Technologie und Folgen

Erfahrene Technologiefolgen-Abschätzer, die ihr Leben lang Informationen über aktuelle Entwicklungen gesammelt, geordnet, bewertet haben, um daraus Einschätzungen, Empfehlungen und Visionen zu entwickeln, kommen zu der nüchternen Erkenntnis: Erst wenn man seine Hand auf die neue Technik legt, kann man ihre sozialen Implikationen beurteilen. Die Computer in den Büros werden nicht geliebt, sondern akzeptiert. Handys werden offensichtlich mehr als akzeptiert -trotz jahrelanger Diskussion über Elektrosmog. Aber Handybenutzer gehen das Risiko eben selbst und freiwillig ein. Da ist die Akzeptanz erfahrungsgemäß höher als bei einer Großtechnologie wie der Atomkraft, die höheren Orts beschlossen wurde. Kein Wunder, dass sich gerade hier die emotionalen Debatten hochgeschaukelt haben und die Argumentationsketten auf zwei Worte geschrumpft sind: nein, danke! Oder: ja, bitte! Technologiefolgen-Abschätzung - das klingt hässlich und führt in die Irre: Ein paar Schlaumeier suchen nach Schwächen. Die Technologiefolgen-Abschätzung hat mittlerweile eine ganze Reihe von Methoden und Instrumenten entwickelt. Im internationalen Konzert steht die deutsche Diskussion ganz ordentlich da. Selbst wenn sie nicht auf alle Fragen Antworten hat, weil ja niemand wissen kann, was die Zukunft bringt, so ist sie doch die Grundlage aller vernünftigen Technikdiskussion, wie sie von den gesellschaftlichen Akteuren - der Politik, der Wirtschaft, den Medien und nicht zuletzt den Bürgern - gerührt wird. Technologiefolgen-Abschätzung - das deutsche Wort klingt nicht nur hässlich, es greift auch gnadenlos zu kurz. Es suggeriert: Hier sind ein paar Ingenieure, abgeschirmt in ihren Laboratorien, die neue Maschinen entwickeln, gleichsam im luftleeren Raum; und dann kommen so ein paar Schlaumeier, die das Haar in der Suppe suchen. In Englisch heißt Technologiefolgen-Abschätzung " Technology Assessment". Das geht viel tiefer. Erstens: Technologie-Früherkennung. Die Suche nach Chancen und Möglichkeiten. Unentwegt scannt sie die technologisch aussichtsreichen Felder durch, identifiziert fruchtbare Ansätze und versucht, den weiteren Innovationsprozess zu fördern, sei es durch gezielte Forschung oder durch Markteinführungsprogramme. Zweitens: Technologiefolgen-Abschätzung im engeren Sinn. Nicht alles, was technisch machbar ist, ist auch sinnvoll. In den Siebzigern hat das amerikanische Office of Technology Assessment (OTA), die Wiege der ganzen Zunft, der US-Regierung empfohlen, kein Geld in die Entwicklung von Überschall-Passagier-Flugzeugen zu stecken. Die Argumente: zu laut, zu teuer, ökologisch verfehlt. So kam es, dass nur die Franzosen und die Briten die prestigeträchtige Concorde entwickelt haben. Aus heutiger Sicht war die OTA-Empfehlung durchaus weise. Die dritte Säule schließlich heißt Voraussicht. Sie wendet sich weniger an die Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik. Voraussicht konfrontiert die Bürger selbst in einer Art Zukunftswerkstatt mit technisch ausgereiften Visionen etwa einer künftigen Energie- oder Müllpolitik, sucht den Dialog und sieht ihre Aufgabe darin, frühzeitig Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) ist ganz annehmbar gelegen. Ziemlich mittig in Berlin, ganz in der Nähe der Hackeschen Höfe. Hier, im Hinterhof, sitzen sieben Wissenschaftler sowie zwei Sekretärinnen und schreiben Gutachten, hinzu kommen ein paar Experten von außen. Jährlicher Etat: knapp vier Millionen Mark. Das Leben eines Technologiefolgen-Abschätzers scheint gar nicht so übel. Man ist viel unterwegs, bevölkert Kongresse, schaut sich die neuesten Entwicklungen an, recherchiert, liest, schreibt - wenn man denn nur ein wenig mehr Echo auf seine Ergebnisse bekäme ... Das jüngste Werk des Hauses befasst sich mit der Brennstoffzelle, einer Technik, die so neu freilich nicht ist. Als der britische Physiker Sir William Robert Grove im Jahr 1839 seine "galvanische Gas-Batterie" erfand, konnte er nicht ahnen, dass sie einmal als eine der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts gelten sollte. Erst 100 Jahre nach der Erfindung kam die Brennstoffzelle zu ihren ersten spektakulären Einsätzen: in U-Booten und der Raumfahrt. Mittlerweile haben sich die führenden Fahrzeugbauer darauf verständigt: Wenn denn eine Technik das Herzstück des Automobils, den Verbrennungsmotor, jemals wird ersetzen können, dann ist es die Brennstoffzelle. Bis zum Jahr 2004 wollen Unternehmen wie DaimlerChrysIer, Ford und Honda mit dem neuen Antrieb auf dem Markt sein. Die Brennstoffzelle soll schlechtes Gewissen und Schadstoffe auf null reduzieren. Die Brennstoffzelle arbeitet geräusch- und geruchlos, außerdem ist ihr Wirkungsgrad deutlich höher als der des Otto-Motors. Wasserstoff und (Luft-) Sauerstoff reagieren in dem Aggregat zu Wasser - eine umgekehrte Elektrolyse. Von außen betrachtet, gibt sich die Brennstoffzelle ziemlich unspektakulär: ein paar Metallplatten aufeinander geschraubt, dazwischen eine Membran. Der im so genannten Stack (ein Aggregat, das aus mehreren Einzelzellen besteht) erzeugte Strom speist im Auto der Zukunft Elektromotoren. "Es sieht gar nicht so schlecht aus für die Brennstoffzelle", findet Dagmar Oertel vom TAB. Ihr Anspruch: ein realistisches, umfassendes und differenziertes Bild vom Stand der Entwicklung zu zeichnen. Und zwar in sämtlichen Einsatzfeldern, nicht nur im Hinblick aufs Fahrzeug, sondern auch auf die stationäre Energieversorgung, das eigene Kraftwerk im Keller und die Kleingeräte. Die Brennstoffzelle soll in Zukunft Notebooks für den steckerfreien Dauerbetrieb aufrüsten. Noch ist die Technik zu teuer; die Automobilindustrie peilt einen Mehrpreis des Brennstoffzellen-Fahrzeugs gegenüber dem Benziner von rund 5000 Mark an. Auch in der technischen Entwicklung bleibt noch einiges zu tun. Die Lebensdauer von stationären Brennstoffzellen, gleichgültig, ob sie im Klein- oder Großkraftwerk zum Einsatz kommen, ist bislang noch zu gering - gemessen an herkömmlicher Technik. Dann ist da noch die große Frage: Womit soll die Brennstoffzelle befeuert werden? Antwort: in aller Regel mit Wasserstoff. Wissenschaftler neigen zur Naivität - was die Welt zusammenhält, verstehen sie. Aber auch, was die Welt treibt? DaimlerChrysIer will seinen Wasserstoff aus Methanol, also aus Alkohol, an Bord des Fahrzeugs gewinnen. Shell setzt auf Benzin. Fossile Energieträger sind die Basis. Diese Abhängigkeit bleibt nach der TAB-Studie über die kommenden 20 bis 30 Jahre auch bestehen. Andererseits - und darin sieht das TAB den zentralen Punkt: Gerade weil die Brennstoffzelle aus fossilen wie auch aus regenerativen Quellen gespeist werden kann, öffnet sie ein technologisches Fenster und könnte eine Brücke bauen, hinüber zur solaren Wasserstoffwirtschaft, die ja schließlich einmal kommen muss. Wirklich Neues bringt die TAB-Studie nicht, aber eine klare Perspektive. Genau das ist der Job. Die Politik darf sich nun überlegen, ob sie die Brennstoffzellen-Technologie im Wettbewerb stärkt oder ob sie der Ansicht ist: Der Markt wird's schon richten. Das gilt übrigens auch für die Gentechnik. Die vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms ist nahezu abgeschlossen, die Daten liegen vor, allerdings ungeordnet, als riesiger Trümmerhaufen. Jetzt gilt es, die Zeichen zu lesen und zu verstehen, damit sie uns in absehbarer Zeit helfen, die Ursachen von Krankheiten zu begreifen und rechtzeitig einzugreifen. Einige wenige Buchstaben sind schon entziffert. In naher Zukunft wird die Arbeitsmedizin über gendiagnostische Tests verfügen, die Auskunft darüber geben, ob jemand allergisch auf bestimmte Stoffe reagiert. Diese Erkenntnis macht durchaus Sinn. Sie könnte etwa zu dem Rat führen: "Du mit deiner Veranlagung, gehst besser nicht in die chemische Produktion." In der wissenschaftlichen Pipeline sind auch Tests für die so genannten Volkskrankheiten: Krebs-, Herz-Kreislauf- oder Stoffwechsel-Erkrankungen wie Diabetes. Allerdings liegen die Dinge hier komplizierter, weil es eben nicht das eine auslösende Gen gibt. Außerdem haben Umwelteinflüsse entscheidendes Gewicht. Das Ergebnis eines gendiagnostischen Tests wird also nicht lauten: "Sie werden zwischen 40 und 50 ein Lungenkarzinom bekommen". Sondern: "Ihr Risiko, an einem Lungenkarzinom zu erkranken, ist um zehn Prozent höher als bei vergleichbaren Personen." Wie soll man darauf reagieren? Wahrscheinlich so, wie ein vernünftiger Mensch es bereits heute tun würde: mit dem Rauchen aufhören. Noch ist es in Deutschland nicht üblich, dass Arbeitgeber oder Versicherer auf solche Informationen zurückgreifen. Noch nicht. Stand der Technik ist jedoch bereits die vorgeburtliche Diagnose von genetisch bedingten Krankheiten. Schwangeren Frauen über 35 wird nahe gelegt, sich dem so genannten Triple-Test zu unterziehen, um eine Chromosomen-Anomalie beim Fötus auszuschließen. Praktisch ist die Altersgrenze bereits gefallen. Das TAB kommt zum Ergebnis, dass heute Qualität und Umfang der Beratung von Schwangeren " vielfach mangelhaft" sind. Aber gesetzt den Fall, die Beratung wäre angemessen, dann stünden Frauen möglicherweise vor einer Entscheidung, der sie nicht gewachsen sind. Also nicht in der theoretischen Frage (Was kann ich wissen?), sondern in der praktischen (Was soll ich tun?) liegen die Herausforderungen der genetischen Diagnostik. Dabei reden wir nicht über eine zukünftige Gentechnik, wenn es daran geht, Designer-Babys zu kreieren. Bisher ist diese Diskussionen vor allem auf die ärztlichen Standesorganisationen begrenzt; wenn sich nicht die Medien des Themas annehmen. Leonhard Hennen vom TAB fordert: "Wir brauchen ein Gendiagnostikgesetz!" Wissenschaftlich gebildete Menschen neigen manchmal zu Naivität. Da hat man sich jahrelang geplagt, zu begreifen, was die Welt denn so zusammenhält. Man will die gründliche Diskussion, die Tiefenströmungen erfassen, die Dinge auch gern mal zu Ende denken. Doch die Verhältnisse sind nicht so. Bestimmend ist der aktuelle, hektische, von Schlagzeilen diktierte Diskurs, der rasche Ergebnisse und Handlungsoptionen einfordert. Die Technikfolgen-Abschätzer vom TAB geben sich da keiner Illusion hin. "Ach, Sie haben schon mal was Grundlegendes zur genetischen Diagnostik gemacht?", heißt es am anderen Ende der Leitung. "Was, schon Anfang der Neunziger? Interessant! Sollte man unbedingt mal lesen." "Alles, was hier passiert", sagt Thomas Petermann vom TAB, "wird durch die Brille der Fraktionen bewertet." Nein, " triumphale Effekte" seien den Technikfolgen-Abschätzern selten gewährt, wenn sie ihre Berichte dem Deutschen Bundestag überließen. Doch ab und zu würde man "gedämpfte Freuden" erfahren. Man weiß sehr wohl um die eigene Wirkung. Wenn das "ausgewogene Gemurmel" des TAB gegen einen Brief des Bundesverbandes der Industrie steht, dann ist klar, welche Stimme im Berliner Chor sich bei den Parteien Gehör verschafft. "Das haben wir damals nicht gerafft", gesteht TAB-Mann Thomas Petermann. Gar nicht so lange her, Mitte der neunziger Jahre, hatten die Wissenschaftler eine Studie über Multimedia und das Internet vorgelegt - und seine Bedeutung kraftig unterschätzt. Da waren sie nicht die Einzigen. Nur die Freaks hatten damals schon so eine Ahnung, dass sich die Technik dermaßen schnell und tief in die Lebensprozesse der Gesellschaft einschreiben würde. Eine Lektion in Sachen Geschwindigkeit. Zurzeit brütet man über wirtschaftliche Perspektiven des elektronischen Handels. Das Problem ist ziemlich ähnlich. Niemand weiß, ob das Internet in fünf Jahren noch Internet heißt. Geschweige denn, wie es aussieht. Allerdings, die Vorzeichen in der öffentlichen Wahrnehmung sind jetzt umgekehrt: Heutzutage redet jedermann über eCommerce und seine glänzenden Perspektiven. Nach einer Studie von Forrester Research könnte Deutschland mit einem Umsatz von über 400 Milliarden Euro im Jahr 2004 Spitzenreiter unter den europäischen Ländern werden. Wird eCommerce der nächste Gold Rush? "Das Entwicklungstempo wird relativ behaglich sein", lautet die These von Petermann. Bislang werden rund ein Prozent meist herkömmliche Produkte und Dienstleistungen wie Bücher, CDs, Flugtickets, Bekleidung oder Autos per Mauskuck bestellt - bis die nächste Hürde von fünf Prozent genommen sein wird, und das dauert. Am raschesten verläuft die Entwicklung im Handel zwischen Unternehmen, B2B genannt, Business-to-Business. Immer mehr Firmen erkennen den Produktivitätsgewinn, wenn die Mitarbeiter, vom Chef bis zum Praktikanten, selbst ihren Bürobedarf übers Internet bestellen. Aber ist das schon eCommerce? Interne elektronische Kommunikation gibt es schon seit Jahrzehnten. Sei's drum, auch kleine und mittelständische Firmen werden über diesen Entwicklungspfad von den Großen gezwungen, Netzwerke zu bilden und ihre Logistik untereinander abzustimmen. eCommerce hat Chancen, ja, aber er könnte auch Logistikprozesse zerstören, den totalen Verkehrskollaps bringen. Was ist denn eigentlich der Kick am eCommerce? Es ist die neue Kundenorientierung, die nächste Umdrehung an der Individualisierungsschraube, höhere Geschwindigkeiten, Transparenz und Offenheit, auch mehr Konkurrenz - das ist die Idee dabei. Ist das nicht vage? Eine Vorstellung von der Zukunft des eCommerce, die mehr wäre als ein Marketing-Märchen, hat derzeit niemand. Genau das macht die Geschichte ja so spannend. Sicher ist: Die Großen wollen alle dabei sein. Ob Bertelsmann oder der Otto Versand. Sie besitzen bereits funktionierende Logistikketten, sie können es sich leisten, ein paar Versuche in den Sand zu setzen, weil sie die größere Kriegskasse haben. Und trotzdem haben die Kleinen eine Chance. Natürlich sind Amazon und BOL eine Herausforderung für den Buchhandel. Durchaus denkbar auch, dass der digitale Flohmarkt sich vergrößert. Selbst wenn es den Websites für gebrauchte Bücher am modrigen Antiquariats-Duft mangelt - so viele aktuelle Angebote passen in kein Regal. Wenn hier im C2C(Consumer-to-Consumer)-Bereich einmal die kritische Masse erreicht ist, das könnte etwas werden. Weitgehend ungeklärt ist nach wie vor die Verkehr- und Logistik-Seite. Im herkömmlichen Buchhandel wird die Ware palettenoder paketweise vom Verlag zum Grossisten, schließlich zum Einzelhändler transportiert. Im eCommerce dagegen ist die kleinste Einheit stets das Buch. Insider sprechen von einer Derationalisierung der Logistikprozesse. Erste Studien prophezeien den endgültigen Verkehrskollaps durch eCommerce. Eine Lösung wären Postfächer an belebten Orten, zum Beispiel Tankstellen. Der elektronische Buchhändler, Getränkeshop und Blumenladen könnten sich zusammentun, vor der Stadt ein gemeinsames Verteilerzentrum aufbauen und dann gemeinsam ausliefern - so ähnlich, wie's die Post schon lange macht. Teil zwei erscheint im nächsten Heft. (Info) Kontakt Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am Forschungszentrum Karlsruhe Technik und Umwelt (FZK): www.itas.fzk.de; Büro für Technikfolgenabschätzung (TAB): www.tab.fzk.de; Akademie für Technikfolgenabschätzung: www.ta-akademie.de




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