Wie berechnet man seinen Biodiversitäts-Fußabdruck?

Die Vermessung der Umwelt

Die wirtschaftlichen Folgen durch den Verlust von Arten und Ökosystemen sind den Entscheidern bislang kaum bewusst. Das wird sich ändern, denn jetzt verpflichtet die EU die Unternehmen, ihre Umweltrisiken auszuweisen – und beschert den Beratungen ein neues Wachstumsfeld.





/ „Was fällt Ihnen zu Elfenbeinküste ein?“ Noch vor einem Jahr hätte Harold McIntyre auf diese Frage vermutlich nur lapidar geantwortet: „Das Liegt irgendwo in Afrika.“ Der wirkliche Name des Managers soll hier nicht genannt werden – auch nicht der des großen britischen Vermieters hochwertiger Büroimmobilien, dessen Geschäfte er führt. Vielleicht hätte McIntyre noch zurückgefragt, was das überhaupt mit ihm zu tun haben soll. Seine Firma vermietet schließlich keine Büros in der Elfenbeinküste. Vermutlich kommt nicht mal einer seiner Mitarbeitenden von dort.

Heute würden McIntyre auf die Frage sofort Schlagworte wie „Artensterben“ oder „Abholzung“ in den Sinn kommen. In den vergangenen Monaten hat er nämlich eine Menge gelernt – in diversen Sitzungen mit Experten für Nachhaltigkeit, Lieferketten sowie Geo- und Umweltdaten vom Nature & Biodiversity-Team der Beratungsgesellschaft Accenture. Er weiß nun, über welche verschlungenen Pfade und weit verästelten Lieferketten seine Firma mit der Elfenbeinküste verbunden ist, genauer gesagt mit der größten Goldmine im äußersten Westen des Landes. Ein guter Teil der Möbel in den von seinem Unternehmen vermieteten Büros besteht aus Holz, das aus den Wäldern dort stammt. Und in den Platinen für Laptops, Telekommunikationstechnik und IT-Ausstattung der Büros steckt Gold aus eben jenem Bergwerk.

Die Mine hat sich – das belegt ein Vergleich älterer und neuerer Satellitenbilder – im Laufe der vergangenen Jahre mit ihren Abbauflächen immer tiefer in den Urwald hineingefressen. Die Analyse offenbarte zudem, dass mehr als 70 der dort heimischen Tier- und Pflanzenarten durch die weitgehende Vernichtung ihres Lebensraums stark in ihrer Existenz bedroht sein dürften. „Von einem derartigen Impact auf die Artenvielfalt und Qualität der Ökosysteme vor Ort“, resümiert Barnabas Harrison, der das Accenture-Team leitete, „hat unser Kunde zuvor nicht einmal etwas geahnt.“

Die weltweite Dimension des Problems allerdings ist bekannt. Der Verlust von Biodiversität, also der Vielfalt der Lebewesen, Lebensräume und Ökosysteme auf der Erde, schreitet dramatisch voran. Der World Wide Fund for Nature (WWF) spricht vom „größten Artensterben seit dem Verschwinden der Dinosaurier“. Mindestens eine, eher zwei Millionen Tier- und Pflanzenarten sind akut vom Aussterben bedroht. Laut Living Planet Index des WWF aus dem Jahr 2022 hat die Menschheit seit 1970 im Schnitt 69 Prozent aller weltweit beobachteten Tierpopulationen – Säugetiere, Vögel, Fische, Reptilien, Amphibien – vernichtet, vor allem durch die Zerstörung von Lebensräumen, durch Umweltverschmutzung und durch die Klimakrise.

Die Natur stirbt

Ein Großteil des Verlustes dieser Vielfalt geht auf das Konto der Wirtschaft. Ganz oben auf der Liste der Zerstörer stehen der Raubbau durch Brandrodung und Holzeinschlag, der ausufernde Bergbau, die Belastung durch Überdüngung, Abwässer und Pestizide, die Überfischung der Meere und die Verschmutzung von Land und Ozeanen mit Zivilisationsabfällen wie Elektroschrott und (Mikro-)plastik. Erst kürzlich gerieten die Dax-Konzerne Beiersdorf, Henkel und BASF in den Verdacht, über undurchsichtige Lieferketten Palmöl von Firmen bezogen zu haben, die für ihre Plantagen in großem Maß Urwald auf Borneo vernichten – den Lebensraum der gefährdeten Orang-Utan-Population.

Die gequälte Natur schlägt zurück. Ihr „Faustpfand“ ist die extreme Abhängigkeit der Menschheit von – scheinbar unentgeltlichen – Biodiversitätsleistungen. Auf ihnen beruht, so Berechnungen des Weltwirtschaftsforums, die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsproduktes. Analysen der Europäischen Zentralbank ergaben, dass fast drei Viertel aller Bankkredite in der EU an Firmen vergeben werden, die vor allem von natürlichen Ressourcen wie Agrargütern, Holz, Mineralien oder Trinkwasser abhängig sind.

Das große Artensterben und die Verluste in den Ökosystemen werden zunehmend zum wirtschaftlichen Risiko. Rohstofflieferungen drohen auszufallen, Lieferketten zu zerbrechen, ganze Geschäftsmodelle könnten kollabieren – allen voran in der Landwirtschaft, Ernährungsgüter- und Fischindustrie. Dann wird es ernst: Wenn Ernten ausfallen, Meere leer gefischt sind oder natürliche Bestäuber, also Insekten, die Landwirtschaft nicht mehr unterstützen, drohen Nahrungsmittelkrisen. Verschwinden Ökosysteme wie Korallenriffe oder Mangrovenwälder, steigt die Gefahr von Sturmfluten oder Überschwemmungen.

Um diese Zusammenhänge zu begreifen, muss man nicht an das andere Ende der Welt schauen. In der westlichen Ostsee dürfen Dorsche nicht mehr gezielt gefischt werden, nachdem die Bestände dort praktisch verschwunden sind. Durch Überfischung, Verschmutzung und Nährstoffeintrag aus überdüngten Äckern ist das Ökosystem in Dauerstress geraten. „Wir müssen jetzt beweisen, dass wir die Lektionen aus dem Kampf gegen den Klimawandel gelernt haben“, sagt Goran Mazar, der bei der Beratungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG den Bereich Nachhaltigkeit in Europa, Nahost und Afrika verantwortet. „Wir haben nicht 20 Jahre Zeit wie beim Klima.“

Und doch rangierte das Thema Biodiversität bis vor Kurzem in den Chefetagen der Unternehmen bestenfalls unter ferner liefen. Endstation Nachhaltigkeits-Team – schließlich bestand kein unmittelbarer Handlungsdruck. „Wir befinden uns derzeit noch in der Phase des Verstehens“, sagt Janosch Birkert, Leiter EY Carbon bei EY Deutschland. „Erst ab dem Moment, in dem wir sie unter die Lupe nehmen, erkennen die Entscheider in den Unternehmen die enormen wirtschaftlichen Abhängigkeiten von den Ökosystemleistungen, die sie bisher für selbstverständlich hielten.“

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