Wie verändert sich der Handel?

Auf zum Kunden!

Die wichtigste Frage für die Zukunft des Handels ist nicht: Online-Shop oder Ladengeschäft? Sondern: Was bedeutet es heute überhaupt, Händler zu sein?




/ Das Unternehmen Douglas will kein Händler mehr sein. Auch keine Handelskette für Parfümerie und Make-up. Und als Multi-Channel- oder Cross-Channel-Händler, der neben seinen Ladengeschäften auch einen Online-Shop betreibt, soll es fortan bitte ebenfalls nicht mehr beschrieben werden. Douglas, verkündete das Unternehmen im Dezember 2020, ist jetzt ein Internetunternehmen. Konkreter: eine digitale, vernetzte, datenbasierte Beauty-Plattform.

Was nach Identitätskrise eines Traditionsunternehmens im Zuge der Digitalisierung klingt, passt tatsächlich sehr gut zum Findungsprozess einer ganzen Branche, der sich um eine große Frage dreht: Was bedeutet es heute, Händler zu sein?

Lange sah es so aus, als ginge es für den Einzelhandel allein um die Entscheidung: Betreibe ich ein Ladengeschäft oder einen Online-Shop? Einige Zeit schien die Lösung, beides smart miteinander zu verknüpfen – Schlagworte wie Omni-Channel, Cross-Channel und Multi-Channel machten die Runde. Parallel dazu folgte Anpassung auf Anpassung. Doch nichts schien zu genügen.

Nun aber versuchen Handelsunternehmen wie Douglas einen Befreiungsschlag – und erkennen damit an, dass die alte Welt, in der Hersteller Trends setzten mit Produkten, die Händler im Anschluss analog oder digital anboten, in Auflösung begriffen ist. Die Branche hat verstanden, dass es in Zukunft notwendig sein wird, in ganz neuen Kategorien und Geschäftsmodellen zu denken. Längst geht es darum, die einzelnen Bausteine der Arbeitsteilung zwischen Herstellern, Logistikern und Händlern neu zu ordnen.

„Digitalisierung wird im Handel oft noch als ein technologisch zu lösendes Thema angesehen, als gehe es nur um die Frage, wie man einen funktionierenden Online-Shop hinstellt und eine Art digitale A-Lage ergattert“, sagt Lennard Grewe, Gründer und Managing Partner der Digitalisierungsberatung eccelerate in München. „Dabei geht es in Wirklichkeit um einen ganz grundlegenden Umbau, bei dem Unternehmen die gesamten Strukturen von der Produktion über die Lieferketten bis zur Vermarktung neu denken müssen.“

Bisher wurde der klassische Handel noch von den eingeübten Gewohnheiten und Routinen vor allem der älteren Kundschaft einigermaßen zusammengehalten. Doch wie schnell sich die ändern können, führte den Händlern die Corona-Krise vor Augen.

„Viele Kunden sind eigentlich noch sehr an die alte Handelswelt gewöhnt. Sie sind sehr loyal zu Marken, zu Händlern, zu ihren gewohnten Einkaufszyklen“, sagt Grewe. „Aber letztlich wissen auch diese Kunden längst: Wenn ich will, bekomme ich alles, was ich möchte und brauche, jederzeit irgendwo online – und die Ware kommt direkt zu mir.“ So wechselten viele achselzuckend zu Online- Marktplätzen, als die Läden vor Ort schließen mussten oder ihnen das Einkaufen im Ladengeschäft zu riskant erschien.

Douglas
3,2 Milliarden Euro Umsatz erzielte der Händler von Parfüms und Kosmetik im Geschäftsjahr 2019/20, das im September endete. Dank Corona ist der Umsatz im E-Commerce massiv gestiegen, auf eine Milliarde Euro im Kalenderjahr 2020. In den Läden fiel er dafür stark, daher schließt Douglas rund 500 seiner 2400 Filialen. Die Firma, deren Wurzeln 200 Jahre zurück reichen, beschäftigt gut 21 000 Mitarbeiter in 26 Ländern.

Loyalitäten lösen sich auf

Bei Douglas geht man davon aus, dass diese Entwicklung über die Pandemie hinaus halten wird. „Die Verschiebung zum Online-Einkauf ist in Teilen nachhaltig und wird sich langfristig weiter in diese Richtung entwickeln“, sagt Christian Korte, COO von Douglas und für das operative Geschäft verantwortlich. Der Wandel, von dem viele Handelsunternehmen gehofft hatten, sie könnten ihn langsam und schrittweise umsetzen, hat sich enorm beschleunigt.

Eine aktuelle Umfrage des Digital Commerce Research Networks im Oktober 2020 zeigt, wie groß der Handlungsdruck ist: Rund ein Drittel der deutschen Handelsunternehmen plant demnach 2021, neue Vertriebswege zu etablieren – unabhängig davon, ob bereits heute mehrere Kanäle genutzt werden. 58 Prozent sagen, dass ihnen in der Corona-Krise Defizite in der IT-Infrastruktur und im Marketing bewusst geworden sind, 45 Prozent, dass man die Chancen von Social Media bislang zu wenig nutze, 40 Prozent, dass es ihnen an digitaler Sichtbarkeit fehle. Als eine der größten Herausforderungen nennen die Manager ein „fehlendes klares Konzept“ und die bereits bestehende „Monopolstellung anderer Unternehmen“.

Kurzum: Viele haben erkannt, dass der Wandel schneller und grundlegender stattfindet als gedacht. Doch noch mangelt es vielerorts an Entschlossenheit und zündenden Ideen, um das eigene Geschäft ernsthaft neu aufzustellen.

Während sich Handelsunternehmen hilflos fühlen und angesichts des Wandels gerne die „fehlende Akzeptanz der Mitarbeiter“ beklagen, lösen sich auf Kundenseite alte Loyalitäten zusehends auf: Wer ohnehin neue Einkaufserfahrungen macht und mit alten Gewohnheiten bricht, ist auch offener für neue Marken, Anbieter und Produkte. „Eine zentrale Aufgabe von Händlern war es bislang, aus der Menge der angebotenen Produkte eine Vorauswahl für die Kunden zu treffen“, sagt Grewe. Was soll im Regal stehen? Welche Produkte, welche Trends sind für meine Kunden relevant? Doch nun sind die Kunden selbst in der großen weiten Welt des Internets unterwegs und mit der ganzen Bandbreite der Produktwelt konfrontiert.

So wird es für klassische Händler immer schwieriger, dafür zu sorgen, dass Kunden ihre Auswahl im Laden als relevant und attraktiv einstufen. Hinzu kommt: Neue Trends in der Mode oder Technik werden längst nicht mehr frühzeitig an wenigen zentralen Orten gesetzt, so dass Händler sie beobachten und ihre Sortimente bis zur nächsten Saison in Ruhe anpassen können. „Kurzlebige, dezentrale Trends und Hypes ersetzen die klassischen Konsum- und Produktionszyklen, an denen sich Händler orientiert haben“, sagt Berater Grewe.

Jeder Hersteller kann heute jederzeit neue Marken und Produkte kreieren und sie mit Hilfe von Influencern und Logistikunternehmen direkt an die Kunden bringen – immer häufiger auch ohne den Umweg über den Handel. Oder Influencer beschließen, selbst zu Herstellern und Händlern ihrer Kreationen zu werden. „Klar, alles muss immer noch irgendwo produziert und transportiert werden“, sagt Grewe. „Die einzelnen Glieder in den Wertschöpfungsketten entkoppeln sich aber voneinander.“

Für Händler wird es damit immer schwerer, ihre Relevanz als wertschöpfendes Kettenglied auf dem Weg vom Produkt zum Kunden zu erhalten oder auch nur die gerade angesagte Ware überhaupt in die eigenen digitalen oder analogen Regale zu bekommen. Durch Corona hat diese Entwicklung noch an Fahrt aufgenommen, weil sich das Kaufverhalten breiter Käuferschichten schneller verändert hat als gedacht.

Was vorne, im Verkauf, geschieht, passt immer weniger zu dem, was hinter der Kasse an Strukturen bereit steht. Beim Kunden hat sich alles enorm beschleunigt, im Handel nur wenig. „Hinter den Kulissen, in ihrem Backbone, kommen klassisch aufgestellte Händler mit dieser Entwicklung überhaupt nicht mit“, sagt Grewe. Die Produktions- und Vertriebsstrukturen hinken der Entwicklung hinterher.

Zwar optimieren die Unternehmen laufend ihre Lieferketten und Beschaffungsprozesse, trimmen sie auf höhere Geschwindigkeit und niedrigere Kosten: Der Lieferant am anderen Ende der Welt bekommt Bestelldaten digital in Echtzeit übermittelt, das Containerschiff wird dank Künstlicher Intelligenz noch schneller und effizienter beladen, die Belieferung der Ladengeschäfte mit wechselnden Kollektionen erfolgt Just-in-Time. „Aber das Schiff mit der Ware muss immer noch von China nach Europa fahren, und das dauert aller Virtualisierung zum Trotz eben seine Zeit“, sagt Lennard Grewe.

Händler werden Hersteller

So groß sind Komplexität, Volumen und Geschwindigkeit im globalen Handel inzwischen, dass Händler sich in starke Abhängigkeiten von Lieferanten und deren Netzwerk begeben, nach deren Regeln sie dann spielen müssen. „Will ich als Händler diese lähmenden Abhängigkeiten auflösen und wirklich schneller und flexibler werden, bleibt mir eigentlich nur, die Lieferketten zu verkürzen und regionaler zu denken“, sagt Grewe. „Dann muss ich aus dem Volumengeschäft raus, die Zusammenarbeit mit Herstellern ganz neu denken und wirklich innovative, disruptive Supply-Chain-Ideen entwickeln.“

Wer es schafft, ersetzt das Prinzip „Ich bestelle zwei Container rote Hosen, die mein Einkäufer vergangenes Jahr bei der Modenschau gesehen hat, und verkaufe die“ durch agilere Prozesse. Händler fangen dabei an, selbst wie Hersteller zu denken. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Geschäftsmodellen, die zuvor klar voneinander abgegrenzt waren, verschwimmen. Ein neues Geschäftsmodell könnte zum Beispiel so aussehen: Ein durch Influencer ausgelöster Konsum-Trend wird erkannt, dazu passende Produkte werden in kleinen Mengen bestellt oder selbst designt und hergestellt. Dann wird getestet, wie die Produkte bei den Kunden ankommen, bei Erfolg schnell nachbestellt und so die Nachfrage bedient, solange es sie gibt.


Früher oder später müssen Händler den Schritt gehen, sich von der alten Denke und ihrer alten Rolle im System insgesamt zu lösen.

Die Vielfalt überfordert viele

Lieferbeziehungen und Prozesse aufzubauen, die mit so schnellen Go-to-Market-Strategien mithalten können, darin liegt die größte Herausforderung für klassische Händler. „In ihren bestehenden, schwerfälligen Strukturen können die Unternehmen das kaum schaffen“, sagt Grewe. Eine Lösung könnte sein, neben alten Beschaffungs- und Vermarktungsstrukturen erste eigene Marken, digitale Marktplätze und Shops als „kleine Speedboote“ zu setzen, die die alten Strukturen hinter sich lassen. „Früher oder später müssen Händler aber den Schritt gehen, sich von der alten Denke und ihrer alten Rolle im System insgesamt zu lösen, um Ressourcen und Investitionen in den Umbau ihrer gesamten Backbone-Strukturen zu stecken“, sagt Grewe.

Bei Douglas wird unter dem Projektnamen „ForwardBeauty“ an so einem grundlegenden Umbau gearbeitet, berichtet COO Korte. In den kommenden drei Jahren will das Unternehmen zunächst die Lieferkette umbauen: Dabei gehe es zum einen um die physische Supply Chain, erklärt er. Die soll in eine Struktur mit mehreren Zentrallager-Standorten überführt werden, „die alle im Modus ‚one warehouse, all channels‘ operieren werden“. Jedes Lager beliefert somit sowohl die Ladengeschäfte als auch direkt die Kunden der verschiedenen digitalen Marktplätze der Beauty Plattform, auf denen verstärkt auch Eigenmarken angeboten werden.

Die Ladengeschäfte sind in diesem System nicht mehr in erster Linie Verkaufsstellen, sondern vor allem Erlebniswelten und weitere Knotenpunkte im Lager- und Liefernetzwerk, denn der Online-Shop greift auch auf ihre Warenbestände zu. Kunden können so nicht nur online bestellen und Waren im Laden abholen: Douglas liefert auch online bestellte Waren aus der nächstgelegenen Filiale an die Kunden – und kann so eine Lieferung noch am selben Tag garantieren. Die nötige Geschwindigkeit im System entsteht, indem das Unternehmen alle Informationen zu Bestands- und Bewegungsdaten in eine digitale, von lernenden Algorithmen gesteuerte Supply Chain überträgt, über die alle Warenbewegungen gesteuert werden.

Die Arbeit an dem komplexen Liefer- und Beschaffungsgeflecht und das enorme Tempo hinter den Kulissen interessiert die Kunden freilich wenig. Daher soll für sie nicht spürbar sein, wieviel Aufwand darin steckt. „Das strategische Ziel muss sein, wieder in die alte Rolle der Pre-Selection zu kommen“, sagt Grewe. Will heißen: Die Kunden müssen überzeugt sein, dass sie im digitalen und analogen Angebot des Unternehmens tatsächlich eine für sie passende Auswahl von Produkten finden, also gar nicht erst selbst in den Weiten des Netzes auf die Suche gehen und Angebote vergleichen müssen. „Da gibt es ganz klar einen Bedarf, denn die Leute sind mit dem Überangebot der enorm großen und schnell wechselnden, ständig verfügbaren Produktauswahl eigentlich total überfordert.“

Der eccelerate-Berater aus München ist überzeugt: Viele Konsumenten wären dankbar, wenn ihnen die lästige Auswahl zwischen zahllosen Modellen und Produktvarianten abgenommen werde. „Damit Shoppen wirklich Spaß macht, müssen Kunden in der digitalen Welt neue Routinen und Loyalitäten entwickeln.“ Wer es schafft, ein Ankerpunkt für neue Gewohnheiten beim digitalen Einkauf zu werden, ist ziemlich nah dran an einem funktionierenden Modell für den Handel der Zukunft.