ESG – was jetzt auf die Unternehmen zukommt

Die grüne Revolution

Viele Unternehmen betrachten Nachhaltigkeit bis heute als nette Option. Damit ist es bald vorbei, die EU macht Druck. Was den Unternehmen droht, wen es trifft und wer hilft – ein Überblick.





Dieser Artikel erschien in der Ausgabe brandeins /thema Wirtschaftskanzleien 2023.

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/ Ursula von der Leyen war erst ein paar Tage im neuen Amt, als sie am 11. Dezember 2019 ihre Pläne für einen „European Green Deal“ vorstellte. Die Präsidentin der EU-Kommission skizzierte ihre Vision für ein Europa, das bis 2050 klimaneutral sein soll. Dabei gehe es um „unsere neue Wachstumsstrategie“, um ein „Wachstum, das mehr zurückgibt, als es nimmt“. Kurz darauf brach eine globale Pandemie aus. Anfang 2022 überfiel Russland die Ukraine. Das Klima, sein Schutz und der Green Deal rückten in den Hintergrund.

Doch nun sind sie präsenter denn je. Denn während die Welt über Corona und Wladimir Putin diskutierte, brachte Brüssel ein Vorhaben nach dem anderen auf den Weg. Mal ging es direkt um den Klimaschutz, wie bei der Reform des europäischen CO2-Emissionshandels, mal um Vorgaben wie die „Taxonomie“, die indirekt wirken soll, indem sie bestimmt, welche Branchen und Akteure als ökologisch nachhaltig gelten und für Investitionen, Kredite und Versicherungen geeignet sind. Vor allem jedoch hat die EU neue Richtlinien auf den Weg gebracht, die Europas Unternehmen umkrempeln werden. Weil sie Nachhaltigkeit ins Zentrum des Wirtschaftens rücken. Aus einem „Nice to have“ wird ein „Must have“.

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Die Brisanz liegt auf der Hand. Deutschland hat mehrere trockene Sommer hinter sich, samt verdorrten Feldern, eingeschränkter Schifffahrt und Produktionsausfällen. Ein spektakuläres Urteil des Bundesverfassungsgerichts befand 2021, dass der Staat die Interessen künftiger Generationen stärker in den Blick nehmen muss. Das Ende des billigen russischen Gases lässt Wind- und Solarkraft attraktiver erscheinen. Und auch Manager werden von ihren Kindern gefragt, was sie gegen den Klimawandel unternehmen.

Immer häufiger fallen jetzt das Ökologische und das Ökonomische, das Sinnvolle und das Nützliche zusammen.

Nachhaltigkeit ist ein Begriff aus der gesellschaftlichen Debatte. International wurde er durch eine Kommission der Vereinten Nationen geprägt, die 1987 in einem Bericht festhielt, eine nachhaltige Entwicklung sei „eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“. Dieser Gedanke wurde später auf drei Dimensionen ausgeweitet: Ökologie, Ökonomie und Soziales. Derzeit liegt der Fokus meist auf dem „grünen“ Aspekt, doch an sich geht es um einen Dreiklang.


Aus einem „Nice to have“ wird ein „Must have“

Was das Thema für Unternehmen so schwierig macht: Es gibt keine rechtliche Definition, weder für Nachhaltigkeit noch für das Kürzel ESG (Environmental, Social and Governance), das häufig synonym verwendet wird und aus der Finanzwelt kommt, wo es Anleger oder Banken vor allem auf die finanziellen Folgen von Nachhaltigkeitsrisiken aufmerksam machen soll. Zudem gibt es kein „Nachhaltigkeitsrecht“, das sich klar abstecken ließe. Eher drei konzentrische Kreise: im Kern Rechtsgebiete, die Zentrales regeln, wie Umweltschutz, Wasser, Emissionen, Energie und Abfall. Drum herum Normen, die Unternehmen in den Blick nehmen und ihre Transformation fördern sollen. Und weiter außen allgemeine Rechtsfelder, auf die der Gedanke zunehmend ausstrahlt, wie das Arbeits-, Vergütungs- oder Aktienrecht.

Annika Bleier, die bei der Wirtschaftskanzlei GvW Graf von Westphalen die ESG-Beratung koordiniert und die Fachgruppe beim Bundesverband der Wirtschaftskanzleien in Deutschland leitet, sagt: „Nachhaltigkeit ist zu einer gesellschaftspolitischen Zielbestimmung geworden, an der sich sowohl die Rechtssetzung auf allen Ebenen orientiert – EU, Bund und Länder – als auch die Rechtsanwendung und die Rechtsprechung. Auf diese Weise wird das Recht zunehmend ‚vernachhaltigt‘ und der Transformationsprozess rechtlich vollzogen.“ Das sei einerseits normal – Recht entwickle sich. Andererseits sorge das für viel Ratlosigkeit.

„Niemand kann zum jetzigen Zeitpunkt vollumfänglich einschätzen, in welchen Bereichen sich diese Entwicklung in welcher Geschwindigkeit vollzieht. Den Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts hat zum Beispiel keiner erwartet. Das erzeugt bei den Unternehmen eine große Unsicherheit, die deutlich zu spüren ist.“

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Schluss mit lustig: Die EU-Mitgliedsstaaten werden mit Blick auf die Umwelt umdenken und umsteuern müssen.

Was auch neu ist: der starke Bezug auf internationales Recht. Richter stützen sich auf Berichte des Weltklimarats. Das deutsche Lieferkettengesetz verweist auf 14 Konventionen, etwa der Internationalen Arbeitsorganisation. Die EU zieht das Pariser Klimaabkommen heran. „Diese Vertragswerke richten sich an Staaten, werden aber plötzlich für die Wirtschaft relevant. Auf diese Weise werden Unternehmen, die selbst keine Subjekte des Völkerrechts sind, massiv an originären Staatsaufgaben beteiligt. Ein Grund dafür ist, dass die faktische Macht der Unternehmen oftmals höher ist als die einiger Staaten. Dies gilt insbesondere für Länder, in denen es zu besonders gravierenden Menschenrechtsverletzungen kommt.“ Aus dieser Entwicklung erwachsen neue juristische Pflichten oder Probleme.

Eine Menge neuer, strikter Vorschriften. Die auf den ersten Blick langweiligste, tatsächlich aber spannendste ist die Corporate Sustainability Reporting Directive (kurz CSRD), die am 5. Januar in Kraft getreten ist und von den EU-Mitgliedsstaaten bis zum 6. Juli 2024 umgesetzt werden muss. Sie weitet die Berichtspflichten zur Nachhaltigkeit, die bisher überschaubar sind und seit 2017 in Form „nichtfinanzieller Erklärungen“ erfüllt werden, massiv aus. Die Idee: Mehr Transparenz nach außen erfordert neue Strukturen, Systeme und Prozesse im Innern.

Dafür wird die EU-Kommission noch 2023 zwölf neue verbindliche Berichtsstandards erlassen. Ihr aktueller Umfang: 339 Seiten, plus 134 Seiten Anhänge. Unternehmen müssen nur Pflichtstandards (wie Nr. 3 zum Klima) und solche, die nach einer „Wesentlichkeitsanalyse“ für sie relevant sind, adressieren. Die Angaben dazu werden jedoch der klassischen Finanzberichterstattung gleichgestellt. Auch sie werden Teil des Lageberichts, auch sie müssen von Externen geprüft werden, auch sie sollen maschinenlesbar – und damit vergleichbar – werden. Die Stakeholder von Unternehmen sollen sich ein umfassendes Bild machen können.

Auch inhaltlich betritt die CSRD Neuland. Zum einen verankert sie das Prinzip der „doppelten Wesentlichkeit“. Danach müssen Unternehmen erstens darlegen, wie sich Nachhaltigkeitsfragen auf ihr Geschäft auswirken (sprich: wo Risiken für den finanziellen Erfolg drohen – Outside-in), und zweitens, wie sich ihr Geschäft auf Menschen und Natur auswirkt (also wo sie Risiken produzieren – Inside-out).

Zum anderen müssen Unternehmen viele Daten sammeln, auswerten, aufbereiten und kommunizieren, insbesondere zu der Frage, wie sie „sicherstellen“ wollen, dass ihre Strategie und ihr Geschäftsmodell mit dem Ziel einer Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius vereinbar sind – und mit dem EU-Ziel der Klimaneutralität bis 2050. Samt Angaben zu Maßnahmen, Finanzierung, Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen, Zielen und bisherigen Fortschritten. „Das zwingt Unternehmen, die Reise Richtung Net Zero jetzt konkret zu planen und dann auch offenzulegen“, sagt Uwe Erling von der Wirtschaftskanzlei Pohlmann & Company. „Jeder, der glaubt, dass ihn das Pariser Abkommen nicht betrifft, weil es Völkerrecht ist, wird nun eines Besseren belehrt.“ Europas Unternehmen werden sich fragen müssen, ob sie Sparten verkaufen, neue Produkte und neue Technologien entwickeln oder alte Zulieferer austauschen müssen.

Die bisherigen EU-Berichtspflichten zur Nachhaltigkeit galten für gut 500 deutsche Unternehmen. Die CSRD betrifft geschätzt 15 000 deutsche Firmen direkt – und das sehr bald. Ab 2025 müssen Unternehmen „von öffentlichem Interesse“ mit mehr als 500 Mitarbeitern Rechenschaft (für das Geschäftsjahr 2024) ablegen. Und 2026 trifft es (für das Geschäftsjahr 2025) erstmals alle Unternehmen, die zwei von drei Kriterien erfüllen:

- mehr als 250 Mitarbeiter
- ein Umsatz von mehr als 40 Millionen Euro
- eine Bilanzsumme von mehr als 20 Millionen Euro.

Selbst für kleinere Unternehmen gilt die CSRD, sofern sie kapitalmarktorientiert sind, also an der Börse notiert oder Emittenten von Anleihen. Sie müssen erstmals 2027 (für das Geschäftsjahr 2026) berichten.

Wer die Kriterien der CSRD nicht erfüllt und sich deshalb sicher wähnt, irrt. Denn da gibt es zum einen die vielen immer strikteren Vorgaben auf Finanzierungsseite, die über den Umweg von Banken, Versicherern und Investoren bald jeden treffen, der Kredite, Versicherungen oder strategische Partner braucht.


Jeder, der glaubt, dass ihn das Pariser Abkommen nicht betrifft, weil es Völkerrecht ist, wird nun eines Besseren belehrt.
Uwe Erling

Zum anderen verlangt die CSRD von den berichtspflichtigen Unternehmen auch Informationen zu Risiken ihrer Lieferkette. Die Unternehmen werden von ihren Zulieferern und Dienstleistern also künftig verbindliche Erklärungen darüber verlangen, wie nachhaltig sie arbeiten, wo Risiken existieren und was sie dagegen unternehmen. In diesen Fällen kommt der Druck nicht vom Staat, sondern von den eigenen Kunden. Und er wird wohl noch 2023 durch eine zweite Richtlinie verstärkt, die das deutsche Lieferkettengesetz erweitern und das Ziel von maximal 1,5 Grad Celsius Erderwärmung ebenfalls zur Maßgabe machen wird.

Birgit Spießhofer, bei der nach Mitarbeiterzahl weltweit größten Wirtschaftskanzlei Dentons in Europa verantwortlich für das Thema Sustainability, sieht einen blinden Fleck: „Die EU-Gesetzgebung hat sich immer sehr stark auf die Unternehmen konzentriert, die direkt berichtspflichtig sind. Was völlig unterbelichtet geblieben ist, sind die Unternehmen, die über die Wertschöpfungsketten beteiligt sind. Die sind richtig gekniffen. Das wird für viele ein erheblicher bürokratischer Aufwand.“


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Wir sind überzeugt, dass die Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit eine große Chance für Unternehmen bietet. Um sie zu nutzen, sollten Führungskräfte der ganzheitlichen Nachhaltigkeitstransformation höchste Priorität einräumen: Jetzt gilt es, Menschen zu befähigen und Ressourcen für die Umsetzung zu mobilisieren. Für uns, für die Gesellschaft, für unseren Planeten.

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Alexander Bassen,
Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Hamburg, ist Kopf einer deutschen Pilotgruppe, die die Entwicklung der neuen EU-Standards begleitet und sich für die Belange des Mittelstands einsetzt. Gebildet wurde sie vom Rat für Nachhaltige Entwicklung und dem DRSC, der deutschen Instanz für Berichtsstandards.

Herr Bassen, gibt es Schätzungen, wie viele deutsche Unternehmen indirekt von der CSRD betroffen sind?

Alexander Bassen: Nein. Aber schon die Zahl der direkt betroffenen Firmen – 15 000 – ist beeindruckend. Und wenn man überlegt, wie viele Lieferanten gerade auch die großen Unternehmen haben, wird es ein Vielfaches dessen sein. Viele kleinere Unternehmen haben noch keine Vorstellung, dass sie von der Richtlinie betroffen sein werden – und in welchem Umfang.

Worauf müssen sie sich einstellen?

Die Diskussion läuft auf Hochtouren. Aufbauend auf den zwölf neuen EU-Nachhaltigkeitsstandards, werden gerade gesonderte Standards für börsennotierte kleine und mittlere Unternehmen (KMU) beraten. Im April wird es dafür einen Entwurf geben, im November werden die Standards an die EU-Kommission übergeben, die sie bis Ende Juni 2024 erlassen muss.

Auch für nicht börsennotierte KMU sind kurzfristig freiwillige EU-Standards geplant. Der Fokus unserer Arbeit liegt dabei auf den Unternehmen, die indirekt von der CSRD betroffen sein werden. Die Idee ist, diese KMU zu entlasten und einen freiwilligen Standard zu unterstützen, der Mindestkriterien erfüllt und anschlussfähig ist für die Unternehmen, die berichtspflichtig sind – damit sie nicht alle separat zu ihren Lieferanten gehen und unterschiedliche Dinge verlangen.

Wie soll die Belastung für KMU begrenzt werden?

Für Mittelständler ist das, was in der EU künftig berichtet werden muss, viel zu umfangreich. Es ist zu erwarten, dass für sie die Zahl der relevanten Standards oder der Umfang der Standards reduziert wird. Vielleicht wird es auch eine Kombination aus beidem.

Die CSRD ist ein Mammutprojekt. Wird der Mittelstand stemmen können, was auf ihn zukommt?

Allen Beteiligten – auch in Brüssel – ist die Problematik klar. Zudem sind viele Wirtschaftsvertreterinnen und -vertreter in den Prozess eingebunden, auch die nationalen Ministerien werden ihren Einfluss geltend machen. Ich bin daher optimistisch, dass das, was am Ende herauskommt, für KMU umsetzbar sein wird.

Die finale Fassung der CSRD enthält keine einheitlichen Sanktionen. Der Umgang mit Verstößen entscheidet sich bei der Umsetzung in nationales Recht. In Deutschland können – Stand heute – unrichtige Angaben in der nicht finanziellen Erklärung für das Unternehmen Geldbußen in Millionenhöhe (prozentual zum Umsatz) und für Führungskräfte Freiheitsstrafen von mehreren Jahren nach sich ziehen.

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Das Bild mit den blühenden Landschaften wurde schon oft strapaziert – hier passt es: Sie sind das Ziel.

Fast wichtiger aber noch findet ein General Counsel, Chefjurist in der deutschen Dependance eines globalen Konzerns, den Druck der eigenen Stakeholder. „In Interviews mit Bewerbern ist die erste Frage: Was tut ihr in Sachen Nachhaltigkeit?“, sagt der Mann, der anonym bleiben möchte. „Investoren sehen Klimarisiken als Investitionsrisiko. Wenn wir in Europa große Kredite brauchen, schicken uns zwei von drei Banken detaillierte Fragen zu ESG. Selbst Wirtschaftskanzleien fragen sich inzwischen: Wen wollen wir eigentlich vertreten?“

Der wichtigste Treiber seien mittlerweile die Kunden. Sie verlangten nicht nur mehr Nachhaltigkeit, sie zahlten dafür auch extreme Zusatzpreise. Vielen Unternehmen sei inzwischen klar, dass sie ihre Klimabilanz verbessern müssten, wenn sie überleben wollten. Der Kauf von Emissionszertifikaten werde schon bald sehr teuer sein. „Irgendwann können Sie nicht mehr produzieren.“

Die strengen Vorgaben der EU seien ein Anreiz zu Veränderungen und Innovationen, findet der Jurist. „Wer heute in Nachhaltigkeit investiert, hat in fünf Jahren einen Wettbewerbsvorteil.“ China verfolge genau, was in Europa geschehe. Manager, die immer noch glaubten, die Regulierung oder Klimaklagen defensiv angehen zu können, irrten. „Im Zweifel haben sie dann den Prozess gewonnen – und den Krieg verloren.“

Neben staatlicher Regulierung und Druck der Stakeholder drohen Unternehmen heute auch Risiken von bislang ungekannter Seite: von Bürgern, NGOs und anderen Dritten, die zivilrechtlich gegen sie vorgehen.

• Im spektakulärsten Fall erstritten NGOs 2021 in den Niederlanden ein Urteil gegen Shell, das trotz Berufung des Unternehmens fürs Erste gilt. Shell könne das Problem des Klimawandels nicht allein lösen, so das Gericht, habe aber seinen Beitrag zu leisten – und seine Treibhausgase bis 2030 im Vergleich zu 2019 um 45 Prozent zu reduzieren.
• In der Schweiz verklagen vier Indonesier den Zementhersteller Holcim wegen Auswirkungen des Klimawandels bei ihnen vor Ort.
• In Frankreich zwingen Oxfam und andere NGOs die Bank BNP Paribas wegen unzureichender Bemühungen für den Klimaschutz vor Gericht.


Vorstände und Geschäftsführungen werden künftig mit einem fundamental neuen Aufgabenprofil und Pflichtenportfolio konfrontiert.
Marc-Philippe Weller

In Deutschland läuft seit Jahren das Verfahren eines peruanischen Bergbauern gegen RWE, in dem es 2022 sogar zu einem Ortstermin in den Anden kam. Daneben gibt es Klagen der Deutschen Umwelthilfe gegen Mercedes Benz, BMW und Wintershall Dea sowie von Greenpeace gegen VW. Die Verfahren gegen die drei Autobauer scheiterten in erster Instanz, dürften sich aber über Jahre ziehen und am Ende höchstrichterlich entschieden werden. Selbst Juristen, die das Vorgehen für fragwürdig halten (und davon gibt es einige), mahnen Unternehmen, die Fälle ernst zu nehmen. Erstens hat auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2021 viele überrascht. Zweitens gelten die Juristen der Kläger als kluge Köpfe. Und drittens betreten die Fälle vielfach rechtliches Neuland.

Zwar gab es schon immer Zivilverfahren, etwa wenn Betroffene gegen die Verschmutzung ihres Grundwassers durch die benachbarte Fabrik vorgehen. Fälle wie Shell oder RWE folgen dem Muster noch am ehesten. Andere Klagen aber sind abstrakter, was Beeinträchtigung und Kausalketten angeht. Sie brechen mit der Dogmatik, dass sich jemand, der sich in Grundrechten beeinträchtigt sieht, an den Staat zu wenden hat – und halten sich stattdessen direkt an Unternehmen. Zudem nutzen die Kläger teils klassische Paragrafen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, um Ideen des Öffentlichen Rechts in Verfahren des Zivilrechts zu importieren. Das ist je nach Standpunkt innovativ oder frech, der Ausgang ungewiss. „Da werden alte Instrumente mit neuem Inhalt aufgeladen“, sagt Birgit Spießhofer von Dentons.

Uwe Erling von Pohlmann sieht die Entwicklung mit Sorge. „Die Zivilgerichte dürften sich von den Klägern nicht in die Rolle des Gesetzgebers drängen lassen“, mahnt er in einem Fachbeitrag. Andere halten die Erfolgsaussichten für gering, warnen aber, dass Gerichte in Zukunft andere Schlüsse ziehen könnten. „Wenn die Verfahren ein paar Jahre dauern und die Erfahrung des Klimawandels präsenter wird, ist es vorstellbar, dass sich auch Rechtsansichten und Erwartungen im Wirtschaftsverkehr ändern“, sagt der Heidelberger Jura-Professor Marc-Philippe Weller. Es gebe schon unabhängig vom Ausgang Bewegung, etwa bei Kunden oder Mitarbeitern. „Allein die Erhebung dieser Klagen bewirkt im Grunde, dass die Unternehmen versuchen, ihr Geschäftsmodell zu ändern.“

Nach dem Urteil gegen Shell in den Niederlanden wurde in London auch der Shell-Vorstand verklagt – wegen des Missmana-gements von Klimarisiken, von der NGO Client-Earth in ihrer Rolle als Aktionärin. Das wäre hierzulande so nicht möglich, doch es zeigt: Manager müssen ihre Haltung und Unternehmen ihre Führung ändern. Die CSRD zielt auch auf Leitungs- und Aufsichtsorgane, ihr Fachwissen, ihre Fähigkeiten und ihre Anreizsysteme – die Vergütung.

„Vorstände und Geschäftsführungen werden künftig mit einem fundamental neuen Aufgabenprofil und Pflichtenportfolio konfrontiert“, schreibt Marc-Philippe Weller in einem Beitrag. Er sieht eine neue „ESG-Leitungspflicht“, eine „Revolution“, nicht zuletzt wegen des neuen Fokus auf das 1,5- Grad-Ziel. Sei es bisher eine freie Entscheidung gewesen, Nachhaltigkeit zu bedenken, seien Manager künftig gehalten, Nachhaltigkeit mit „justiziablem Gewicht“ bei Entscheidungen zu berücksichtigen. Anders gesagt: Es bedarf des aktiven Bemühens, einer dokumentierten, nachvollziehbaren Abwägung sowie einer Rechtfertigung.

„Das bedeutet nicht, dass das Klima immer Vorrang hat, aber es wird zu einem neuen, ernst zu nehmenden Gesichtspunkt, der in unternehmerische Entscheidungen einfließt“, sagt Weller. Wirtschaftlichen Interessen einfach Vorrang zu geben ist nicht mehr möglich. Vorstände, so Weller, hätten Unternehmen künftig nicht nur zu leiten, sondern „auch klimaneutral zu transformieren“.

Im Idealfall sollte Nachhaltigkeit künftig ein integraler Bestandteil von Strategie, Geschäftsmodell und Entscheidungen sein. Neue Abläufe, Positionen und Gremien können aber auch wertvoll sein, um bei Klagen sein Bemühen zu dokumentieren.

Das gilt etwa für Vorwürfe wegen Greenwashing wie beim deutschen Vermögensverwalter DWS oder der Fluglinie KLM. Produkte vollmundig als klimaneutral und Firmen als nachhaltig zu bezeichnen, ohne das durch Fakten belegen zu können, kann Firmen schon heute rasch in die Bredouille bringen. Die Deutsche Umwelthilfe verklagt bereits 15 Unternehmen wie Beiersdorf, Danone, dm, Faber-Castell oder Rossmann. Auch die EU-Kommission hat sich des Themas angenommen und im März den Entwurf für eine Richtlinie vorgelegt. „Wir erwarten eine zweite Klage-Welle zum Thema Greenwashing, die gerade auch den Mittelstand treffen könnte“, sagt Birgit Spießhofer.

Mögliche Neuerungen:
Vorstand: Hier könnte es sinnvoll sein, den Posten eines Chief Sustainability Officer zu schaffen, so wie es einige Konzerne im Dax 40 bereits getan haben. Und sei es nur für den Übergang. „Bis ein Thema Teil der normalen Geschäftsabläufe ist, kann es manchmal gut sein, eine Person zu haben, die diese Aufgabe zu verantworten hat und ihre Stimme erhebt“, sagt Jurist Weller.

Aufsichtsrat: Hier könnte Nachhaltigkeit durch die Berufung neuer Mitglieder mit einschlägiger Expertise mehr Raum bekommen und ein Nachhaltigkeitsausschuss die Transformation zur Klimaneutralität vorantreiben.

Hauptversammlung: Hier ist ein sogenanntes Say on Climate in der Debatte, ein konsultatives, nicht bindendes, aber absehbar einflussreiches Votum der Aktionäre über die Nachhaltigkeits- oder Klimastrategie von Unternehmen. UniIever oder Holcim sind erste Beispiele in Europa. Auch ein begrenztes Initiativrecht der Aktionäre zu ESG hält Weller für denkbar.

Mögliche Anlaufstellen:

B.A.U.M. e. V.: Der Bundesdeutsche Arbeitskreis für Umweltbewusstes Management (seit 1984) versteht sich als Netzwerk mit 800 Konzernen und Mittelständlern und bietet zum Beispiel eine Checkliste für seriöse Nachhaltigkeitsberatung.

BMWK: Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz hat 2022 einen Aktionsplan für den Mittelstand samt aller staatlichen Hilfsmaßnahmen publiziert.

Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE): Besteht seit 2001, berät die Bundesregierung und hat 2022 eine Plattform für Unternehmen und Kommunen gestartet: das Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit.

Deutscher Nachhaltigkeitskodex: 2011 vom RNE beschlossen, wird der Kodex heute von rund 1000 Unternehmen für ihre Nachhaltigkeitsberichterstattung genutzt. Es gibt Schulungen, eine Datenbank und Informationen zu aktuellen Entwicklungen.

Econsense: Das Netzwerk (im Jahr 2000 gegründet) zählt nur 47 Unternehmen der Industrie, umfasst aber Adressen wie BASF, Biontech, Deutsche Post, Heidelberg Materials, Sartorius oder Zeiss. Es bietet Events und Publikationen.

Gemeinwohl-Ökonomie: Die 2010 gestartete Bewegung umfasst mehr als 1000 Unternehmen, unterhält in ganz Deutschland Regionalgruppen und hilft Firmen durch Audits.

Anwaltskanzleien, Wirtschaftsprüfer, Unternehmensberater: Sie alle haben Nachhaltigkeit respektive ESG als Geschäft für sich entdeckt und rüsten seit zwei, drei Jahren mächtig auf. Gern übersehen oder belächelt werden bis heute jene Netzwerke, Verbände und Firmen, die schon seit 20, 30 Jahren dabei helfen, eine CO2-Bilanz zu erstellen oder die Energie-Effizienz zu steigern. Zu ihnen gehört der Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft (BNW), der sich als Club ambitionierter Unternehmen versteht und heute mehr als 600 Mitgliedsfirmen mit gut 130 000 Mitarbeitern zählt. Er beginnt gerade, Regional- und Fachgruppen zu bilden und informiert über viele Themen. Katharina Reuter ist seit 2014 Geschäftsführerin.

Frau Reuter, können Mittelständler die vielen neuen Anforderungen mit Bordmitteln meistern, oder brauchen sie zusätzliche, externe Kräfte?

Katharina Reuter: Das hängt von der Größe des Unternehmens ab. Als kleine Firma kann ich zum Start einen Mitarbeitenden damit beauftragen, eine CO2-Bilanz mit einem frei zugänglichen Tool zu erstellen. Grundsätzlich fehlt aber vielen Unternehmen das nötige Fachwissen. Es herrscht gerade ein sehr großer Bedarf an Leuten mit Nachhaltigkeitsexpertise. Die guten Leute in unseren Mitgliedsfirmen bekommen täglich Anfragen und sollen abgeworben werden: als Mitarbeitende, für Führungspositionen, für Aufsichtsräte.

Wie weit helfen einem die Handelskammern?

Bis auf wenige Ausnahmen – nur bedingt. Die Kammern haben das Thema Nachhaltigkeit über Jahrzehnte verschlafen. Die wachen erst jetzt auf und versuchen politisch noch oft, Nachhaltigkeitsvorgaben zu bremsen oder zu entschärfen. Dabei müsste die Botschaft in Richtung der Unternehmen lauten: Geht das Thema aktiv an! Seht es als Chance! Früher oder später wird es euch ohnehin treffen. Was viele nicht im Blick haben: Wir werden schon in drei, vier Jahren keine – oder nur noch sehr teure – Kredite für nicht nachhaltige Vorhaben sehen. Ein Stall für die Massentierhaltung ist für eine Bank künftig ein ESG-Risiko. Gleiches gilt für Versicherungen.

Was müssen Unternehmen als Erstes bedenken?

Basis für alles ist eine CO2-Bilanz. Erst jüngst war ich wieder auf einer Veranstaltung, wo nur 30 Prozent der Firmen ihren Carbon Footprint kannten. Dabei ist es Zeit, unternehmerische Verantwortung breiter zu denken. So, wie es eine Abteilung braucht, um einen Finanzbericht zu erstellen, müssen Unternehmen heute personelle und finanzielle Mittel bereitstellen, um einen ökologisch-sozialen Bericht zu erstellen. Unser Credo lautet: Nachhaltigkeit gehört ins Kerngeschäft. Nicht ins Marketing. Oder wie es in einem neuen Buch heißt: Ein Unternehmen ohne Nachhaltigkeitsstrategie hat keine Strategie. //


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