US-Großkanzleien: Diener des Dunkels?

„Die wollen nur eines: gewinnen.“

Der Investigativjournalist David Enrich hat ein Buch über die US-Wirtschaftskanzlei Jones Day geschrieben. Darin erhebt er schwere Vorwürfe: Die teuren Rechtsberater großer Unternehmen seien zu zynischen Geschäftemachern geworden, ohne moralische Werte. Im Interview erklärt er, wie er zu diesem harten Urteil kommt. Und warum deutsche Kanzleien möglicherweise noch nicht ganz so schlimm sind wie ihre US-Pendants.



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Fotocredit: David Enrich


Herr Enrich, wie sind Sie auf die Idee gekommen, zu den großen Wirtschaftskanzleien zu recherchieren?

David Enrich: Sie sind mir während meiner gesamten Laufbahn ständig begegnet. Bei jedem großen Wirtschafts- oder Finanzskandal waren sie im Spiel – zumindest irgendwo im Hintergrund. Dann hat mich beschäftigt, dass Anwälte super Quellen für uns Journalisten sind. Sie sind immer bestens informiert, reden viel und gern. Irgendwann aber wurde mir klar: Die machen das nur, um selbst im Hintergrund bleiben zu können.

Startet eine Zeitung mal eine ehrgeizige Recherche über eine Wirtschaftskanzlei, machen dieselben Anwälte sofort ihren Einfluss geltend, um die Berichterstattung zu unterbinden. Sie kommen in die Redaktion marschiert und drohen, dass sie nicht mehr mit uns reden. Das hat mich neugierig gemacht. Das sind Multimilliarden-Dollar-Unternehmen. Sie gehören eigentlich genau unter die Lupe genommen – das tat aber keiner.


„Viele Kanzleien haben sich längst von Werten wie Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Fairness verabschiedet. Sie sind jetzt einfach Unternehmen, die Geld verdienen müssen.“

In Ihrem Buch fokussieren Sie sich auf die internationale Wirtschaftskanzlei Jones Day. Die fiel im Jahr 2020 auf, weil sie das Trump-Lager juristisch dabei unterstützt hat, die Legitimität der Präsidentschaftswahl zu attackieren. Haben Sie sich deshalb für diese Kanzlei entschieden?

Ja. Als Trump 2020 versuchte, die Wahlen zu kippen, haben meine Kollegen und ich uns angeschaut, wer ihm dabei eigentlich hilft. Bis dahin hatte ich Jones Day kaum auf dem Radar. Unter Amerikas Anwaltskanzleien ist sie nicht die profilierteste, aber bei der Trump-Recherche tauchte ihr Name ziemlich schnell auf. Also habe ich mich mit ihrer Geschichte befasst. Und die fand ich faszinierend, vor allem weil sie in vielerlei Hinsicht für die Entwicklung der gesamten Branche steht.

Hat Jones Day eine konservative Agenda?

Ihre Führung ist jedenfalls deutlich konservativer als in den meisten amerikanischen Anwaltskanzleien üblich, wo es eher Demokraten gibt. Selbstverständlich sind auch das keine Linken, aber zumindest Leute, die mal ein liberales Lippenbekenntnis abgeben, etwa zu politischer Korrektheit. So was ist überhaupt nicht Jones Days Ding. Dort sieht man das so: Wir führen Rechtsstreit für unsere Mandanten – und wem das nicht passt, der kann gehen. In gewisser Weise habe ich vor dieser Haltung Respekt, zumindest ist sie ehrlich.

Jones Day verteidigt seine Mandanten, fast egal, was sie getan haben. Man unterstützt Unternehmen sogar dabei, gegen das Rechtssystem zu arbeiten, indem man Lobbyarbeit für Gesetzesänderungen betreibt oder bestehende Gesetzeslücken ausnutzt.

Es gab Zeiten, da sahen sich Anwälte als Stützen des Rechtssystems. Angesichts Ihrer Schilderung kann man den Eindruck gewinnen, die Anwälte von Jones Day befinden sich im Krieg mit dem System. Warum ist das so?

Na ja, freundlich ausgedrückt könnte man sagen, dass Wirtschaftsanwälte – übrigens nicht nur die von Jones Day – heute allesamt extrem aggressiv vorgehen, wenn sie Mandanten vertreten. Weniger freundlich ausgedrückt: Inzwischen haben sie mit dazu beigetragen, ein Rechtssystem zu erschaffen, das – zumindest in den USA – wohlhabende Privatpersonen und große Unternehmen eindeutig bevorzugt. Die zahlen keine Steuern mehr, sie verkaufen schädliche Produkte und entziehen sich dann der Verantwortung. Sie gestalten Gesetze im eigenen Interesse.

Wirtschaftskanzleien sind inzwischen selbst derart reich und mächtig, dass Richter, Klägeranwälte oder gar der Gesetzgeber es kaum noch mit ihnen aufnehmen können. Wenn Sie Raucher sind und wegen Ihrer Krebserkrankung einen Tabakkonzern verklagen, wird Jones Day Sie vernichten. So definiert man dort den Job.

In Deutschland ist es weniger üblich und auch schwerer, dass Verbraucher Unternehmen auf Schadensersatz verklagen. Stattdessen tritt zum Beispiel die Europäische Kommission gegen Unternehmen an. Ist das ein fairerer Kampf?

Klar. Deshalb bieten amerikanische Kanzleien das Thema Litigation in Europa oft gar nicht an. Jones Day etwa berät Unternehmen in Deutschland meines Wissens vor allem zu Patent- und Markenangelegenheiten und befasst sich unter anderem auch mit Regulierungsfragen. Es ist aber ein sehr viel kleineres Spektrum an Aufgaben als in den USA. Und soweit ich weiß, gilt das für alle amerikanischen Kanzleien, die in Europa aktiv sind.

Was unterscheidet deutsche und amerikanische Wirtschaftskanzleien noch?

Der staatliche Verbraucherschutz macht sicher einen Unterschied. Deutschland hat außerdem ein völlig anderes Rechtssystem. Es gibt keine Geschworenengerichte. Auch können Einzelfallentscheidungen geltendes Recht nicht verändern. All das verhindert, dass die Verhältnisse derart extrem werden wie in den USA.

Andererseits hat auch Deutschland seine Profis, siehe den Dieselskandal bei Volkswagen. Da hatten Manager entschieden, dass sie Täuschung und Betrug für eine gute Idee halten, und es gab ebenfalls Anwälte, um sie zu verteidigen. Oder der milliardenschwere Steuerbetrug über Cum-Ex-Geschäfte mit Dividenden …

In Ihrem Buch beschreiben Sie etwas, das mich an Cum-Ex erinnert hat, den „Texas Two Step“: Wenn Unternehmen Schadensersatzforderungen drohen, gründen sie in Texas dafür eine eigene Gesellschaft und lassen sie dann pleitegehen. Wie rechtfertigen Berater derartige Tricks?

Nicht nur in den USA hat sich das Rechtswesen grundlegend verändert. Viele Kanzleien haben sich längst von Werten wie Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Fairness verabschiedet. Sie sind jetzt einfach Unternehmen, die Geld verdienen müssen. Es geht nur noch um Wachstum und Rentabilität. Wenn Anwälte Vorschriften aushebeln oder Steuern vermeiden, dann tun sie das nicht mehr nur, weil ihre Mandanten sie darum gebeten haben. Sie nutzen solche Tricks auch zum Marketing. Sie dienen nicht mehr der Gerechtigkeit – sie verkaufen etwas.

Wie sehen das die Anwälte selbst? Sind sie zynisch, oder betrachten sie ihr Verhalten als eine Art Notwehr gegen einen überregulierten Staat?

Beides, glaube ich. Sie nutzen halt Schlupflöcher aus, ihre Loyalität gilt dem Mandanten und niemandem sonst – auch wenn es gefährlich wird. Wenn Kanzlei A sich ziert, diese neue, noch ausgefeiltere Steuersparstrategie anzubieten, wird es eben Kanzlei B tun. Ich halte das für extrem zynisch. Andererseits gibt es aber auch einiges zu kritisieren an Regulierung und Steuerpolitik in den USA. Also treffen viele Wirtschaftsanwälte womöglich einen wunden Punkt, wenn sie sagen: Der Gesetzgeber hat keine Ahnung von Wirtschaft.

Sie beschreiben einen Fall, bei dem Neugeborene an Hirnhautentzündung erkrankten, weil sie mit Bakterien verseuchte Babyfertignahrung getrunken hatten. Offenbar gibt es jede Menge wissenschaftliche Studien, die das beweisen. Jones Days Anwälte, die den Hersteller vertreten, versuchen trotzdem, Zweifel zu säen und die Opfer sogar zu diskreditieren. Ist es das, was Sie anprangern?

Ja. Abseits der Geschworenenbank wissen wir alle ganz genau, was da vor sich geht. Jones Day weiß es natürlich auch. Dort arbeiten kluge Menschen, denen außerdem klar ist, dass sie erheblich größere Ressourcen haben als der von den Eltern der Kinder beauftragte Kleinstadtanwalt auf der Gegenseite und dass es von vornherein ein einseitiger Kampf ist, den sie gewinnen werden. Für mich ist das der Gipfel des Zynismus.

Man sagt, Unternehmen brauchen nicht nur eine Betriebserlaubnis oder Zulassung, um gut zu wirtschaften, sondern auch gesellschaftliche Akzeptanz und „Purpose“, einen moralisch legitimierten Sinn. Wie passt das zusammen?

Unternehmen stehen unter dem Druck ihrer Aktionäre, vor allem in den USA, dort ist dieses kurzatmige Denken sehr ausgeprägt. Und wenn Anwaltskanzleien ihre lukrativen Etats behalten wollen, dann bringen sie schwammige Ratschläge wie „Achten Sie auf Ihren guten Ruf“ kaum weiter. Also wollen sie einfach nur noch eines: gewinnen.

Was könnte man dagegen tun?

Man darf auf jeden Fall wütend werden, dass es so ungerecht zugeht. Außerdem hoffe ich, dass möglichst viele Studierende und Dozenten an den juristischen Fakultäten mein Buch lesen werden. Die sind zu Fabriken verkommen, die Nachwuchs für große Anwaltskanzleien ausspucken. Die Studentinnen und Studenten werden – im Grunde ab dem Moment, in dem sie dort ankommen – auf eine Karriere in einer großen Wirtschaftskanzlei konditioniert.

Und dann will ich Journalisten erreichen. Die sollten ihr enges Verhältnis zu den Wirtschaftskanzleien überdenken und sie stattdessen genauer unter die Lupe nehmen. So könnte immerhin etwas sozialer Druck entstehen. Wenn die Welt weiß, wie sie arbeiten, fühlen sich Anwälte vielleicht nicht mehr ganz so wohl dabei.

Wie haben Leser auf das Buch reagiert?

Die Leute in den großen Anwaltskanzleien, mit denen ich gesprochen habe, waren natürlich nicht sehr glücklich. Jones Day hat meinem Verleger böse Briefe geschickt und zum Beispiel versucht, einen meiner Vorträge an einer Jura-Fakultät zu verhindern. Von vielen anderen Anwälten habe ich sehr positive Reaktionen erhalten. Viele Klägeranwälte oder Anwältinnen in öffentlichen Organisationen haben mir gesagt, dass das Buch sie inspiriert habe, dass es ihre Meinung vom Beruf geändert hat. An ein paar Jura-Fakultäten wird das Buch sogar an die Studierenden ausgeteilt.

Hatten Sie jemals Angst, selbst verklagt zu werden?

Klar, ich hatte meine schlaflosen Nächte. Dabei bin ich ganz offen an die Recherche herangegangen, mit nur ein paar Hypothesen. Außerdem bin ich vorsichtig. Ich habe einen umfassenden Faktencheck gemacht, meine Ansprechpartner wussten vorher genau, was im Buch vorkommen würde. Und wenn jemand einen Fehler gefunden hat, habe ich ihn korrigiert. Ich habe also journalistische Sorgfaltspflicht walten lassen. Und ich habe gute Anwälte. //

David Enrich, 43, ist Redakteur für Wirtschaftsermittlungen bei der US-amerikanischen Tageszeitung The New York Times. Zuvor war er Redakteur und Reporter beim Wall Street Journal. Der vielfach preisgekrönte Journalist ist Autor mehrerer Sachbücher und hat 2020 unter anderem eine große Recherche zu den Verwicklungen von Donald Trump und der Deutschen Bank vorgelegt („Dark Towers“).

In „Servants of the Damned“, was man mit „Diener der dunklen Seite“ übersetzen könnte, beschäftigt er sich mit dem Aufstieg der US-Wirtschaftskanzlei Jones Day. Aus einem kleinen Anwaltsbüro in Cleveland, Ohio, ist ein multinationaler Konzern mit über 40 Büros und mehr als 2500 Anwälten weltweit geworden. Enrich zeichnet die Geschichte von Jones Day minutiös nach, hat zahllose Interviews geführt, Akten gewälzt und Originalschauplätze besichtigt.

Jedes Kapitel ist ein abgeschlossenes Feature über Personen, Fälle oder die Gründung von Büros. Anhand dieser Miniaturen versucht Enrich ein ums andere Mal, seine These zu belegen: Große Wirtschaftskanzleien wie Jones Day sind heute profitorientierte Konzerne. Seit den Siebzigerjahren dürfen sie in den USA für ihre Dienstleistungen werben – ihre moralischen Ansprüche sind seitdem kontinuierlich gesunken. Inzwischen haben sie sich laut Enrich derart an die lukrativen Etats von Konzernen gewöhnt, dass sie für Geld buchstäblich alles tun. Das Rechtssystem in den USA, schreibt der Autor, sei dadurch bereits aus den Fugen geraten.

Jones Day selbst betont, dass Enrichs Buch „wenig mit der Realität“ zu tun habe. Außerdem missachte er, dass jeder das Recht auf einen juristischen Beistand habe – auch Unternehmen, die angeblich „unmoralisch“ handeln. In den USA hat das Buch gleichwohl große Aufmerksamkeit erregt. Die Washington Post nennt es „eine gute Beschreibung, wie Großkanzleien das Recht verfälschen“. Enrich lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in New York.

David Enrich: Servants of the Damned – Giant Law Firms, Donald Trump, and the Corruption of Justice Mariner Books 2022, 384 Seiten, 15,99 Euro.