Führung
Die Chefsache
Wer braucht eigentlich noch einen Chef? Wäre es oben ohne nicht viel besser auf dieser Welt? Die Führung steckt in der Sinnkrise. Ein guter Grund, darüber nachzudenken, was sie tut – und tun sollte.
1. Kann ich mal den Chef sprechen?
Völkerkunde ist nicht leicht.
Das liegt an ihrem wichtigsten Akteur: dem Menschen. Das Bild, das der sich von anderen Ländern und Kulturen macht, besteht aus etwas Erfahrung, ein wenig Geschichte und einer Menge Vorurteile. Alles zusammen ergibt unterm Strich das, was man „typisch“ nennt, eine Art kultureller Charakterzug also. Es gibt Länder, die sind schwer führbar, andere wiederum werden komisch, wenn ihnen niemand sagt, wo es langgeht. Manche Völker lieben ihre Regierung, andere hassen sie. Aber es gibt auch welche, die nicht einmal merken, dass sie gar keine Regierung haben.
Am 13. Juni 2010 stellte sich die damalige belgische Regierung unter Ministerpräsident Yves Leterme der Neuwahl. Bis sein Nachfolger Elio Di Rupo ein tragfähiges Kabinett zusammen hatte, vergingen 541 Tage – „ein Rekord in der modernen Weltgeschichte“, wie Wikipedia vermerkt. Während um Einfluss und Posten gefeilscht wurde, ging in Belgien alles seinen Gang: Schulen und Krankenhäuser funktionierten, Ämter und Behörden ebenso, Verkehr und Entsorgung und der ganze Alltag gingen weiter. Merkwürdig, liebe Herrscherinnen und Herrscher: Seit jeher versprecht ihr uns für den Fall, dass die Regierungsgewalt nicht mehr in der Hand einer kleinen Gruppe Anführer ist, Gewalt, Chaos und Untergang, das biblische Tohuwabohu eben. Aber am belgischen Beispiel zeigt sich, dass ausgerechnet die hochkomplexe Welt des 21. Jahrhunderts nicht zusammenbricht, wenn der Chef mal Pause macht. Das System funktioniert führungslos ganz gut – trotzdem oder gerade deswegen?
2. Jammergestalten
Gilt das, was für einen Staat zutrifft, auch für Organisationen? Immerhin ist es in Politik und Wirtschaft oberstes Ziel, durch Management reibungslose Abläufe zu sichern. Wenn sich aber alles wie von selbst organisieren und steuern lässt, was ist dann eigentlich noch Chefsache? Ist das System nicht längst schlauer als die, die es – im Namen und im Auftrag anderer – am Laufen halten sollten?
Ein Indiz findet sich dafür ausgerechnet bei dem Ökonomen, der wie kein Zweiter das Unternehmertum als Motor allen Fortschritts erkannt hat: Joseph Schumpeter. Er beschrieb schon vor Jahrzehnten das Dahinscheiden der alten „Haudegen“, wie er die industriekapitalistischen Gründerfiguren nannte, und deren zunehmende Ablösung durch leitende Angestellte, also Manager – „Jammergestalten“, wie sich Schumpeter auszudrücken pflegte. Nüchtern betrachtet, hatte der Weltökonom die Grundlage der Führungskrise von heute schon vor 80 Jahren erkannt: die Verwechslung von Management und Führung – und damit die bis zur Unkenntlichkeit betriebene Vermengung von Unternehmertum und Verwaltung.
In der Gründerzeit der Industrie waren die Unternehmer gleichzeitig die Eigentümer. Der Laden, den sie schaukelten, gehörte ihnen auch. Doch der Wachstumsschub des Kapitalismus machte Projekte und Organisationen größer und teurer – das überforderte die materiellen Möglichkeiten Einzelner bei Weitem. Die Haudegen des Kapitalismus verschwanden aber nicht gleich von der Bildfläche, um Bankbeamten und betriebsfernen Gesellschaftern Platz zu machen. Ihr Stern verblasste langsam.
Doch heute zweifelt kaum mehr jemand daran, dass der charismatische Anführer im Konzern auf der Roten Liste steht. Er taugt bestenfalls noch als Sujet, als idealisierte Vorlage, mit der sich hübsche Erfolgsgeschichten erzählen lassen. Der Held, der trotz Gegenwind sein Ding durchzieht, Ruhe und Überblick bewahrt und vor allen Dingen: die richtige Entscheidung trifft. Das ist ja der Zauber aller Führung: entscheiden, den Kurs halten, ihn aber auch entschlossen verändern, wenn andere nicht mehr weiterwissen.
Doch in der Praxis wird das immer mehr zur Fiktion und ist immer weniger zu erkennen. Chefs, die nicht mehr die Gründer sind, schreiben keine Geschichten mehr. Sie sind bloß Teil des Systems.
Dabei schien es noch vor einigen Jahren ganz anders auszusehen. Der Übergang vom Unternehmer- zum Managerkapitalismus war mit dem Aufstieg der Konsumgesellschaft verbunden, immer mehr Menschen konnten sich immer mehr leisten und erhielten neue Zugänge zu Produkten und Dienstleistungen. Was noch vor Kurzem als unerreichbarer Luxus gegolten hatte, war kurz darauf bereits für die breite Masse verfügbar. Der materiellen Emanzipation aber folgt immer auch die soziale Angleichung: Im Industriekapitalismus lebten Fabrikherr, Direktor, Angestellte und Arbeiter in völlig verschiedenen Welten – jeder hatte sein Klassenbewusstsein und legte auf Abgrenzung auch Wert. Nun schien es an der Zeit für eine sichtbare Öffnung der alten Chefetage zu sein, für eine Demokratisierung von Führung. Das sagt sich leicht.
3. Unsichtbare Führung
Tatsächlich sind die Unterschiede zwar nicht verschwunden, aber man kann sich kaum noch an ihnen orientieren, weil sie so unsichtbar geworden sind. Die meisten Chefs kleiden sich nicht anders als ihre Mitarbeiter und essen in der Kantine am gleichen Tisch. In welchem Büro sitzt der Chef? In welchem der Angestellte? Das lässt sich in vielen Unternehmen heute nicht mehr so klar beantworten. Näherte sich der „Untergebene“ noch vor ein, zwei Generationen ehrfurchtsvoll seinem „Herrn Direktor“, wird der Chef heute nicht selten geduzt. Nicht einmal mehr die Größe der Dienstwagen lässt profunde Schlüsse auf die Rolle im Unternehmen zu. Die alte Hackordnung löst sich auf, mit ihr die sichtbaren Attribute der Macht.
Das mag man gut finden, aber es ist auch irritierend – denn Menschen glauben, was sie sehen. Und weil Äußerlichkeiten verschwinden und Hierarchien flacher werden, meinen nicht wenige, dass damit auch die Führung an Bedeutung verloren hat. Man braucht sie nicht mehr, weil sie sich nicht mehr so sichtbar macht wie früher. Das ist allerdings ein Missverständnis, das auf einer weiteren Gleichsetzung beruht – der von Hierarchie und Führung. Das Wort Hierarchie bedeutet in seinem griechischen Ursprung Herrschaft – im Sinne einer heiligen, also unantastbaren Ordnung, einer klar erkennbaren Macht, der man sich unterordnen kann. Hierarchien sind auch Anhaltspunkte, sie geben Orientierung. Wer an ihrer Spitze stand, durfte auch für andere mitentscheiden – ein typisches Merkmal für Führung. Wer es nach oben schaffte, hatte sich das auch „verdient“. Führung legitimierte sich durch Führung. Und oben war immer vorn.
Heute ist Führung zu einem Auftrag geworden, einem Job, der zu erledigen ist. Leader mögen weiterhin eine besondere Rolle haben, aber die Allmacht, die sie früher besaßen, hat sich verflüchtigt. Der Chef ist zum Primus inter Pares geworden, zum Ersten unter Gleichen, die ihm den Auftrag geben, aus ihrer Arbeit und ihren Fähigkeiten das Beste zu machen. Erst das wäre eine „Demokratisierung der Führung“, was ja nie bedeutete, dass alle gemeinsam führen oder so tun als ob, sondern dass Führung nach für alle Beteiligten klar erkennbaren Regeln erfolgt. Keine Willkür, keine Überraschungen – nur verständliche Entscheidungen.
4. Die Mitarbeiter
Früher genügte ein Befehl, und die Truppe parierte – auch wider besseres Wissen: „Wenn der Alte das will, machen wir das so.“ Die Führungsformel war einfach: Oben wird gedacht, unten wird gemacht.
Doch die Verhältnisse stehen, aus dieser Perspektive betrachtet, schon lange auf dem Kopf. Wenn Spezialisten und Experten, Wissensarbeiter also, die wichtigsten und zentralen Produktivkräfte der Organisation sind, dann können Führungskräfte fachlich nicht mehr überlegen sein. Oben – im Sinne von vorn – ist heute dort, wo die Fähigkeiten und Talente anderer organisiert werden. Herr und Knecht waren, wie gesagt, früher leichter zu unterscheiden. Das trifft auch auf den Inhalt ihrer Arbeit zu. In der alten Welt wird die ökonomische Grundleistung durch harte Arbeit erbracht, die von der Masse verrichtet wird. Das Planen, Steuern, Kontrollieren und Organisieren dieser Arbeit – also die Kernaufgaben des Managements – werden von einer zahlenmäßig kleinen Elite verrichtet.
Doch Automation macht schwere Arbeit überflüssig, Innovationen sorgen für immer mehr Produkte und Dienstleistungen. Aus Arbeitern wurden Angestellte, denen sukzessive jene Aufgaben zugewiesen wurden, die früher das Management – die Verwaltung – erledigte. Das konnte man sehen und hören, denn zu dieser Entwicklung gehört es, dass man die Menschen in den Organisationen nicht mehr Untergebene nannte, sondern Mitarbeiter. Ein schönes Wort, verströmt es doch das Gefühl von Gemeinschaft statt Klassenunterschied. Doch Vorsicht, das ist ein zweischneidiger Begriff, weil er auch nivelliert und durchaus wichtige Unterschiede auflöst.
Mitarbeiter sind, wie das Wort schon sagt, keine unverwechselbaren Spezialisten und Experten, sondern eigentlich Hilfsarbeiter. An sie werden Aufgaben delegiert – ein Wort, das auch netter klingt als seine deutsche Übersetzung: weiterreichen. Arbeitsteiligkeit im Zeitalter des Mitarbeiters bedeutet eben auch, dass alle zu Hilfs- und Zuarbeitern des Managements geworden sind. Deshalb halten auch so viele die dieses System tragenden Routinen für normal – man dreht sich im Kreis, statt eine eigene Richtung einzuschlagen.
Nun gab und gibt es genug Leute, die froh sind, wenn ihnen ein fester Rahmen, klare Anweisungen und eine To-do-Liste gegeben werden, die sie abarbeiten können. Daran wird und muss sich nichts ändern – zur Freiheit gehört auch, sie nicht in Anspruch nehmen zu wollen. Doch auch diese Leute leben davon, dass sich ihre Organisationen erneuern und nicht in Routinen verschleißen. Gerade die, die Sicherheit und Verlässlichkeit verlangen, müssten daran Interesse haben, dass ihre Führung nicht aus Bürokraten besteht, sondern aus Unternehmern, die in der Lage sind, auch außerhalb der Routinen den Laden am Laufen zu halten.
Führen heißt entscheiden, nicht verwalten. Kurz: Man braucht Leute, die auch mal was probieren und riskieren.
Sind für die neue Führung, die man braucht, die alten Begriffe überhaupt noch tauglich? Boss, Chef, Vorgesetzter? Seit vielen Jahren sucht man nach Ersatz dafür. Intrapreneure – Innenunternehmer – dieses in den Neunzigerjahren geprägte Wort träfe es vielleicht ganz gut. Oder noch knapper und zunehmend populärer: Entscheider. Die Fähigkeit, zu entscheiden, ist das zentrale Merkmal aller Führung. Entscheiden können bedeutet immer auch: handlungsfähig bleiben. Nicht zum Spielball eines Systems werden, zum Getriebenen. Führung ist, wenn man die Richtung selbst bestimmen kann.
Diese Definition ist realitätsnäher und gleichsam weitreichender als die klassische Zuordnung von Führungskräften. Entscheider stehen nicht zwangsläufig auf der obersten Ebene einer Organisation. Auch das, was man heute noch die zweite oder dritte Führungsebene nennt, Experten, Spezialisten, das ganze Stammpersonal der Wissensgesellschaft, gehört dazu. Unsere Kultur hinkt hier der Realität hinterher.
Das Deutsche Institut für Wirtschaft – DIW in Berlin definiert in seinem „Sozio-oekonomischen Panel“ (SOEP) den Begriff der Führungskraft bereits nach der neuen Wirklichkeit der Wissensgesellschaft: Eine „Führungskraft“ ist demnach nicht nur der klassische Chef, der sich vorwiegend oder ausschließlich mit „umfassenden Führungsaufgaben“ beschäftigt – also Vorstand, Direktor oder Geschäftsführer. Führung umfasst auch die mit „sonstigen Leitungsfunktionen oder hoch qualifizierten Tätigkeiten“ befassten Personen wie „Abteilungsleiter, wissenschaftliche Angestellte und Ingenieure“. Immerhin zehn Prozent aller Erwerbstätigen entsprachen 2012 dieser Definition – vier Millionen Führungskräfte.
Ist das so? Sehen wir hier die Leute, die im System noch eigenständig entscheiden können, Richtungen verändern, selbstständig handeln dürfen? Und wenn ja, wissen diese Leute das auch?
5. Die Zweite Reihe ist vorn
Auskunft darüber kann Hans Hinterhuber geben, emeritierter Professor für Unternehmensführung der Universität Innsbruck und Autor des Standardwerks „Leadership“. Er kämpft für einen neuen Führungsbegriff, der zu einer Wirtschaft passt, die sich nicht mehr „durch eine technokratische Wirtschaftslehre definiert, die nur mit reproduzierbarem Wissen umgehen kann“.
Hinterhuber erzählt, wie er vor einiger Zeit ein Seminar vor Nachwuchsführungskräften aus Dax-Unternehmen gehalten hat. 30 junge Menschen, die von ihrem Unternehmen als neue Leader identifiziert wurden und die nun aufwendige Trainingsprogramme durchlaufen, damit sie als nächste Generation ihren Laden nach vorn bringen. Vor solchen Leuten ist die Frage „Wer von Ihnen will Führungsverantwortung übernehmen?“, die Hinterhuber stellte, nur rhetorisch zu verstehen – ungefähr so, als fragte ein Fußballtrainer seinen Stürmer, ob er denn gern Tore schießen würde.
Doch hier ist alles anders. Nur 8 von 30 High Potentials wollen Tore schießen. Der Rest bleibt lieber in der zweiten, dritten Reihe. Ist das nicht ein katastrophaler Befund?
Kommt darauf an. Der Ökonom Birger Priddat sieht in solchen Entwicklungen Zeichen der hohen Autonomie, die Wissensarbeiter, die Hochqualifizierten, schon erlangt haben: „Sie fragen sich, ob sie noch Chef sein, also für andere deren Arbeitsleben organisieren wollen. Sie fragen sich: Braucht ihr mich als Anführer eigentlich noch? In vielen Bereichen ist die Arbeitsautonomie ohnehin schon so hoch, dass es keinen Grund gibt, klassische Führungsaufgaben zu bewältigen. Die Leute entscheiden weitgehend selbst.“
So gesehen ist der Umstand, dass viele der Besten gar nicht mehr Chef werden wollen, ein gutes Zeichen für den fortgeschrittenen Entwicklungsstand einer Wissensgesellschaft, in der Selbstbestimmung bei der Arbeit völlig normal ist. Und es wäre ein gutes Zeichen dafür, dass viele junge Hochqualifizierte ihre fachliche Tätigkeit im Fokus haben – und nicht Prestige. Die Leute wollen tun, was sie können. Und nicht mehr hohlen Ritualen folgen. Und auch, wenn der Einkommensunterschied zwischen ganz oben und zweiter Reihe durchaus respektabel sein mag – Fachleute sind so begehrt, dass sie in der Regel so viel verdienen, dass sich der Schritt in die Einsamkeit der höchsten Gipfel nicht mehr lohnt. Schön ist es auch im Basislager, und dort agiert man in der Regel freier als in der umfassenden Führungsverantwortung.
6. Die Todeszone
Früher war der Gipfelsturm für alle, die dazu geistig und körperlich in der Lage waren, das erklärte Ziel aller Karrieren. Da ging es um ganz viel Sozialprestige und Anerkennung, um die Insignien der Macht. Aber es ging auch rein pragmatisch um etwas anderes, nämlich um die Möglichkeit des Durch- und Weitblicks, der sich nur von ganz oben aus bot. Heute herrscht in diesen Höhen aber längst Sauerstoffmangel und Schnappatmung, eine geistige Todeszone, in der es keine kreative Führung mehr gibt.
Der erfahrene Führungsexperte Hinterhuber weiß, warum: „Ganz oben erwartet sie die Bürokratie, Routinekram, Leerzeiten, sinnlose Sitzungen, alles Mögliche, nur nicht das, weshalb sie ganz nach oben wollten: nämlich um etwas entscheiden zu können und zum Guten zu verändern.“
Die Nachwuchskräfte könnten das an ihren Vorgesetzten gut erkennen. Sie wissen, was sie oben erwartet: das Fegefeuer der Führungskraft, die Compliance. Das Wort bedeutet im Deutschen so viel wie Regeltreue, also die strikte Einhaltung aller Vorschriften, Regeln, Gesetze, Gebote, Mechanismen, Verhaltensnormen, Routinen und Verpflichtungen sowie freiwilliger Abmachungen. Das Wort genügt längst, um in Vorstandsetagen ein gequältes Raunen und Stöhnen auszulösen. Die überbordende Compliance ist die Querschnittslähmung der Führungsebene, das Ende der Entscheidung und der Handlungsfähigkeit.
Compliance funktioniert auch deshalb so gut, weil die Führungskräfte, die davon in Geiselhaft genommen werden, vor allen Dingen und aus Überzeugung Manager sind. Sie haben gelernt, allen Anforderungen standzuhalten, jede Routine zu bedienen, fleißig zu sein – statt zu entscheiden und auch mal gegen den Mainstream zu handeln. Der sich selbst organisierende Wahnsinn existiert, weil die, die darunter leiden, nicht anders können, als zu seinem weiteren Wachstum beizutragen. Manager sind die Bürokraten des Kapitalismus. Anführer sind sie nicht.
Der im Vorjahr verstorbene Vordenker der neuen Führung, des Leadership, der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Organisationsentwickler Warren Bennis, hat auf diesen fundamentalen Unterschied immer wieder hingewiesen – und ohne diese Unterscheidung kann man die Führungskrise von heute nicht verstehen. Manager und Leader machen, schreibt Bennis, völlig unterschiedliche Sachen – die einen verwalten, die anderen erneuern. Der Manager sei deshalb eine „Kopie“, der Anführer ein „Original“.
Der Manager müsse sich auf Systeme und Strukturen konzentrieren, der Leader auf Menschen und ihre Fähigkeiten. Manager fragten deshalb stets „wie“ und „wann“ – während es für Anführer typisch sei, Fragesätze mit „was“ und „warum“ zu beginnen. Das sind zum Teil, wie Bennis erkannte, nicht überbrückbare Differenzen, denn während der Manager den Status quo akzeptiere und ihn festige, müsse der Anführer genau diesen Zustand immer wieder herausfordern. „Der Manager macht die Dinge richtig – aber der Anführer macht die richtigen Dinge.“
Es geht nicht darum, das Management klein zu machen oder abzuschaffen. Es ist nur nicht genug. Management ist heute eine Querschnittsqualifikation. Führung ist eine Expertenaufgabe. Vielleicht besteht die zweite Reihe gar nicht aus Drückebergern, sondern aus Leuten, die schon nach vorn denken – und das verstanden haben, und die wissen: Es bringt nichts, das eine mit dem anderen zu verwässern.
Wozu führt das?
7. Ganz Kleine Könige
Zu neuen Einsichten, und zwar gerade dort, wo man es möglicherweise gar nicht vermutet, im Herzen des Systems. Es sind Menschen aus dem Management, der Politik und der Verwaltung, die am klarsten den Veränderungsbedarf erkannt haben und eine neue Sichtweise von Führung fordern. So, wie es ist, geht es nicht mehr. Es ist ein sachlicher Aufstand der Intrapreneure, den wir hier erleben, eine Revolte gegen die Routine und einen Status quo, der keine Freiräume mehr ermöglicht. Gute Führung braucht genau die.
Im September 2012 wurde mit Unterstützung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales das „Forum Gute Führung“ etabliert, in dem Vorstände, Manager, Berater, Wissenschaftler und Behördenvertreter nach neuen Lösungen Ausschau halten. Dagmar Woyde-Köhler, Chefin der Beratungsfirma New+Able aus Karlsruhe ist einer der Köpfe dieser Initiative. „Die Zahl der Führungskräfte, die sich in ihrer täglichen Arbeit fremdbestimmt fühlen, ist enorm gestiegen – so viele Unzufriedene wie heute gab es noch nie“, sagt sie. Doch das Unbehagen führe nicht mehr nur zu schlechter Laune, sondern zu „einem Neuanfang für die Führung und neue Einsichten. Die Wissensgesellschaft lässt sich nicht mehr mechanistisch regieren, planen und organisieren. Dazu braucht man Führungskräfte, die sich auf Dynamik und Veränderung einlassen – statt sie abzuwehren.“
Natürlich sind diese Erkenntnisse nicht neu, aber man konnte lange Zeit auch in voller Kenntnis, dass die Welt sich verändert, weiterwursteln wie bisher. Aber Jahr für Jahr zeigte sich, dass die Tools und die Pläne nur notdürftig halfen, den Schein zu wahren. Mit den diversen Krisen am Ende des vergangenen Jahrzehnts verloren auch Führungskräfte in Wirtschaft und Politik an Prestige. „Eine doppelte Frustration: Im Alltag frisst einen die Bürokratie auf, im sozialen Umfeld schwindet Anerkennung und Respekt“, so Woyde-Köhler. Der Leidensdruck erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass aus dem Nachdenken über eine neue Führung tatsächlich ein Paradigmenwechsel wird. Jede Krise stellt auch die Frage nach einer Veränderung des Status quo, denn offensichtlich hat die Routine versagt. Krisen sind gut für Entscheider.
In einer Studie für das Forum Gute Führung hat Peter Kruse, Chef der Bremer Denkwerkstatt Nextpractice, das erhärtet. Die Ergebnisse der 400 Interviews mit Führungskräften aus Unternehmen unterschiedlicher Branchen und Größen sind erstaunlich: „Hierarchisch dominierte Vorausplanungen werden mehrheitlich abgelehnt. Die Zeit des Vordenkens und Anweisens ist vorbei. Die klassische Linienhierarchie wurde zum Auslaufmodell erklärt. Die Führungskräfte prognostizieren sich selbst organisierende Netzwerke als Organisationsform der Zukunft.“
Ähnlich sieht das der Ökonom Birger Priddat – Führung bedeute eben zunehmend nicht mehr, anderen Leuten „ihr Arbeitsleben zu organisieren“, zumal die als hoch qualifizierte Wissensarbeiter ohnehin selbst zu Entscheidern auf ihrem Gebiet und damit zu ihren eigenen Führungskräften geworden seien.
Hier zeichnet sich der Übergang von der Führung zur Leadership am klarsten ab: Leadership ist die Fähigkeit, relativ selbstlos andere zu fördern und zusammenzubringen. Das setzt Reife und soziale Kompetenz voraus.
Vielleicht noch dramatischer ist der Abschied von einer anderen Gewissheit alter Führung: Ausnahmslos alle befragten 400 Führungskräfte waren sich einig, dass die „Fähigkeit, mit ergebnisoffenen Prozessen umzugehen, ein zentrales Merkmal von ,guter Führung‘ ist“. Das ist nahezu das Gegenteil des alten Führungsverständnisses, das immer schon wusste, wo es langgeht – und das nicht hinterfragt werden wollte.
Die Zeit, in denen stolze, vor Selbstgewissheit strotzende Wirtschaftskapitäne für Zweifler nur ein müdes Lächeln übrig hatten, geht zu Ende. Die neue Komplexität macht Leute dieses Schlages vollends unglaubwürdig. Für viele ist das ein Schock. Ihre Welt bricht zusammen. Es geht zum ersten Mal nicht so weiter wie bisher. „Immer wenn bisher die Rede von einer neuen Form von Führung war“, sagt Peter Kruse, „hat sich bald herausgestellt, dass das Management damit nur eine neue Stufe des Taylorismus vorangetrieben hat. Die Verhältnisse haben sich nicht geändert, sondern zugespitzt. Und nun stehen viele vor dem Paradigmenwechsel, sehen ihn, können ihn aber mit ihren Tools und Methoden nicht bearbeiten.“ Muss schrecklich sein, so der Wissenschaftler. Dabei lächelt er. Allerdings weiß er auch, dass sich noch ganz viele einbilden, dass die alten Mechanismen und Rezepte die Läden am Laufen halten.
„Das ist so wie in dem Buch „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry, in dem es einen König auf einem winzigen Planeten gibt, der behauptet, alle Sterne und das ganze Universum würden seinen Befehlen gehorchen“, sagt Kruse. Als der kleine Prinz den König auffordert, doch mal zum Beweis die Sonne untergehen zu lassen, kramt der König – „sie gehorchen aufs Wort. Ich dulde keinen Ungehorsam!“ – in einem Kalender, in dem alle Sonnenauf- und -untergänge verzeichnet sind, raunt etwas von „günstigen Bedingungen zur Ausführung meines Befehls“ und setzt schließlich einen exakten Zeitpunkt fest: Er werde der Sonne heute befehlen, genau um 7.40 Uhr unterzugehen. Das klappt dann auch ganz gut.
Ungefähr so erklären nach wie vor Politiker und Manager noch heute den Einfluss ihrer mechanistischen Rezepte auf den Lauf der Welt. Wenn etwas wider Erwarten klappt, dann haben sie die „richtigen Weichen“ gestellt, „frühzeitig die Entwicklung erkannt“ oder „die nötigen Rahmenbedingungen geschaffen“.
Wer sich die Mühe macht, das zu analysieren, steht schnell fest: Das ist Esoterik. Das Problem ist, dass damit die Lebenszeit und das Geld anderer Leute verplempert werden – und derlei Hokuspokus davon ablenkt, frühzeitig und aufmerksam Entwicklungen tatsächlich verstehen und gestalten zu lernen – und sie nicht bloß im Nachhinein zurechtzuinterpretieren.
8. Was Führung ist
Wir wissen aber auch: Allen kleinen Königen ist gemein, dass ihr Selbstvertrauen ungleich größer ist als ihre Fähigkeit zur Selbstkritik. Im angloamerikanischen Verständnis von Leadership spielt genau das aber eine große Rolle, sagt Hans Hinterhuber: „Echtes Leadership setzt immer die Fähigkeit zur Kritik – und im gleichen Maße Selbstkritik – voraus. Man muss konstruktiv hinterfragen – und nicht nach Bestätigung suchen.“ In Europa herrsche hier ein hoher Nachholbedarf, sagt der Forscher. Das Wappen der kleinen Könige ist die Leberwurst – sie sind schnell beleidigt. Dass sich solche Leute in einer Welt, in der Kritik im Unternehmen, von Kunden und in den Netzwerken zunimmt, in Routinen verstecken, kann man verstehen. Dann aber sollte man eben von Selbsttäuschung oder Resignation reden, nicht von Führung.
Das ist jedenfalls das, was der Bestsellerautor Reinhard K. Sprenger empfiehlt. Abseits aller wechselnden Führungs-Trends, die meist schnell verpuffen, gibt es einige grundlegende Führungsfragen, Chefsachen, die keiner Mode unterliegen. „Wie lautet eigentlich die Frage, auf die Führung die Antwort ist?“, fragt Sprenger, „damit sollte man mal anfangen.“ Was ist eigentlich dein Job, Chef? Und was haben wir davon, wenn du uns anführst? Bei Sprenger kann man nachlesen, dass man dafür das Rad nicht neu erfinden muss. Nach wie vor gebe es die klassischen Kernaufgaben von Führung, das Organisieren von Zusammenarbeit im Unternehmen, das Sichern der Zukunftsfähigkeit, die Senkung der Transaktionskosten und die Fähigkeit, bei Ziel- und Wertkonflikten in der Organisation eine Entscheidung zu treffen.
Doch das Allerwichtigste heute sei eben die Menschenführung, so Sprenger: „Wenn man ein Menschenbild hat, in dem der Mitarbeiter ein Erwachsener ist, ein freier Mensch, dann kann man damit umgehen. Die Leitlinie für richtiges Führen ist einfach: Finde die Richtigen, vertrau ihnen, fordere sie heraus, rede oft mit ihnen, bezahle sie fair und mach dann das Wichtigste von allem: Geh aus dem Weg. Denn die einzige legitime Form von Mitarbeiterführung ist die Selbstführung.“
Sorg dafür, dass die Leute ihren Laden am Laufen halten, weil es ihr Laden ist. Das ist eine Zumutung für beide Seiten, die, die es sich leicht gemacht haben mit der Führung – und für jene, die lernen müssen, dass sich auch nach oben nicht alles wegdelegieren lässt. Führung ist kein Privileg mehr. Führung ist harte Arbeit, und sie muss, damit sie als erledigt gilt, Sinn ergeben:
„Der Sinn aller Arbeit in einem Unternehmen ist es, die Lebensqualität anderer Menschen zu verbessern – dafür zu sorgen, dass es anderen gut geht“, sagt Sprenger. Führung war die längste Zeit mit kalter Macht verbunden und mit Distanz zu den Geführten. Damit sie weiterhin funktioniert, darf sie nicht mehr beherrschen, sondern muss ermöglichen. „Gutes Leadership will aus Menschen mehr machen, als die sich selbst zutrauen. Sie hilft voran. Dazu braucht man Menschen, die sich und andere mögen“, sagt Hans Hinterhuber. Warren Bennis wusste: „Die Kernkompetenz von Führung ist Charakter.“Den sollte man zur Chefsache machen. ---
Leserbrief zu brand eins Heft 03 März 2015 / „Die Chefsache“ Von Wolf Lotter Ausgangspunkt für eine ausführlichere Reaktion auf den Artikel ist die Aussage „Manager sind die Bürokraten des Kapitalismus. Anführer sind sie nicht.“ Warum wird hier ein altes Fass aufgemacht? Schon ewig wurde das Thema Leader oder Manager diskutiert, ohne neue Erkenntnisse. Alles bekannt und endlos erörtert. Hierzu auch als Ausgangspunkt ein Zitat von Fredmund Malik: „Management ist die Gestaltung und Lenkung komplexer sozialer Systeme.“ Wer das macht, ist doch kein Bürokrat oder Buchhalter. Nach meiner Auffassung leidet der Artikel daran, dass weder Führung noch Management klar definiert werden. Die Begriffe werden nur jeweils in eine bestimmte Ecke gestellt, die dann mit vagen Beschreibungen versehen werden. Die Unterscheidungen, die der Autor versucht, stehen im krassen Widerspruch zu vielen gängigen Auffassungen zum Thema Management und besonders zu dem von Malik. So weit zum Grundsätzlichen. Einige teils heftig zu kritisierende Punkte nenne ich hier nur in knappen Stichproben: 1. Planen, Steuern, Kontrollieren und Organisieren seien die Kernaufgaben von Management? Und das hat mit Führung nichts zu tun? Das macht eine kleine Elite? Spezialisten? Ist womöglich mit der kleinen Elite doch der Vorstand gemeint? Wer entscheidet über die Strukturorganisation eines Unternehmens? 2. Führen heißt entscheiden. Führen heißt nicht verwalten? Müssen Abläufe nicht funktionieren und auch kontrolliert werden? Funktioniert das von alleine? Ohne Führung? Führung heißt nicht Kontrolle, denn da wird ja nichts entschieden? 3. Man brauche Leute, die auch mal was probieren und riskieren? Muss das nicht organisiert werden? Oder darf jeder das nach Lust und Laune? Und wer regelt das? Braucht man dafür vielleicht einen Manager? 4. Der Autor möchte die Chefs, Bosse, Vorgesetzten nun Entscheider nennen. Andere Aufgaben haben sie nicht? 5. Manager müssten sich auf Systeme und Strukturen konzentrieren, Leader auf Menschen und ihre Fähigkeiten. Gibt es denn in Systemen und Strukturen kein Wesenselement, bestehend aus Menschen? 6. „So, wie es ist, geht es nicht mehr.“ Diese Aussage ist sicher für viele richtig, aber für viele andere, die sogar Manager in der Führung haben, falsch. 7. Peter Kruse hat recht, aber nur mit seiner Betonung des „dominierten“: „Hierarchisch dominierte Vorausplanungen werden mehrheitlich abgelehnt.“ Sich selbst organisierende Netzwerke mögen in einigen Fällen mögliche und gute Lösungen sein. Helmut Maucher allerdings: „Teams sind gut, aber nur mit Hut.“ Und ist das nicht schon wieder Hierarchie? 8. Das Allerwichtigste bei Sprenger: die Menschenführung. Das war schon immer richtig. Führung kann auch heißen: machen und entscheiden lassen, dezentralisieren von Verantwortung und Entscheidungen. Aber was ist das? Das ist Organisieren, Zuordnen von Aufgaben und Verantwortung. So entsteht Organisationsstruktur, so entstehen auch Hierarchien. Dem Autor folgend, handelte es sich hier allerdings nur um verwaltungstechnische Manageraufgaben. Dieter Brandes – 4. März 2015
Sehr geehrter Herr Brandes,
danke für Ihre Mail zu meinem Einleitungsessay „Die Chefsache“ im brandeins-Schwerpunkt „Führung“. Ist das Thema, die Forderung der Trennung von Management und Führung, wirklich ein alter Hut? In Deutschlands Lehre und Praxis sicher nicht. Führung, Leadership, Management – all das wird unter der Sammelbezeichnung Management gelehrt. Dafür gibt es zahlreiche Lehrstühle. Für Leadership gibt es das so wenig wie für Entrepreneurship. Joseph Schumpeter hat wieder einmal recht behalten. Das gerade ist aber ein Grund, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob das so bleiben muss: Die Vorherrschaft eines mechanistischen, zur Bürokratie gewordenen Managements schadet Menschen und Firmen gleichermaßen. Und je mehr qualifizierte und selbstbewusste Menschen ins Berufsleben eintreten – und je mehr Kunden bessere, auf sie abgestimmte Produkte fordern – desto klarer wird das. Das aber nur mal als grundlegende Position zu Ihren Überlegungen.
Vieles an Fredmund Malik schätze ich sehr (1). Aber mit dem von Ihnen gelieferten Hinweis darauf, dass das Management „lenkt und gestaltet“, trifft er eher meinen Nagel auf den Kopf – und nicht Ihren. Qualifizierte Leute wollen ihr Leben weder gestaltet noch gelenkt bekommen, weil sie selber wissen, was sie zu tun haben. Erfolgreiche Unternehmen, die sich mit komplexen Problemen beschäftigen, können das auch leisten. Simple Organisationen mit einfachen Abläufen müssen das nicht. Da genügt der klassische „Lenker, Planer und Steuerer“, den sie im Manager erkennen. Ich bezweifle gar nicht, dass in bestimmten Situationen diese tayloristische Weltsicht funktioniert – ich halte sie nur für überholt und hoffe inständig, dass die Automation in diesen Organisationen ihr Werk möglichst wirkungsvoll verrichtet. Für Maschinen reicht’s, für Menschen nicht.
So ist auch der von Ihnen wohl gemeinte Deming-Kreis zu sehen, eine Gedankenstütze, die zur Vereinfachung, zur Schematisierung also von Prozessen in der Organisation taugt, aber nicht zur Führung. Werkzeuge denken nicht, und sie machen ihre Nutzer, wenn die es nicht denken, auch nicht schlauer. Wie heißt es so schön an Managementschulen: A fool with a tool is still a fool.
Die „Strukturorganisation“ schafft kein innovatives Denken und keinen Fortschritt. Sie erhält nur. Das ist als Ziel für die Organisation okay. Aber nur dann, wenn man das immer Gleiche tut und auch weiterhin tun will. Für Menschen, die sich mit und in ihrer Arbeit entwickeln wollen, für Kunden, die eine bessere und immer treffendere Lösung ihrer Probleme und Bedürfnisse verlangen, reicht das nicht. Wo Wissen und Kreativität, Talent und besondere Fähigkeiten zu den wichtigsten Ressourcen werden – in der Wissensgesellschaft, überall dort, wo es komplex und nicht simpel ist, zerstört das auch die Organisation.
Zu Ihrem zweiten Punkt:
Dass Abläufe funktionieren müssen und man sie kontrollieren soll, weiß jeder Hausmeister – den man heute Facility-Manager nennt, eine Bezeichnung, gegen die ich im Sinne der Anklage nichts einzuwenden habe. Die Tätigkeit eines Hausmeisters, eines Managers also, ist wichtig. Aber heißt das auch schon, dass man den, der vom Keller bis zum Dach dafür sorgt, dass alles fließt und überall Strom ist, zum Hauspatron machen sollte? Das ist nur in schlechten Mietshäusern so – und ganz sicher nicht dort, wo selbstbewusste Mieter oder Eigentümer leben. Und ist diese Hausmeistertätigkeit Führung? Ich denke nicht. In einem Flugzeug wäre das so, als würden Sie den Autopiloten über den Kapitän stellen. Ein Pilot kann auf Überraschungen und Kursänderungen reagieren. Der Autopilot nicht. Ich würde ungern in einem Flugzeug reisen, das Ihren Idealen von Management folgt – und nicht den alten unternehmerischen Grundsätzen, dass man auf Entwicklungen schnell, kreativ und natürlich abseits der Routinen reagiert. Das bedeutet nicht, dass man auf Autopiloten und Hausmeister verzichten sollte. Aber warum man sich von ihnen führen lassen soll, erschließt sich mir nicht.
In diesem Sinne sehe ich auch Ihre Kritik an dem von mir verwendeten Begriff „Entscheider“. Ich denke schon, dass das die herausragende Fähigkeit von Führung in unsicheren Zeiten ist. Wenn alles glatt läuft – aber wann tut es das schon – genügt natürlich auch das Facility- Management.
Und die „Geführten“?
Darf jeder nach Lust und Laune tun und lassen, was er oder sie will?, fragen Sie. Das ist ein beliebtes Argument aller Freunde strenger Hierarchien, um ihre eigene Position zu sichern. Lärmende, chaotisch durchs Haus laufende Kinder brauchen einen strengen Vater, nicht wahr? Möglicherweise zeigt sich daran am besten die Überholtheit eines Konzepts namens Management. Die ersten Manager in englischen Fabriken rekrutierte man aus dem Aufsichts-Personal englischer Strafanstalten. Ich glaube, dass wir dieser speziellen Form von Fürsorge heute nicht mehr bedürfen. Vielleicht ist das auch eine Antwort auf das, was man Krise des Managements nennt: Die Leute werden erwachsen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen, niemand, ich erst recht nicht, hat etwas dagegen, wenn Manager sich auf das beschränken, was sie sollen – verwalten, prüfen, kontrollieren – das Tagesgeschäft sichern. Meine Erfahrung ist, dass Menschen, die das sehr gut können, wenig geeignet sind für das andere, nämlich die individuelle Förderung und Führung von Menschen, die einen Rahmen zur Entfaltung ihrer Talente und Fähigkeiten brauchen, was wiederum allen nützt. Ich teile diese Ansicht mit den im Beitrag genannten Kritikern des Management-Denkens und Befürwortern einer neuen Sicht auf Führung. Wir glauben: Es geht nicht so weiter. Übrigens ist das auch das, was wir von den Managern und Führungskräften selbst immer wieder hören. Unsere Kritik am bürokratischen Managerismus fällt also nicht vom Himmel, sondern aus den Reihen, die Sie meinen zu vertreten. Sie nennen unseren, meinen Befund „falsch“.
Dann ist auch falsch, dass in Umfragen seit Jahren die Hälfte der Angestellten in Unternehmen mit dem, was ihr Manager tut, unzufrieden ist. Dann ist auch falsch, dass die gleichen Studien zeigen, dass nahezu die Hälfte der Menschen in den Unternehmen als Reaktion auf mechanistisches Management, das nicht zuhört, aber dafür umso eifriger plant, steuert und kontrolliert, nur noch Dienst nach Vorschrift macht. Falsch liegen damit auch die zahlreichen Manager, denen ich auf öffentlichen Vorträgen begegne und die sagen: Es geht nicht mehr so weiter. Wir ersticken in Bürokratie. Die alten Vorstellungen von Betriebsführung und Organisation brechen uns das Genick. Sie alle, und ich natürlich auch, liegen Ihrer Meinung nach falsch. Möglich ist natürlich alles, auch, dass uns unsere immer wieder bestätigte Wahrnehmung trügt – wahrscheinlich ist es allerdings nicht.
Ich bin aber, sehr geehrter Herr Brandes, wenn es um Ihren Punkt 7 geht, ganz bei Ihnen – und suche noch nach Widerspruch auch zu Herrn Mauchers „Team mit Hut“-Gleichnis. Ich bin, unter uns, kein Freund „flacher Hierarchien“, die dann in einen verschwommenen „Team“-Begriff münden – und gewiss sind das auch die im Beitrag zu Worte kommenden Experten nicht. Diese falsch verstandene Form von Gleichheit ist nicht nur nicht gerecht, sondern bietet gerade jenen Bürokraten Unterschlupf und Auskommen, die anderen Leuten ihre Entwicklungsmöglichkeiten in der Organisation stehlen. Mit Hut aber immer gern, aber eben ein Hut, der nach persönlicher Fähigkeit, Kompetenz, Einsatz, Situation herumgereicht wird – und nicht fest mit dem Haupt des Trägers verlötet wird. Führung ist kein Privileg, sondern eine Dienstleistung. Sie wird an den Menschen in der Organisation erbracht, und sie dient – dialektisch sozusagen – dem Wohlergehen der Kunden, denen das Beste geboten wird, was die Menschen in der Firma machen können. Die Voraussetzung dafür ist kein enger Plan und keine strikte Steuerung, sondern das Eingehen auf Situationen und vor allen Dingen auf Menschen und ihre individuellen Fähigkeiten. Chef sein ist kein Amt. Es ist Dienst am Nächsten. Der Hut ist eher eine Mütze als eine Mitra. Führung braucht also nicht das Privileg der Hierarchie.
Zu Ihrem achten Punkt: Ich kann nachvollziehen, dass Sie zur Bestätigung Ihres universalistischen Managementbildes den Wirkungskreis des Begriffs „Organisieren“ maximal ausdehnen müssen. Organisieren ist alles. Auch Menschenführung ist Organisieren. Ist das so? Kann man die Instrumente und die Modelle, mit denen man Waren und Güter organisiert und in den Laden bringt, auch auf Menschen, die dort arbeiten, umlegen? Wenn ja, dann sind die Leute, die in Unternehmen arbeiten, heute die Teile der Maschine, die noch nicht erfunden sind oder kostendeckend eingesetzt werden können. Es ist und bleibt, denke ich, aber ein Unterschied, ob ich mit Dingen umgehe oder mit dem Leben und den Talenten von Menschen. „Die Kernkompetenz von Führung ist Charakter“, sagte Warren Bennis. Das sehe ich auch so.
Der mechanistische Anspruch, mit Menschen so umzugehen wie mit den Gütern, die man produziert – altes Management also – hat die Wirtschaft und die Führung in den vergangenen Jahren bei den Menschen in einem hohen Maße unglaubwürdig gemacht. Ich glaube sogar, dass darin die wichtigsten Ursachen für die anhaltende Kritik an der Marktwirtschaft liegen. Organisieren ist eben nicht alles.
Ist Reinhard K. Sprenger, mein Gesprächspartner für diesen Einleitungsessay, gleichsam auch Ihr Kronzeuge? Ich fürchte nicht. „Geh aus dem Weg“ ist etwas anderes als das „Zuordnen von Aufgaben und Verantwortung“, in dem Ihr Führungsbild mit dem Management verschmilzt. Das ist von oben planen, lenken, steuern, denken – und unten wird das genau so ausgeführt. Meinen Sie, dass das mit Sprengers Grundformel aller Menschenführung – „Mitarbeiterführung ist Selbstführung“ – in Einklang steht? Ich nicht. Und es würde mich sehr wundern, wenn das Sprenger anders sähe.
Führung heißt in jedem Einzelfall ermöglichen, nicht nach Modell anschaffen. Der Sinn des Unternehmens ist das Wohlergehen der Menschen – und nicht das Funktionieren der Organisationsstruktur. Da kann ich mir den alten Marx nicht verkneifen: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen. Oder einfacher, wenn’s ums Management geht: Schuster, bleib bei deinen Leisten.
Wie weit wir damit kommen, lote ich gerne und jederzeit mit Ihnen aus, wo immer Sie mögen.
Ich danke Ihnen sehr für die Bereitschaft zur Auseinandersetzung und hoffe, bald wieder von Ihnen zu hören.
Mit herzlichen Grüßen / Wolf Lotter /brand eins
(1) Nur ein Beispiel: Fredmund Malik, Reinhard K. Sprenger und meine Wenigkeit haben sich 2004 in „Patient Deutschland“ (Deutsche Verlagsanstalt) http://www.amazon.de/Patient-Deutschland-Thilo-Bode/dp/3421056676 den Problemen einer zu bürokratischen und verkrusteten wirtschaftlichen Organisation angenommen. Ich schicke Ihnen gerne ein Exemplar zu, in dem Sie die Beiträge Sprenger/Malik/Lotter auf Differenzen untersuchen können. Meine ersten Begegnungen mit Fredmund Malik liegen in den frühen Neunzigerjahren.
(2) Siehe auch, nur beispielhaft, http://www.personalwirtschaft.de/de/html/news/details/3762/Mehr-als-jeder-zweite-Mitarbeiter-unzufrieden-mit-Fuehrungskraeften-