Ersetzt KI bald den Unternehmensberater?

Hopp – oder top?

Künstliche Intelligenz – eben noch große Verheißung, wird sie schon zur Routine. Was bedeutet das für die Beratungsindustrie?





Berater24 ki

I. Oliver Wyman
Emissionen ermitteln, Vorhersagen treffen

Einer, der die Entwicklung und den Einsatz von KI-Technologien bereits seit Jahrzehnten verfolgt, ist Kai Bender. Der schlanke und groß gewachsene Mann verantwortet die internationale Strategieberatung in Deutschland und Österreich bei Oliver Wyman. Über KI spricht er so, dass man merkt: Er ist in diesem Themenbereich zu Hause. Kein Wunder, schließlich beschäftigt sich Bender damit seit seiner Promotion in Informatik in den Neunzigerjahren. Bei Oliver Wyman gehört maschinelles Lernen seit mehr als zehn Jahren zum Repertoire.

Gefragt nach einer aktuellen und zugleich vielversprechenden KI-Anwendung im Unternehmen nennt er das „3-D Carbon Accounting“. Im vergangenen Jahr wurde dieses Tool zur Unterstützung des Environment-Social-Governance-Reportings, kurz ESG, entwickelt. „Nach den neuen ESG-Regeln müssen große Unternehmen zum Beispiel CO2-Emissionen entlang der gesamten Lieferkette ausweisen“, erklärt Bender – und durch KI soll dies für den Beratungskonzern Oliver Wyman zum veritablen Business Case werden.

Denn so wie heute Kosten und Kapital buchhalterisch erfasst und gesteuert sind, wird künftig auch jede Tonne Klimagas entlang der gesamten Wertschöpfungskette verbucht werden müssen. „Einige unserer Kunden beziehen mehrere Hunderttausend Teile von mehreren Hundert Zulieferern. Für jeden einzelnen Posten einen Emissionswert zu ermitteln, der auch noch von den Aufsichtsbehörden anerkannt wird, ist eine hochkomplexe und kaum noch zu leistende Aufgabe“, sagt Bender.

Das KI-Modell 3-D Carbon Accounting soll genau das übernehmen. Es hantiert mühelos mit großen Datensätzen, lernt aus ihnen und beschafft sich fehlende Informationen selbstständig im Netz, etwa aus hinterlegten Produktdaten. Für jede Komponente ermittelt es einen Emissionswert und rechnet am Schluss alles zusammen. Eine Aufgabe, die bisher sechs oder mehr Monate in Anspruch genommen hat, wird so zur Angelegenheit weniger Tage. Das Modell lässt sich auf unterschiedliche Weise nutzen: Bei kleineren Unternehmen hostet und verarbeitet Oliver Wyman die Daten, größeren Konzernen stellt man das gesamte Tool zur Verfügung.

Die Anwendung funktioniert nach mehreren Monaten Entwicklungszeit laut Bender sehr verlässlich. Und doch treiben ihn und seine Kollegen gerade bei derzeit so erfolgreichen generativen KI-Anwendungen wie ChatGPT auch die Schwächen der Systeme um: etwa die fehlende Offenlegung der Quellen, das „Halluzinieren“, also das versehentliche Schaffen falscher Informationen. Die Aufgabe einer guten Beratung sieht Bender darin, gerade auch auf diese Seiten hinzuweisen. Nur geschehe das angesichts des aktuellen Hypes viel zu selten, ihn erinnere das an die Euphorie um die Blockchain: „Möglicherweise überschätzen wir wieder, wozu die Technologie fähig sein wird.“

Gleichzeitig stehen die Berater aber unter Druck, ihren Kunden etwas zu bieten. Viele Unternehmen wollen jetzt schnell „etwas mit KI machen“, da brauche es nach Auffassung von Kai Bender eine „ehrliche Diskussion zu realistischen Zielen“.


Kai Bender plädiert mit Blick auf KI für ehrliche Diskussionen und realistische Ziele.

Ein Werkzeugkasten – aber nicht für alles

Grundsätzlich sieht er KI als Treiber für mehr Beratungsgeschäft: „Sie beschleunigt Veränderung, und Veränderungsprozesse sind unser Geschäft.“ Bender beobachtet aber auch viele Missverständnisse aufseiten der Kunden: „KI ist kein homogenes Werkzeug, es ist vielmehr ein Werkzeugkasten mit ganz unterschiedlichen Tools, die für bestimmte Aufgaben taugen, aber nicht für alle.“

Zwar wollen auffallend viele Unternehmen gegenwärtig viel Geld in KI investieren, allerdings, sagt Bender, fehlen häufig noch sinnvolle Anwendungen. Das führe zu verbranntem Geld, aber auch zu Frustration und schließlich zu Ablehnung – ein Muster, das sich schon oft wiederholt hat, wenn Neuerungen eingeführt, aber die Menschen nicht mitgenommen werden. Bei Oliver Wyman setzt man daher auf eine enge Zusammenarbeit mit den Kunden. „Wir rücken direkt ins Team, agieren wie Mitarbeiter und geben nicht nur Input von außen“, sagt Bender. „Wir denken nicht im Ungefähren, sondern in konkreten und überschaubaren Anwendungen.“

Was sich durch die neuen Technologien intern verändert hat? Nun, keine Präsentation mehr, bei der ChatGPT und Co. nicht Inhalte vorbereitet und zusammengeführt hätten. Auch Meetings und Videocalls werden von intelligenten Programmen zusammengefasst. „Durch KI müssen wir noch genauer wissen, was eigentlich unser Produkt ist“, antwortet Bender auf die Frage, was die Technologien für sein Unternehmen vor allem bedeuten.

Mit mehr als 200 KI-Projekten hat man bei Oliver Wyman mittlerweile jongliert. Zuletzt launchte das Unternehmen zusammen mit dem Nachrichtendienst Dow Jones das KI-Vorhersage-Tool Factiva Sentiment Signals (FSS). Die Anwendung soll zum Beispiel Banken Informationen darüber ermöglichen, wie gut oder schlecht sich ein Business entwickeln wird. Aus Nachrichtenartikeln werden mithilfe von Large Language Models (LLMs) Stimmungen extrahiert und interpretiert – als positiv, negativ oder neutral –, um daraus Tendenzen abzuleiten. Die Herausforderung für die KI-Lösung liegt im richtigen Verständnis des Kontextes, im Erkennen der Tendenzen, aber auch im Verstehen von Zweideutigkeiten, Sarkasmus oder Humor. „Wir analysieren dafür sämtliche Kommunikation über ein Unternehmen und verknüpfen die Daten zusätzlich mit weiteren Modellen.“ Bender ist überzeugt, dass ein solches Tool zum Beispiel die Implosion von Wirecard frühzeitig hätte vorhersagen können, und sieht einen breiten Markt für dessen Einsatz: von Investoren, die ihr Portfolio bewerten möchten, bis zu Einkaufsabteilungen, die Lieferanten monitoren.

Im Gegensatz zu Mitbewerbern hat Oliver Wyman bisher keinen KI-Spezialisten aufgekauft oder als offiziellen Partner ausgerufen. „Wir wollen mit allen Anbietern kooperieren, um die beste Lösung für unsere Kunden finden zu können“, sagt Kai Bender.

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