklen, ständiges Kundenfeedback und Eigenverantwortung der Mitarbeiter. Statt monatelang detaillierte Projektpläne abzuarbeiten, ist die Arbeit in überschaubare Etappen aufgeteilt. Schon kleine Neuerungen bekommen Kunden zum Test, bei Bedarf wird nachgebessert. Das Risiko, Produkte zu entwickeln, die am Markt vorbeigehen, wollen Mois und Salmon nicht mehr eingehen.

„Die Entscheidung, agil zu arbeiten, basiert darauf, anzuerkennen, dass die Welt komplex und unvorhersehbar ist“, sagt Ayelt Komus, Professor für Organisation und Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Koblenz. „Das ist auch ein emotionales Thema. Vor allem für den Firmenchef, der sagen muss: Ich habe das nicht im Detail im Griff.“ Tim Mois wirkt so, als könne er mit diesem Eingeständnis ziemlich gut leben. Vieles, was in anderen Firmen Chefsache ist, erledigen in seiner Firma die Mitarbeiter. Ein Beispiel ist das Peer Recruiting. Die Geschäftsführer legen nur fest, wie viele Mitarbeiter die Firma in Zukunft haben soll. Den Bedarf zu erkennen ist Sache der Teams. Sie sichten zusammen mit der Personalabteilung die Bewerbungsunterlagen, laden Kandidaten ein und führen Bewerbungsgespräche – und wenn es nicht passt, müssen sie auch absagen. „Ende-zu-Ende-Verantwortung“ nennt Mois das.

„Das ist für beide Seiten sinnvoll“, sagt Marc Löhe, Entwickler bei Sipgate. „Auch als Bewerber kauft man nicht die Katze im Sack, sondern lernt gleich die Menschen kennen, mit denen man zusammenarbeiten wird.“ Als er vergangenen April von Kollegen eingestellt wurde, fand er das so überzeugend, dass er sich nun selbst an der Auswahl neuer Mitarbeiter beteiligt. „Natürlich war ich erst mal aufgeregt, als ich einen Bewerber anrief, um abzusagen. Das ist kein schönes Gefühl. Aber jemand muss die Verantwortung ja tragen.“

Auch an das Pairing musste Löhe sich gewöhnen: Entwickler programmieren immer zu zweit. Der sogenannte Driver sitzt an der Tastatur und schreibt den Code, der Navigator behält den Überblick. Er ist in der Regel derjenige, der sich besser auskennt mit dem Thema. Die Rollen wechseln häufig. „Am Anfang setzt einen das natürlich unter Druck. Aber es fühlt sich schnell organisch an. Die Eitelkeit legt sich, und man merkt, dass man wirklich jede Frage stellen kann und es nicht peinlich ist, etwas nicht zu wissen“, sagt Löhe. Bei Sipgate geht es viel darum, voneinander zu lernen. Die Doppelbesetzung soll auch dazu führen, Wissen auf möglichst viele Köpfe zu verteilen. Ist ein Mitarbeiter krank oder im Urlaub, können die anderen leichter ohne ihn weiterarbeiten.

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Nicht jeder ist dafür gemacht, sich beim Arbeiten über die Schulter gucken zu lassen oder ständige, auch kritische Rückmeldungen von Kunden und Kollegen zu bekommen. Agiles Arbeiten macht Unternehmen schneller und flexibler, stellt aber auch hohe Anforderungen. Im Zuge der Umstellung hat rund die Hälfte der Mitarbeiter die Firma verlassen. Einige wollten den neuen Weg nicht mitgehen, von anderen trennte sich die Firma. „Die enge Zusammenarbeit ist natürlich auch anstrengend“, sagt Friederike Feld, die bei Sipgate Agile Coach ist und sich um Organisationsentwicklung kümmert. „Es gibt Menschen, die wollen morgens gesagt bekommen, was sie tun sollen, und abends wieder nach Hause gehen. Das passt dann nicht.“ Heute bewerben sich viele Menschen gezielt, weil ihnen diese Arbeitsweise gefällt. Wie etwa Marc Löhe, der immer selbstständig war und sich gar nicht hatte vorstellen können, einmal fest angestellt zu sein. Zufällig stieß er auf einen Blogbeitrag mit dem Titel „Wie wir arbeiten“. „Andere Perspektiven kennenzulernen und die Möglichkeit, über mich selbst hinauszuwachsen, haben mich gereizt“, sagt er.

Lange-Hegermann, der den Open Friday ins Unternehmen brachte, war dagegen zunächst wenig begeistert von der Idee, agil zu arbeiten. Er hat die Umstellung miterlebt. Die Firma ist heute in interdisziplinären Teams organisiert. Es gibt keine Fachabteilungen mehr, sondern es sitzen Entwickler, Designer, Kundenbetreuer, Vertriebler und Marketing-Spezialisten zusammen und entwickeln gemeinsam Produkte. Das hat zur Folge, dass jeder alles ein bisschen können muss. „Ich habe mich damals als großen Experten gesehen in meinem Bereich und fand es nicht gut, mich auch um andere Dinge kümmern zu müssen“, sagt Lange-Hegermann. Heute erscheint ihm die Sorge von damals unbegründet. Er könne jetzt viele Dinge ein bisschen besser, und sein Wissen als Experte sei immer noch gefragt. „Früher waren wir nur Spezialisten in einem Team. Jetzt kommen andere Perspektiven dazu. Das ist superhilfreich. Heute schlagen Entwickler vor, den Kunden selbst anzurufen und nach seinem Problem zu fragen. Das wäre früher nie passiert.“

Offen für Neues

So ähnlich ist zum Beispiel das Produkt „Clinq“ entstanden, das Lange-Hegerman mit seinem Team entwickelt hat und das demnächst auf den Markt kommen wird. Wann genau, ist noch unklar – Zeitpläne mit fixen Daten gibt es bei Sipgate ja nicht mehr. Clinq ermöglicht Geschäftskunden, direkt aus ihrer jeweiligen Kundenmanagement-Software heraus zu telefonieren. Das Gespräch wird dabei dokumentiert, bei einem Anruf zeigt das Programm automatisch Informationen über den Kunden an. Der Impuls zu diesem Feature kam nicht von den Entwicklern, sondern von Kunden.

Wie bei Sipgate gearbeitet wird, geht darüber hinaus, bloß einem Management-Trend zu folgen. „Es geht bei agilem Management nicht darum, die Methoden eins zu eins aus dem Handbuch abzuarbeiten. Sondern wir reden davon, wie Menschen zusammenarbeiten, wie die Sicht auf ihre Arbeit ist, wofür es Wertschätzung gibt. Das betrifft die ganze Unternehmenskultur“, sagt Hochschullehrer Ayelt Komus. Bei Sipgate ist das Prinzip allgegenwärtig: Auch die Buchhalter sitzen zu zweit vor dem Rechner. Die Köche im Restaurant arbeiten – genau wie alle anderen – mit Formaten wie der Feedback-Runde.

„Wir versuchen auch beim Essen richtig was rauszuholen“, sagt Tim Mois, vor sich einen Teller Pilzrisotto mit mariniertem Fenchel. Deshalb stehen auch mal Flusskrebse auf der Speisekarte. Denn wie überall in der Firma gilt: offen für Neues sein. „Wir haben außerdem festgelegt, dass das Essen immer besser werden muss“, sagt Mois. „Sonst sinkt die Zufriedenheit.“ ---