China: Von der Fabrik zur Denkfabrik?

„Wir müssen chinesischer denken.“

China hat Covid-19 besser im Griff als der Rest der Welt, wächst schneller als alle anderen und hat einen klaren Plan für seine Zukunft. Muss uns das besorgen? Ein Gespräch mit dem Asien-Experten Daniel Berger.





brand eins: Herr Berger, Sie leben seit mehr als 20 Jahren in Schanghai – inzwischen schon wieder weitgehend normal, während wir von einem Lockdown in den nächsten stolpern. Europa schlittert in die Rezession, China vermeldet Wachstum. Hängt das Land den Westen in der Pandemie endgültig ab?

Daniel Berger: Das ist längst passiert. Prognosen sind ohnehin davon ausgegangen, dass China bis 2033 die größte Volkswirtschaft der Welt sein wird, noch vor den USA. Das dürfte jetzt fünf Jahre schneller gehen. Die Pandemie wird für das Land ungewollt zum Sprungbrett.

Wie kann das sein? Im Frühjahr 2020 war noch die Rede von einer Art „Tschernobyl-Moment“, davon, dass der Virusausbruch ähnlich wie seinerzeit in der Sowjetunion den Niedergang des politischen Systems und der KPdSU nach sich ziehen würde. Und jetzt ist das Land der Stabilisator der Weltwirtschaft.

Die Maßnahmen der Regierung haben sehr gut gegriffen. Was auch daran liegt, dass die Menschen in China wie insgesamt in Asien eher bereit sich, sich der Gemeinschaft unterzuordnen. Sie tun klaglos, was für die Bewältigung der Krise notwendig ist – und verfolgen gleichzeitig konsequent ihr Ziel. Das heißt im Moment: Techautonomie. Statt ihre alten Industrien zu päppeln, haben die Chinesen in der Krise eine schlaue Subventionspolitik betrieben. Technologieförderung steht jetzt ganz oben auf der wirtschaftspolitischen Agenda. Man will nicht länger auf Chips aus Amerika angewiesen sein. Das ist auch zentraler Bestandteil des neuen Fünfjahresplans, der im März verabschiedet wird.

Dann wird aus der Fabrik auch noch die Denkfabrik der Welt?

Ganz so schnell geht es nicht, das Land ist da noch lange nicht so weit, wie viele vermuten. Zwar gibt es bei E-Mobilität, E-Commerce, Telekommunikation oder künstlicher Intelligenz schon große Konzerne. Die Grundlagenforschung dazu stammt aber aus Japan, Korea und den USA. China hat das alles nur viel schneller angewendet und skaliert: Die Elektro-Mobilität wurde schon vom Staat gefördert, da hing Deutschland noch an der Verbrenner-Lobby.

Die Chinesen sind vielleicht nicht Innovationsführer, aber sicher der Applikationsführer der Welt. Langfristig wird das auch der Grundlagenforschung helfen, es macht das Land jedoch in den nächsten fünf Jahren nicht zum Technologieführer. Ich habe in China schon viel gesehen – das sehe ich nicht.

China First
Daniel Berger, 48, startete seine Berater-Laufbahn nach seinem Business-Administration-Studium 1999 bei der EAC International Consulting in Schanghai. Seit 2012 ist er Partner – und Experte für die Branchen Automotive, Maschinenbau, Industrie- güter, Infrastruktur und Digitalisierung. EAC (Euro Asia Consulting) war eine der ersten Managementberatungen in Deutschland, die sich auf China spezialisiert haben. 1992 vom Diplomkaufmann Dietmar Kusch, 61, in München gegründet, hat die Beratung heute Büros in Schanghai, Mumbai und Moskau und berät vor allem deutsche Mittelständler, aber auch Konzerne.

Wir beobachten auch anderswo eine ungeheure Geschwindigkeit. Die riesigen Infrastrukturprojekte in Afrika oder das One-Belt-One-Road-Projekt, mit dem China auch an den Rändern der EU kratzt sowie in Logistikknoten in Deutschland investiert, lassen den Einfluss des Landes wachsen. Und während die westlichen Bündnisse bröckeln, hat China gerade in Asien die größte Freihandelszone der Welt geschaffen.

Das Land überrascht uns immer wieder mit seiner Schnelligkeit und der Wucht einzelner Entwicklungen. Derzeit geht es für China vor allem um Rohstoffe, um neue Absatzmärkte, um stabile Bündnisse unabhängig vom Westen. Das Land hat in den vergangenen 30 Jahren Enormes geleistet, aber es gibt auch noch viel zu tun. Die Verschuldung, die Einkommenslücke zwischen Stadt und Land, die Überalterung der Bevölkerung, die Umweltverschmutzung, die jedes Jahr mehr als 1,5 Millionen Menschenleben kostet …

Sie meinen, China hat erst einmal genug mit sich selbst zu tun?

Darauf sollten wir uns nicht verlassen. Je einflussreicher das Land ist, desto mehr will es auch über internationale Spielregeln mitbestimmen. Den Debatten können wir uns nicht entziehen, und wir können das Rad auch nicht zurückdrehen, die aktuelle Diskussion über Decoupling führt in die Irre. Deutschland ist eine Exportnation, wir brauchen die Globalisierung.

Aber Deutschland droht im Zuge der Corona-Krise erst einmal eine Insolvenzwelle, auch weil die ausgesetzte Insolvenzantragspflicht inzwischen wieder greift. Stehen die chinesischen Investoren schon in den Startlöchern?

Zuletzt gingen die Investitionen von China stark zurück, jetzt in der Krise wird sich das Engagement sicher wieder beschleunigen. Aber viele Mittelständler, die eigentlich gut aufgestellt sind, werden für die neue Liquidität vielleicht durchaus dankbar sein.

Meinen Sie das ernst?

Absolut. Es gibt gute und schlechte Beispiele dafür, wie sich deutsche Firmen nach einer Übernahme durch einen chinesischen Investor entwickelt haben. Bei Kion läuft es gut, bei Kuka weniger. Das ist nicht anders, wenn deutsche Unternehmen chinesische kaufen. Ich rate aber zu offensiver, proaktiver Kommunikation. Es sollte möglichst wenig im Hinterstübchen verhandelt werden.

Offene Kommunikation gilt nicht gerade als Stärke der Chinesen. Und auch die Hoffnung, dass sich China mit einer Öffnung der Wirtschaft politisch liberalisiert, erfüllt sich derzeit nicht.

Dass die chinesische Regierung sehr wohl den Dialog sucht, zeigt das gerade ausgehandelte Abkommen mit der EU. China ist offenbar gewillt, fairere Regeln im Wettbewerb und Marktumfeld zu schaffen. Öffnung und Internationalisierung stehen auch im neuen 5-Jahres-Plan. Die Chinesen wollen keine globale Isolation. China will als Partner anerkannt werden und sich integrieren.

Wenn man sich das Vorgehen in Hongkong anschaut, hat man nicht gerade den Eindruck, dass sich China für sein Image im Ausland interessiert.

Das Interesse an nationaler Machtpolitik ist sicher stärker. Aber die Führung kann es sich nicht erlauben, westliche Handelspartner vor den Kopf zu stoßen. Wenn das Land keinen Zugang mehr zu innovativen Technologien hat, trifft das Hightech- und Autokonzerne und bedeutet Wachstumsverlust. Der Handelskrieg mit den USA wird auch unter dem neuen Präsidenten nicht von heute auf morgen beendet sein. Das war ein Weckruf für die chinesische Führung – und die Motivation, den Dialog mit den Europäern zu suchen.

Wie gut stehen die Chancen für Deutschland angesichts dieser hypermodernen, effizienten, auf Wachstum gedrillten High-tech-Diktatur?

China ist nach wie vor ein wichtiger Absatzmarkt, der drittgrößte für Deutschland. Die Dax-Konzerne haben vor fünf Jahren zehn Prozent ihres Umsatzes in China gemacht, heute sind es schon 15 Prozent. Bei anderen Unternehmen noch mehr. Aber es ist kein Selbstläufer mehr. Die China-Party, die wir vor zehn Jahren noch gefeiert haben, ist vorbei.

China hat deutsche Unternehmen schon immer geschickt vor sich hergetrieben: Den Zugang zum chinesischen Markt gab es nur über Joint Ventures, mit Arbeitsplätzen und Technologietransfer. Wird der Druck größer, je stärker China wird?

Das ist keine Frage der Gesetzgebung mehr, im Gegenteil. Erst im Oktober wurden Richtlinien explizit für die deutsch-chinesische Kooperation verabschiedet, das gab es noch nie. Das zeigt, wie wichtig Deutschland für China ist. Im Bereich Intelligent Manufacturing soll stärker zusammengearbeitet werden, bei Robotik, neuer Energie und 3-D-Druck. Aber das Umfeld wird härter. Lohn- und Betriebskosten steigen, der Markt wächst nicht mehr so überproportional und: Der Wettbewerb durch chinesische Anbieter wird schärfer.

Wir haben es mit agilen, hungrigen Unternehmen zu tun. Und mit einer 996-Kultur, arbeiten von 9 bis 9, 6 Tage die Woche. Das sollte uns sicher nicht als Vorbild dienen, wohl aber der Spirit, der viele Chinesen antreibt. Für deutsche Unternehmen gilt: Wenn ihr weiter erfolgreich sein wollt, müsst ihr chinesicher denken, schneller und beweglicher werden, sonst schwinden die Marktanteile weiter. Uns wird nicht mehr jedes Produkt aus der Hand gerissen.

Made in Germany zieht nicht mehr?

In einer aktuellen Studie für den Fachverband Robotik und Automation des Maschinenbauverbands VDMA haben wir festgestellt, dass Deutschland nach wie vor als kompetenter Technologieführer gesehen wird. Aber für den langfristigen Erfolg in China reicht das nicht aus. Wir müssen unsere Geschäftsmodelle anpassen. Wir setzen immer noch auf Perfektion, die chinesischen Anbieter sind da viel pragmatischer: gut genug reicht.

Wir müssen uns stärker an die Kundenbedürfnisse anpassen. Take it or leave it – von dem hohen Ross müssen wir runter. Wir müssen systemrelevant werden, also entlang der Wertschöpfung des Kunden investieren, und Kooperationen eingehen, damit wir nicht so leicht austauschbar sind. Und wir müssen schneller in neue Technologien investieren. Aus meiner Sicht brauchen wir dazu auch industriepolitische Flankierung. Wir haben es mit einem Staat zu tun, der Programme umsetzt und nicht jahrelang diskutiert.

Schnelligkeit ist auf EU-Ebene kein einfaches Thema.

Die EU kostet Zeit, das ist richtig. Aber die verschärften CO2-Emissionsnormen 2019 haben etwa dazu geführt, dass die Zahl der Neuzulassungen für E-Autos in Europa heute höher ist als in China. Einen ähnlichen Effekt erwarte ich von der nationalen Wasserstoffstrategie der Bundesregierung: Neun Milliarden Euro, um Deutschland bis 2030 zum Führer bei der Wasserstofftechnologie zu machen – so baut man neue Industrien konsequent auf. Das macht China nicht anders.

Bisher war das Verhältnis klar: Der Westen hatte Innovationen und Produkte, China den Markt. Wie werden sich Ost und West in fünf Jahren positioniert haben?

Wir werden uns weiter annähern. Wenn es um den letzten Schrei der Technologie geht, liegen wir noch weit vorn, aber die Lücke wird kleiner. Huawei, Tiktok, jetzt auch Xiaomi – wir werden künftig mehr und mehr chinesische Label sehen. Elektrogeräte, Apps, dann E-Autos, wo China stark werden will. Irgendwann kommen auch chinesische Maschinen, die vielleicht günstiger sind und den Job so machen wie eine deutsche. China rückt immer weiter an Europa und uns heran. Wir sollten uns darauf einstellen. //