Rügenwalder Mühle

Vor vier Jahren nahm der Fleischverarbeiter Rügenwalder Mühle vegetarische Würste ins Sortiment auf. Das hätte Ärger geben können.





• Beim Wursthersteller Rügenwalder Mühle wird die tiefe Verwurzelung in der Fleischverarbeitungstradition schon am Eingang betont. Im Foyer des Firmensitzes im niedersächsischen Bad Zwischenahn hängen ordentlich aufgereiht Fotos der Patriarchen der Metzgerdynastie Müller an den Wänden. Seit der Gründung vor 184 Jahren ist das Unternehmen ununterbrochen in Familienbesitz, und lange verwandelten die Familienoberhäupter eigenhändig Tiere in Leckereien.

Ein Klassiker im Portfolio, die „Rügenwalder Teewurst“, sorgt seit mehr als einem Jahrhundert für gute Umsätze: Carl Müller, damals Unternehmenschef in dritter Generation, brachte den lachsfarbenen Brotaufstrich 1903 auf den Markt. „1996 erfolgte ein Relaunch des Produktes“, vermerkt die Firmenchronik – übertriebene Hektik bei der Produktinnovation gehört offenkundig nicht zum Stil des Hauses. Auch nach dem kriegsbedingten Umzug von Pommern ins Ammerland – zunächst nach Westerstede, 1956 nach Bad Zwischenahn – blieb man den Spezialitäten der alten Heimat treu.

Die Verbundenheit zahlte sich aus: Mittlerweile erwirtschaften knapp 600 Mitarbeiter einen Jahresumsatz von gut 200 Millionen Euro, die Markenbekanntheit liegt nach Angaben der Geschäftsführer bei stolzen 99 Prozent.

Doch vor vier Jahren wagte der Fleischverarbeiter eine Revolution: Mit einem Schlag wurde gleich eine ganze Palette vegetarischer Wurstprodukte angeboten, die aussahen und schmeckten wie klassischer Aufschnitt. Damit lagen sie in Bad Zwischenahn gut im Trend. Als die Firma Schweine- und Hühnerfleisch durch Erbsen, Soja und Rapsöl ersetzte, war vegetarischer Wurstersatz zum Teil noch ein Nischenangebot für Bio- und Reformhaus-Kunden, denen es oft vor allem ums Prinzip geht. Inzwischen ist der Markt dramatisch gewachsen: Wettbewerber und Handel haben nachgezogen, vor den Kühlregalen entscheiden sich immer mehr Menschen ganz ideologiefrei für einen fleischlosen Tag. Die Rügenwalder Mühle allein verkauft heute vegetarische Produkte für 50 Millionen Euro im Jahr, das ist ein gutes Viertel des Umsatzes – Tendenz steigend. Bis 2020 soll der Veggie-Umsatzanteil auf 40 Prozent steigen.

Neuland

Marketingleiter Godo Röben hatte die Idee, der Fleischverarbeitung die Vegetarierversorgung an die Seite zu stellen. Und Lothar Bentlage, zuständig für den Vertrieb, sorgt dafür, dass der Handel Platz im Kühlregal schuf – was am Anfang nicht so einfach war. Beide sind seit gut zwei Jahrzehnten im Unternehmen, mittlerweile teilen sie sich die Geschäftsführung.

Das Veggie-Projekt war ein Experiment mit offenem Ausgang. Es gab nicht mal eine belastbare Marktforschung. „In Konzernen bekommt man völlig neue Produktlinien nicht durch, wenn keine Marktzahlen da sind. Die geben nicht 20 Millionen für einen Markt aus, den es noch nicht gibt. Hier war das nur möglich, weil die Eigentümerfamilie sehr offen und sehr mutig ist“, erklärt Röben. Fragt man die Geschäftsführer, weshalb sie damals Neuland betreten haben, kommen unterschiedliche Antworten. Einige sind schlicht betriebswirtschaftlich. „Das größere Risiko wäre gewesen, alles beim Alten zu lassen und zuzusehen, wie die Umsätze jedes Jahr etwas sinken. Fleisch und Wurst, das ist in Deutschland insgesamt ein langsam, aber stetig schrumpfender Markt“, sagt Lothar Bentlage.

Der Zeitgeist sieht Fleischprodukte zunehmend skeptisch, die Wurst verliert an Akzeptanz. Oder, wie es in einem internen Arbeitspapier zu möglichen Entwicklungen heißt: als „Problem: Wurst ist die Zigarette der Zukunft“.

Doch es ging den beiden Geschäftsführern offenbar nicht nur um eine Zukunft mit schwarzen Zahlen. Einige ihrer Argumente für Wurst ohne Fleisch klingen eher, als kämen sie von Greenpeace. „Spätestens wenn acht, neun, zehn Milliarden Menschen auf diesem Planeten leben“, sagt Godo Röbe, „können wir es uns nicht mehr leisten, bei der Ernährung weiterzumachen wie bisher.

Dass es nicht einfach werden würde, war Bentlage und Röben klar. Ein Industriefleisch-Konzern setzt auf vegetarische Produkte – das würde den Fleischlieferanten nicht gefallen. Ganz zu schweigen von Bioläden, Tierschützern, Vegetarierverbänden und anderen NGOs, die sicherlich einige Fragen hätten: Markiert da ein Saulus den Paulus? Wollen die sich ein gutes Image ergaunern? Und überhaupt: Die können das doch gar nicht! Es gab viele Möglichkeiten zu scheitern: Ein Shitstorm. Glaubwürdigkeitsprobleme. Ein kleiner Skandal, etwa durch Verunreinigungen der Veggie-Produkte mit Fleischpartikeln. Nur einer dieser Punkte hätte gereicht, dem Markennamen massiv zu schaden.

Hürden

Wie immer bei guten Ideen fängt die Mühe mit der Umsetzung an. Die vegetarische Wurst sollte schmecken wie Wurst, nicht wie ein Ersatz. Und die Zutaten sollten nicht aus dem Chemiebaukasten kommen, sondern aus der Landwirtschaft. „Alle, die bisher solche Produkte gemacht haben, kamen nicht von der Wurst. Deshalb schmeckten die Produkte auch nicht so. Wir brauchten drei Jahre für die Entwicklung, um den richtigen Geschmack, Schneidefähigkeit, Bissstärke und Farbgebung zu erreichen. Wir wollten die Kopie der Wurst, das war von Anfang an klar“, erklärt Geschäftsführer Röben.

Entscheidend war, dass die Metzgermeister mitarbeiteten, um Bulette oder Mortadella das passende Aroma zu verleihen. „Viele Vegetarier mögen den Geschmack von Wurst. Sie verzichten aus ethischen oder gesundheitlichen Gründen darauf, nicht weil sie Wurst nicht mögen. Also wollten wir ihnen den Wurstgeschmack bieten“, erklärt Röben.


Lothar Bentlage (links) und Godo Röben haben die Produktion vegetarischer Produkte beim traditionellen Fleischverarbeiter ausgeheckt, weil sie wussten: Wurst ist die Zigarette der Zukunft.

Das meiste Geld floß in die Werbung: Seit der Markteinführung Ende 2014 bis Mitte 2017 wurde Rügenwalders gesamter Werbeetat ins neue vegetarische Sortiment investiert. Große Umstellungen der vorhandenen Produktionsanlagen waren nicht nötig. „Wenn es gar nicht funktioniert hätte, hätten wir es nach fünf, sechs Monaten abbrechen können“, konstatiert Geschäftsführer Bentlage.

Die Empfehlungen der Agenturen waren wenig überraschend: Die vegetarische Linie braucht einen neuen Namen und eine andere Verpackung. „Fleischkonsumenten und Vegetarier – das waren getrennte Welten. Die Befürchtung war, dass die Vegetarier uns als Hersteller konventioneller Wurst nicht mögen“, erinnert sich Röben. Die Geschäftsführer entschieden sich für das Gegenteil.

Sie wollten nicht nur ihrer Marke treu bleiben, sondern trauten ihr auch zu, das Vertrauen der Verbraucher neu zu gewinnen. „Wir waren uns relativ schnell sicher, dass wir alles unter „Rügenwalder Mühle“ vermarkten. Wir wollten, dass die ganze Marke profitiert. Das sind keine getrennten Produktwelten. VW verkauft doch auch nicht seine Elektroautos unter einer eigenen Marke“, erklärt Röben. Deshalb ähneln nun Verpackung und Geschmacksrichtung der Veggie-Würste denen der Fleischprodukte.

„Was wir machten, wurde als völlig neue Ausrichtung wahrgenommen “, erinnert sich Bentlage. Bei den Einkäufern der großen Lebensmittelketten sorgte das zunächst für Vorbehalte und eine gewisse Irritation. Die Akzeptanz im Handel wuchs zwar mit der Zeit, aber auf dem Land deutlich zögerlicher und langsamer als in den Großstädten.

Längst nicht alle Handelspartner waren begeistert, Produkte, die es bisher nur im Reformhaus gab, in ihr Kühlregal zu legen. Doch trotz der Vorbehalte stellte der Lebensmittelhandel recht zügig Regalflächen zur Verfügung. Rewe machte eine neue Kategorie auf, andere legten die Veggie-Ware neben die konventionellen Würste. „Wir haben die Empfehlung gegeben, die neuen Produkte nicht innerhalb der Wurstbereiche zu platzieren, sondern anhängend daran, in einem extra Block“, sagt Bentlage. All das scheint inzwischen weit weg, denn mittlerweile ist vieles anders. „Heute ist das kein Glaubenskrieg mehr“, sagt Röben. „Grundlegende Bedürfnisse in der Gesellschaft ändern sich. Der Erfolg hat auch mit der relativ neuen Zielgruppe der Flexitarierer zu tun. Schon innerhalb einer Familie können die Bedürfnisse unterschiedlich sein, wenn vielleicht die Tochter Vegetarierin ist und alle anderen gern Fleisch essen.“

Der Anfangserfolg war trotzdem selbst für Bentlage und Röben überraschend. Sie hatten mit einer Veggie-Produktion von fünf Tonnen pro Woche geplant, mussten aber schon im ersten Jahr 100 Tonnen die Woche produzieren. Das Unternehmen fuhr Sonderschichten, kaufte ein Gebäude dazu und stellte in 18 Monaten nur für die Veggie-Produktion 140 neue Mitarbeiter ein.


Vom Markenzeichen zum realen Gebäude: Die Rügenwalder Mühle in Bad Zwischenahn wurde 2012 fertiggestellt und ähnelt dem Gebäude auf dem Firmenlogo deshalb so verblüffend, weil sie nach ihm entworfen wurde.

Wir müssen reden

Wie heftig mit der Einführung der Veggie-Linie zwei Welten aufeinanderprallten, merkten die Geschäftsführer sogar in der eigenen Belegschaft. Die Metzgermeister, traditionell die wichtigsten Leute im Betrieb, waren deutlich verunsichert. Röben und Bentlage luden zu Betriebsversammlungen, um ihre Mitarbeiter zu überzeugen. „Es gab gewisse Befindlichkeiten. Wir mussten klarmachen, dass der alte Bereich uns weiter wichtig ist. Wir schämen uns ja nicht dafür, Fleisch zu verarbeiten“, stellt Röben klar. Heute steht in der Werkskantine jeden Tag auch ein vegetarisches Gericht zur Auswahl. Das Angebot erfreut sich reger Nachfrage.

Natürlich musste auch die Öffentlichkeit informiert werden. Um sich potenzielle Kritik und lautstarke Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit zu ersparen, ging Röben auf alle wichtigen Akteure zu. Lange vor der Markteinführung lud er Greenpeace, Verbraucherschützer, den Vegetarierbund ProVeg und die Tierschützer von Peta zu Gesprächen ein. Ein kluger Schachzug, um den Einzug in die Vegetarierwelt unbeschadet zu überstehen.

Röben hatte zum Beispiel lange Gespräche mit dem Peta-Juristen Edmund Haferbeck, einem Mann, der gegenüber der Fleischindustrie ausgesprochen unfreundlich sein kann. Und es blieb nicht bei ein paar Terminen: Der Gedankenaustausch mit Peta und ProVeg wird bis heute fortgesetzt. „Diese Gespräche sind ein wunderbares Sparring. Peta und andere NGOs sind offener, als viele Außenstehende glauben. Sie wollten natürlich wissen, ob das für uns nur ein Marketinggag ist. Aber wir konnten zeigen, dass wir es ernst meinen und schon im Vorfeld Transparenz herstellen wollten“, erzählt Röben. So kann es gehen, wenn man sich traut, potenzielle Feinde zu umarmen. Für das Unternehmen wurden die Lobbyisten zu einer Art Marktforschung. Umgekehrt fanden die es prima, wenn Verbraucher über den Fleischverarbeiter auf die vegetarische Wurst kommen.

Es war ein gegenseitiger Lernprozess. In den Diskussionen mit den NGOs wurden schnell mögliche Fallstricke deutlich. Zum Beispiel Soja aus Südamerika, für dessen Anbauflächen Regenwald zerstört wird. „Wenn wir das verwendet hätten, hätten wir mit Greenpeace richtig Ärger bekommen. Wir mussten andere Soja-Lieferanten suchen. Und es war damals nicht ganz einfach, in Europa Soja in ausreichender Menge zu kaufen“, sagt Röben. Eier aus Bodenhaltung statt aus Freilandhaltung wiederum wären für ProVeg und Peta inakzeptabel gewesen, denn Eier aus Legebatterien bedeuten, dass Tiere unnötig leiden. Also entschieden sich die Geschäftsführer für die etwas teureren Freilandeier.


Ein Unternehmen, das seit 184 Jahren Fleisch verarbeitet, lernt von der Vegetarier-Lobby.

Der Einfluss der Tierschutzaktivisten reichte bis zur Preisgestaltung: Röben und Bentlage überlegten, für ihre Veggie-Würste Bio-Gemüse zu verwenden, doch ProVeg riet davon ab, damit die vegetarischen Würste nicht teurer wären als die Fleischprodukte. Auch diesen Ratschlag nahmen die Wurst-Fabrikanten an.

Mühsamer waren einige Diskussionen mit der Seite, aus der die Rügenwalder Mühle kommt. Mit Politik und Bauernverbänden debattierten die Geschäftsführer bespielsweise um Begriffe, also etwa darüber, ob vegetarische Produkte überhaupt Wurst oder Mortadella heißen dürften. Der Deutsche Fleischer-Verband hatte zeitweise größere Vorbehalte als Peta. „Das war neu für uns, aber durch die neuen Produkte müssen wir jetzt viel stärker als früher mit vielen Stakeholdern kommunizieren. Das ist ein wichtiger Teil des Geschäftes. Wir sind mitten in einem Veränderungsprozess“, konstatiert Godo Röben.

Und der Prozess geht weiter – in der Gesellschaft, im Lebensmittelmarkt und im Unternehmen. Derzeit reden Bentlage und Röben mit den NGOs über neue Produkte. ProVeg hat vorgeschlagen, vegane Würste zu entwickeln. „Zuerst haben wir über solche Fragen nicht unbedingt nachgedacht. Aber für ProVeg ist das wichtig, also ist es auch uns wichtig“, sagt Godo Röben. Ein Unternehmen, das seit 184 Jahren Fleisch verarbeitet, lernt von der Vegetarier-Lobby. Das klingt absurd, aber der neue Slogan der Rügenwalder Mühle bringt es auf den Punkt: „Wir lieben Fleisch. Darum stellen wir es jetzt auch aus Pflanzen her.“ //

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Dieser Artikel stammt aus dem Magazin brand eins Thema "Reputation".

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