Kämpferinnen für Recht und Gerechtigkeit

Die Kongress tanzt

Das Recht ist neutral – theoretisch jedenfalls. Doch nicht immer in der Praxis. Feministische Juristinnen versuchen das zu ändern.



Feminismus 2


/ Vor ein paar Tagen kam wieder so ein Fall rein. Da saß sie in ihrem Büro am Schreibtisch im Erker und telefonierte lange mit einer neuen Mandantin. Sehr lange. In die Leipziger Kanzlei konnte die Frau nicht kommen, denn ihr Lebensgefährte hatte sie so schwer verprügelt, dass sie liegen musste. Im Krankenhaus.

Ina Feige erklärte ihr die nächsten Schritte: wie sie dafür sorgen kann, dass der Mann nicht mehr in ihre Nähe kommen darf, und wie die Polizei das notfalls durchzusetzen hilft. Wie das in Zukunft so bleiben kann, wenn die Frau dazu entschlossen ist, was mit den Kindern passiert, wie das Geld für den Unterhalt beschafft wird und welche schützenden und hilfreichen Netzwerke die Misshandelte nutzen kann und sollte.

„Ich mache schon auch Ansagen“, sagt Ina Feige, Rechtsanwältin, Feministin, Aktivistin. „Ich bin keine Psychologin und nicht die beste Freundin, aber ich führe die Frauen da durch.“ Es immer mit dem Fegefeuer der Beziehungshöllen zu tun zu haben – ist das nicht fürchterlich? „Ach“, sagt Feige, „das, was ich für die Frauen in diesen Situationen tun kann, mache ich unheimlich gerne.“

In der Regel macht die Anwältin das, was sie an ihrem Beruf liebt, für recht wenig Geld, denn oft sind Frauen in Ausnahmesituationen auf Verfahrens- und Prozesskostenhilfe angewiesen, also dass der Staat die Anwältin bezahlt. Das ist häufig das Minimum nach dem Vergütungsgesetz, wenn überhaupt. Auch bei Scheidungen oder Konflikten über Sorgerecht oder Unterhalt sind Frauen in der Regel die Schlechterverdienenden – nach deren Einkünften sich das Honorar richtet. Im Osten kommt hinzu, dass viele Frauen mit einem speziellen Verständnis von Gleichberechtigung vom Ex-Partner kein Geld wollen, obwohl es ihnen zustünde und sie es dringend bräuchten. „Wir verzichten hier schon auch auf etwas“, sagt Feige über ihr „Anwältinnenbüro“, zu dem sie sich vor bald 20 Jahren mit zwei Kolleginnen zusammengeschlossen hat.

Ina Feige, Susette Jörk und Nadine Maiwald vertreten grundsätzlich nur Frauen und verzichten auf so manches lukrative Mandat, ob im Familien-, Arbeits-, Sozial- oder Strafrecht, auf das sie sich jeweils spezialisiert haben. Trotzdem weiß die 51-Jährige schon beim Gespräch Anfang des Jahres, dass der Workshop, den sie im Mai auf dem nächsten Feministischen Juristinnentag halten will, ausgebucht sein wird.

Vor allem angehende Juristinnen und Berufsanfängerinnen möchten dort von der Leipziger Anwältin lernen, wie das geht: eine Kanzlei von Frauen für Frauen zu etablieren, die sich trägt, mit der Familie vereinbaren lässt, sie unabhängig vom Partner ernährt – und in der sie ihre Arbeit konsequent „selbstbestimmt und selbstverantwortlich“ nach antidiskriminierenden und feministischen Kriterien ausrichten können. Die drei vom Anwältinnenbüro vertreten juristisch nur das, was sie politisch, ethisch und moralisch vertreten können.

Feminismus 1

Ina Feige vertritt seit 20 Jahren ausschließlich Frauen und tritt auch politisch für deren Rechte ein.


„Ich bin keine Psychologin und nicht die beste Freundin, aber ich führe die Frauen da durch.“
Ina Feige

300 Juristinnen unter sich

Der Ort wechselt jedes Jahr, aber der 47. Feministische Juristinnentag (FJT) wird dieses Mal zufällig wieder da stattfinden, wo er einst ins Leben gerufen wurde: in Frankfurt am Main. 300 Frauen – Studentinnen und Lehrende, Richterinnen und Staatsanwältinnen, Rechtsanwältinnen und Justiziarinnen – werden aus ganz Deutschland zusammenkommen, um sich über ihre Erfahrungen, Kämpfe, Erfolge und Niederlagen auszutauschen und auch darüber, wie es auf ihren jeweiligen Fachgebieten vorangeht.

Der Verein, der hinter dem FJT steht, gefördert auch mit Mitteln des Bundes, veröffentlicht seit 40 Jahren die Fachzeitschrift Streit, im Gespräch nur die Streit genannt, was passt: So manche für Frauen wegweisende Urteile, Begründungen oder Etappensiege wurden zuerst (oder ausschließlich) hier veröffentlicht und damit der Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht.

• „Urteil des BAG zur Entgeltgleichheit: Vermutung unmittelbarer Diskriminierung“

• „Frage nach der Schwangerschaft auch im befristeten Arbeitsverhältnis unzulässig“

• „Gewalt unter der Geburt – Bietet ein Arzthaftungsprozess Schutz?“

• „Mindestlohn bei 24-Stunden-Pflege“

• „Kein Ausschluss der Frauen bei ,Brauchtums-Fischen‘ im Allgäu“.

Schon in den Inhaltsverzeichnissen der jüngsten Ausgaben zeigt sich, dass an alle Rechtsfragen feministisch herangegangen wird. Das unterscheidet feministische von konventionellen Juristinnen. Letztere, sagt Sibylla Flügge, Juraprofessorin in Rente, „nehmen die Gesetze, wie sie sind. Wenn sie aber davon abweichen wollen, weil sie das System kritisch sehen, als diskriminierend, autoritär oder menschenrechtsfeindlich, müssen sie zwangsläufig interdisziplinär aufgestellt sein. Sonst verstehen sie gar nicht, was patriarchale Gesetzgebung ist.“

Sibylla Flügge war 1978 eine der Mitbegründerinnen des FJT. Die 73-Jährige lehrte von 1994 bis 2015 das „Recht der Frau“ an der Frankfurt University of Applied Sciences, die dieses Jahr der Veranstaltungsort sein wird. Der Posten musste von einem fortschrittlichen Mann exakt so zugeschnitten werden, damit eine Frau an der damals noch Fachhochschule heißenden Institution eine Professur erlangen konnte. Das ist nur eines von vielen Details in Flügges Biografie, die ahnen lassen, warum sich in der Lehre wie in der Praxis und auch auf dem Arbeitsmarkt unter Juristinnen eine robuste feministische Strömung etabliert hat. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur die im Grundgesetz verbriefte Gleichstellung von Mann und Frau peu à peu Wirklichkeit werden zu lassen, sondern eine diskriminierungsfreie Gesellschaft überhaupt. Dass die noch nicht existiert, zeigt schon ein Blick auf den Gender-Pay-Gap, also die Lücke zwischen den Durchschnittsstundenlöhnen von Männern und Frauen: 2022 betrug sie unbereinigt 18 Prozent – in den östlichen Bundesländern immerhin nur 7 Prozent.

Sibylla Flügge war Anfang der Siebzigerjahre Mitglied des legendären Frankfurter „Weiberrats“, der im Rahmen der 68er-Bewegung entstanden war und politisch links außen sozialisiert. Nach dem Jurastudium hatte sie vor, als selbstständige Rechtsanwältin Fuß fassen, doch Kolleginnen, die das zu dieser Zeit schon versucht hatten, erwirtschafteten häufig nicht einmal ein Existenzminimum. Aber Flügge wollte auf keinen Fall von einem Ernährer abhängig sein. So bemühte sie sich darum, angestellt zu werden; doch kein Anwalt, der Personal suchte, wollte eine junge Frau beschäftigen, zumal sie es 1977 nach der Geburt ihres ersten Kindes wagte, nach Teilzeitmodellen zu fragen. So landete sie in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.

Sie gründete in dieser Zeit nicht nur einen Kinderladen mit, weil damals die öffentliche Kinderbetreuung in Westdeutschland mangelhaft war und sie sich so die Möglichkeit schuf, auch mit dem zweiten Kind, das 1981 kam, ihrem Beruf nachzugehen. Sie erkannte auch, dass sie lieber wissenschaftlich arbeiten und politisch wirken wollte.

Die Zeit im Weiberrat, den es bis Mitte der Siebzigerjahre gab, war geprägt vom Kampf gegen den Abtreibungsparagrafen 218 und das teils noch stark vom christlichen Weltbild geprägte Strafrecht: Wurde eine verheiratete Frau von ihrem Ehemann vergewaltigt, war das noch bis 1997 kein Straftatbestand. Die Einrichtung von Frauenhäusern als Schutzräume für Misshandelte ab den Siebzigerjahren war eine Reaktion der feministischen Gruppen darauf.

Heute gibt es bundesweit viele Frauenhäuser, doch ihre Finanzierung ist ähnlich prekär wie vor einem halben Jahrhundert – Bund, Länder oder Kommunen müssen keine vorhalten. Das ginge auch anders, sagt Sibylla Flügge. Der Staat könne schnell verlässlich finanzierte Strukturen schaffen, „wie man an den Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen sieht“. Die mussten im Zuge der Reform des Paragrafen 218 her.

Wo ein Wille ist, ist bekanntlich auch ein Weg. Nur sind die Wollenden oft leider nicht die Wegbereiter. Um die Ursachen von Ungleichbehandlung zu beseitigen, mussten die Frauenrechtlerinnen deshalb an die Wurzeln des Übels gelangen: die Paragrafen sowie ihre Anwendungen und Auslegungen. Also versammelten Flügge und ihre Mitstreiterinnen 1978 das erste Mal die „Jurafrauen“ in Frankfurt, die ihre Treffen ab 1985 als Feministischen Juristinnentag betitelten.

Die „Fachstellungnahmen“ vom vorigen Kongress, der in Leipzig stattfand, zeigen die Bandbreite der Themen:

• Es wird ein Verbandsklagerecht gefordert, um das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz anzuwenden, damit Einzelne nicht abgeschreckt werden, gegen Benachteiligung oder Diskriminierung vorzugehen.

• Alle Familienrichter und -richterinnen seien zur Aus- und Weiterbildung zu verpflichten im Sinne der Istanbul-Konven-tion, also in Fragen zum Schutz vor geschlechtsbezogener Gewalt.

• Gegen Diskriminierung im digitalen Raum reiche der Rechtsschutz nicht aus. Die Rechtsdurchsetzung subjektiver Rechte müsse kollektiviert und institutionalisiert werden, und es brauche mehr Verbote.

Ina Feige fuhr vor 26 Jahren das erste Mal mit Kommilitoninnen zum Treffen. Sie war mit ihrem zweiten Kind schwanger. Sie weiß noch, wie sie den Veranstaltungsort betrat, eine Weile zuhörte und dachte: „Boah, so viele, die so drauf sind wie du! Und was die alles wissen! Was die alles interessiert!“

Dieses Staunen und befreite Aufatmen eigentlich smarter Juristinnen kann Sibylla Flügge erklären: „Wenn Frauen unter sich sind, brauchen sie sich nicht für das zu rechtfertigen, was sie erleben und warum sie daran etwas ändern wollen.“ Wären Männer dabei, fingen Frauen häufig ein „Doing Gender“ an – sie fielen in Rede und Habitus in traditionelle Geschlechterrollen. Auch deshalb bleibt der FJT exklusiv Frauen vorbehalten – oder, wie Flügge sagt, „Menschen, die als Frauen sozialisiert wurden oder diskriminiert werden“.

Als Ina Feige von ihrem ersten Kongress nach Hause kam, las sie erst einmal feministische Rechtstheorie. Fremd war ihr politische Bildung nicht: Im Umfeld eines linksalternativen Kulturzentrums hatte sie sich während des Studiums gegen Neonazis und für geflüchtete Frauen engagiert. Es sei aber keineswegs so, betont sie, dass sie bei jeder Frau in Not, die sich an sie wende, „erst eine Gesinnungsprüfung vornehme“.

Feminismus 3

Als Professorin in Rente, als Feministin niemals: Sibylla Flügge war schon beim ersten FJT in Frankfurt dabei.


„Die feministische Juristin schaut sich die unterschiedliche Wirkung des Rechtssystems auf Männer und Frauen an.“
Sibylla Flügge

Ein wegweisendes Urteil

Was unterscheidet eine feministisch engagierte Juristin von anderen? „Sie schaut sich die unterschiedliche Wirkung des Rechtssystems auf Männer und Frauen an“, sagt Sibylla Flügge. „Sie beachtet die diskriminierenden Strukturen, sodass Forderungen erhoben und Gesetzentwürfe gemacht werden können, die dem entgegenwirken.“

In der Praxis ist das ein zäher Kampf. Antidiskriminierungsgesetze sind gut, doch schwer durchzusetzen – und die psychische Belastung der einzelnen Klägerin ist groß. Als Ina Feiges Bürokollegin Susette Jörk Mitte Februar für eine Mandantin ein wegweisendes Urteil zur Entgeltgleichheit von Männern und Frauen vor dem Bundesarbeitsgericht in Erfurt erstritten hatte und die Medien bundesweit berichteten, knallten in Leipzigs Südvorstadt zwar die Korken, doch der Weg dahin war lang und steinig – die Mandantin hatte schon aufgeben wollen.

Als Außendienstmitarbeiterin eines sächsischen Metallbetriebes hatte die Frau 2017 zufällig festgestellt, dass sie monatlich rund 1000 Euro weniger verdiente als ein zwei Monate zuvor eingestellter Mann, der die gleiche Arbeit machte. In den ersten beiden Instanzen verlor sie, denn Arbeits- und Landesarbeitsgericht fanden die Argumente des Arbeitgebers zündend: Eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts läge nicht vor – der Mann habe bloß besser verhandelt. Dieser Auffassung widersprach das höchste Arbeitsgericht.

Eine Nachzahlung von 14 500 Euro und eine Entschädigung von lediglich 2000 Euro stehen der Klägerin nun zu – nach vier Jahren Rechtsstreit. Zum Glück stand ihr und den Anwältinnen die „Gesellschaft für Freiheitsrechte“ zur Seite, die solche Musterklagen über Stiftungsgelder, Mitgliedsbeiträge und Spenden finanziert. Die Klägerin sagte nach dem Urteil, sie widme den Sieg ihren Töchtern. Sie wolle ihnen Mut machen, stets für ihr Recht zu kämpfen. Dass die Frau die Arbeitsstelle vor Jahren aufgab, stand nicht in den Pressemitteilungen.

Auch deshalb strebt der FJT ein Verbandsklagerecht an. „Wenn wir das hätten, könnten wir mit strategischer Prozessführung viel erreichen“, sagt Altprofessorin Flügge. „Der Feministische Juristinnentag könnte in seinen Veranstaltungen bestimmte Rechtsbereiche oder Fragen herausarbeiten, in denen sich Musterklagen anbieten.“

Viele Kongresse, Messen und Fachtagungen sind dafür bekannt, dass dort gut gefeiert wird. Gilt das auch für die feministischen Juristinnen? „Oh, ja“, sagt Flügge und lacht. „Es gibt immer eine richtig gute Party. Die ist auch deshalb wichtig, weil man sich da in einem nicht hierarchischen Setting trifft. In der Universität kommt es eher selten zu leichtfüßigen Diskussionen. Aber beim Kongress treffen sich Professorin und Studentin auf Augenhöhe.“

Vergangenes Jahr in Leipzig sagte eine junge Anwältin in „Justitias Töchter“, einem Podcast des Deutschen Juristinnenbundes, was sie am „geschützten“ Raum des FJT besonders schätzt: „Dass es ’ne Tanzparty gibt, auf der wir einfach unser Glas abstellen können und keine Angst haben müssen, dass uns da jemand etwas reintut.“ Kurz überlegt man, ob das nicht etwas übertrieben ist, denkt dann an eine Freundin der Töchter, die unter K.-o.-Tropfen ebenso missbraucht wurde wie die angehende Ärztin aus der Nachbarschaft, und weiß: leider nein. //