Budni

Mehr als 100 Jahre war Budni ein geliebter Hamburger Lokalmatador. Jetzt will die Drogeriekette Deutschland erobern. Kann das gut gehen?




• Es ist, als sei es Pflicht, alles Menschliche abzulegen, wenn man Unternehmer werden will. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass jeder Text über den Budni-Geschäftsführer Christoph Wöhlke betont, dass der Mann Skateboard fährt, so, als wäre das etwas total Cooles, wenn nicht gar Ausgeflipptes? Denn was ist dabei: Wöhlke ist street smart, gut beisammen und viel unterwegs – klar fährt er auch mal Skateboard. Und er könnte sich mit seinem Teilzeitverkehrsmittel sicherlich in seiner eigenen Firma bewerben.

„Toleranz“, sagt der Vierzigjährige, „ist in unserer globalisierten Welt ein großes Thema, und das ist gut für uns, denn damit hatten wir nie Probleme. Wir haben schon immer Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, Nationalitäten oder Lebensweisen beschäftigt. Wenn jemand gepierct oder tätowiert ist oder eine andere Muttersprache spricht, empfinden wir das nicht als störend, sondern als bereichernd. Auch das führt dazu, dass unsere Filialen so unterschiedlich sind wie die Menschen, die sie gestalten.“ Wie bestellt, läuft in genau diesem Moment eine junge Mitarbeiterin am Tisch vorbei, ihre Arme bunt wie das Leben.

Das Gespräch findet in einer gerade eröffneten Filiale der Drogeriemarktkette im Prenzlauer Berg, Berlin, statt. Wöhlke war bereits die Woche davor dort und wird sicherlich noch häufiger kommen. Für andere Handelsketten gehören neue Filialen zum Alltag, um den sich kein Geschäftsführer groß kümmern kann, aber für Budni ist der Ableger ein großer Schritt. Denn 106 Jahre lang existierte Budnikowsky, wie die Handelskette korrekt heißt, nur in Hamburg. Gründer Iwan Budnikowsky eröffnete sein erstes Seifengeschäft für Hafenarbeiter und andere Menschen niederen Einkommens und Ranges am 2. Oktober 1912 und war damit recht schnell erfolgreich: 1933 gab es 25 Filialen, 1987 waren es 54, 2006 schon 100. Heute sind es 185. Mit einer Ausnahme befinden sich bisher alle in der Metropolregion Hamburg, wo sich in fast jedem Viertel eine Filiale in Laufweite befindet.

Die Firma ist in der Hansestadt aber nicht nur für ihre Omnipräsenz bekannt, sondern auch für ihr gesellschaftliches Engagement: Jede Filiale unterstützt eine soziale Initiative ihrer Wahl, hinzu kommen die „Budnianer Hilfe“ zur Förderung sozialer Projekte im Kinder- und Jugendbereich sowie dies und das, was gerade anliegt. So werden die Kunden zum Beispiel jeden Sommer dazu aufgerufen, für Kinder aus sozial schwachen Familien Ranzen und Schulmaterial zu spenden – 2018 kamen 2800 Ranzen und 50 Kisten Füllung zusammen. Nahe am Alltag heißt die Devise.

In Hamburg ist die kuschelige Kurzform „Budni“, (die übrigens kein Marketing-Gag ist, sondern von den Kunden kam) fast schon ein Synonym für Drogerie – es gibt Kinder, die glauben, der Name sei ein anderes Wort für Supermarkt. Zudem sind das Unternehmen und seine Eigentümer hoch angesehen. Etabliert, erfolgreich, beliebt – Klassenziel erreicht, könnte man sagen.

Doch Budni will massiv expandieren: Bisher eröffnet die Firma in Eigenregie sieben bis zehn neue Filialen pro Jahr – davon soll in Zukunft ein Teil in Berlin entstehen. Außerdem sollen 50 weitere neue Filialen pro Jahr in Kooperation mit Edeka bundesweit dazukommen. Angesichts der soliden Ausgangssituation stellt sich die Frage: warum?


Filialleiter Dirk Schmidt (links) und Geschäftsführer Christoph Wöhlke vor ihrer neuen Filiale in Berlin

Der Drogeriemarkt ist unter Riesen aufgeteilt

„Die großen Ketten“, erzählt Christoph Wöhlke, „sind immer weiter nach Hamburg vorgedrungen und haben versucht, uns als letzten kleinen Mitbewerber zu verdrängen. Inzwischen hat Hamburg die höchste Drogeriemarkt-Dichte in Deutschland. Und jede neue Filiale eines Mitbewerbers bedeutet für unsere Filialen in der Nachbarschaft Umsatzeinbußen von bis zu zehn Prozent. Gleichzeitig steigen die Kosten in sämtlichen Bereichen, während die Kunden selbstverständlich niedrige Preise erwarten. Deshalb brauchen wir ein gesundes Wachstum.“

Verschärft wurde die Lage durch die Pleite der Drogeriemarktkette Schlecker. Fünf Milliarden Euro Umsatz waren plötzlich heimatlos – allerdings kaum in Hamburg, weil die Kette dort fast nicht präsent war. Die Konkurrenz dagegen konnte den warmen Regen in die Expansion investieren, selbstverständlich auch in der Hansestadt.

Hinzu kommt, dass die beiden größten Drogerieketten, dm und Rossmann, mit jeweils mehr als 3500 Filialen europaweit erhebliche Synergieeffekte haben. „Wir müssen für unsere 185 Filialen in vielen Bereichen den gleichen Aufwand betreiben wie dm oder Rossmann für mehrere Tausend“, weiß Wöhlke. Außerdem repräsentieren diese Ketten eine enorme Einkaufsmacht, der eine ähnliche Gruppe globaler Hersteller gegenübersteht. Bei denen kämen wir ohne den Partner Edeka nicht mehr vor.“ Die Folgen sind dramatisch: Die großen Ketten kaufen mehr Ware zu besseren Konditionen und können so Produkte zu Preisen anbieten, die im schlimmsten Fall Budni im Einkauf zahlt. Dagegen kommt langfristig niemand an.

Es ist ein bekanntes systemisches Problem: Marktmacht führt zu Konzentration, führt zu mehr Marktmacht, führt zu mehr Konzentration und so weiter. Das hat in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Kleinunternehmen die Existenz gekostet – als traditionelles, mittelständisches Familienunternehmen ist Budni im Handel mittlerweile eine echte Rarität.

Etwaige Wirtschaftsromantik erstickt Christoph Wöhlke allerdings im Keim. „In Familienunternehmen wird, wie auch in anderen Unternehmen, oft zu lange versucht, an gewohnten Verhältnissen festzuhalten – schließlich geht es um Tradition und Haltung.“ Doch die Familie spürte, dass ihre Firma dabei war, sich zum letzten Übernahmekandidaten der deutschen Drogeriebranche zu entwickeln. Es war klar: Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern.

Wer die Leute kennt, kann ihnen besser helfen

So suchten die Hamburger einen Partner, mit dem sie sich eine Zukunft vorstellen konnten. Sie fanden: Edeka. Entscheidend war, dass in dem genossenschaftlichen Unternehmensverbund ähnlich gedacht wird. Bei Edeka ist der Kaufmann vor Ort der eigene Herr, das ist eines der zentralen Erfolgskriterien – genau wie bei Budni. Hinzu kommt: Edeka weiß, wo Drogerien fehlen. Und Doppelstandorte – Drogerie neben gut laufendem Supermarkt – sind Gold wert. Die Handelskette ließ sich sogar vorläufig auf eine Minderheitsbeteiligung am Joint Venture ein. „Das ist wirklich großartig“, findet Wöhlke. „Wir können unternehmerisch eigenständig bleiben und haben zugleich Edekas Marktmacht und Kompetenz im Rücken. Und außerdem“, schiebt er nach, „passt es auch menschlich.“

Das ist nicht unwichtig, denn zu Budnis Erfolgskonzept gehören viele Faktoren, die nur schwer zu greifen sind und deshalb gern als weich bezeichnet werden. Da ist zuerst einmal die relativ hohe Autarkie der einzelnen Filialen. Insgesamt hat Budni um die 25 000 Produkte in seinem Portfolio und damit das größte Angebot unter den Drogerieketten. Allerdings stehen davon in jedem Laden nur rund 12 000, die auf die Bedürfnisse des jeweiligen Viertels zugeschnitten sind. Um die zu ermitteln, wertet Budni Daten aus, etwa aus der Rabattkarte Budni-Karte, die 2000 eingeführt wurde, aber auch Hinweise aus den Läden. Früher bestimmten die Teamleiter der Filialen sogar selbst das Sortiment, aber das überforderte sie zunehmend – die Produkte wechseln inzwischen so schnell, dass sie nicht mehr mitkommen können. Heute arbeitet Budni mit Layouts zu Produktgruppen, die verkleinert oder vergrößert werden können.

Doch nicht nur das Angebot passt zum jeweiligen Standort – auch sonst wird sehr darauf geachtet, dass die Filiale eine enge Beziehung zum Viertel hat. Das soziale Engagement zum Beispiel darf gern lokal stattfinden – der Berliner Laden etwa ist Pate der Jugendfarm Moritzhof im fünf Minuten entfernten Mauerpark. Und das ist noch längst nicht alles. „Der Filialleiter vor Ort“, meint Christoph Wöhlke, „muss das maximale Wissen über seine Nachbarschaft haben. Er muss verstehen, was die Menschen vor Ort wollen und beschäftigt, was ihre Themen sind.“

Die Teams vor Ort dürfen und sollen eigene Lösungen für Probleme ihrer Kunden finden. Wöhlke: „Die Menschen sind heute durch die riesigen Mengen an Informationen, die ihnen zur Verfügung stehen, oft schon bei einfachen Alltagsentscheidungen verunsichert. Da kann für sie die Empfehlung eines vertrauten Menschen wie etwa eines Mitarbeiters eine große Entlastung sein. Doch dafür ist eine große Kundennähe und ein hohes Maß an Verständnis nötig.“


„Erst wenn wir jedem Mitarbeiter mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen, schaffen wir die Grundlage für eine gute Zusammenarbeit.“

Die Mitarbeiter sind so wichtig wie die Kunden

Dirk Schmidt, der Teamleiter der Berliner Filiale, sieht das ebenso. „Die Beziehung zu unseren Kunden hier in Prenzlauer Berg wird tagtäglich enger. Man kennt uns jetzt. Und inzwischen kennen wir auch schon viele Kunden persönlich. Sie wollen die unterschiedlichsten Dinge – vom schnellen Notkauf, weil man die Eier für den Kuchen vergessen hat, über Beratung, welche Gesichtscreme am besten für empfindliche Haut geeignet ist, bis zur Tasse Kaffee vor Arbeitsbeginn. Manche decken sich auch regelrecht mit Vorräten ein, weil sie Dinge, die wir verkaufen, sonst nirgends bekommen.“ Schmidt, ein gemütlich wirkender Mann, ist seit sechs Jahren bei Budni und, wie die Hälfte der aktuellen Belegschaft, mit der Option nach Berlin gegangen, eventuell nach Hamburg zurückkehren zu können.

Zurzeit stammen acht Mitarbeiter aus Hamburg und acht aus Berlin. „Wir haben tolle Leute hier in Berlin gefunden“, sagt er. „Aber so ein Unternehmen wie Budni, das sich nicht nur auf jeden Kunden, sondern auch auf jeden Mitarbeiter einstellt, wo jeder gehört wird, kennen die bisher nicht.“ Doch er hat den Eindruck, dass die Botschaft langsam ankommt. „Man merkt von Woche zu Woche, wie sich das Zusammengehörigkeitsgefühl im Team verstärkt und alle gern zur Arbeit kommen.“

„Meine Großmutter“, sagt Christoph Wöhlke, „hat immer gesagt: Budni muss für die Mitarbeiter wie ein zweites Zuhause sein. Erst wenn wir jedem mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen, schaffen wir die Grundlage für eine gute Zusammenarbeit.“ Manchmal klingt Wöhlke, als sähe er es als seine Pflicht als Geschäftsführer, vernünftigen Ansichten, die früher den anständigen Kaufmann auszeichneten, eine betriebswirtschaftliche Begründung hinterherzuschieben. Dabei scheint es eher so, als sei er, der das Erbe Iwan Budnikowkys in vierter Generation weiterführt, vor allem durch genau solche Traditionen geprägt, die sich nun als erstaunlich zukunftsfähig erweisen.

Die Zukunft gehört dem Community-Geschäft

Das Betriebsklima ist ein gutes Beispiel. Wer jemals bei Budnikowsky gearbeitet oder gejobbt hat, weiß, dass die Stimmung dort in der Regel gut ist. Darauf achtet die Geschäftsleitung sehr, erzählt Christoph Wöhlke. „Wir sind schnell da, wenn wir irgendwo eine hohe Mitarbeiterfluktuation beobachten oder Hinweise bekommen, dass ein Team nicht funktioniert. Wir glauben fest daran, dass zufriedene Mitarbeiter die Grundlage für einen erstklassigen Service sind. Für ein gutes Arbeitsklima zu sorgen ist Aufgabe des Filialleiters und erfordert viel Empathie und Fingerspitzengefühl.“ Und das ist kein Gerede: Selbst Studentenjobber erinnern sich noch Jahre später staunend, wie auf die Bedürfnisse kleiner, austauschbarer Helferlein eingegangen wird. Das kostet natürlich ein wenig Mühe, bringt aber viel.

Freude an der Arbeit spart Zeit, Geld und sorgt, wie Teamleiter Dirk Schmidt sagt, dafür, dass man auch mal einen Schritt mehr macht als nötig.“

Jenseits des klassischen humanistischen Unternehmensvorbildes dm spricht sich das in den großen Handelsketten aber nur langsam herum. Viele verharren noch in der Ära, in der Mitarbeiter vor allem als Regalfüller oder Kassierer betrachtet wurden und damit als Kostenfaktoren, die es zu verringern galt. Denn entscheidend waren: Marktmacht, Einkaufspreise, Verkaufspreise.

Doch das ändert sich mit der Digitalisierung. Christoph Wöhlke beobachtet, dass sich der Bewegungsradius der Kunden verringert hat. Man fährt nicht mehr „in die Stadt“ oder ins Einkaufszentrum, sagt er, dort nehmen die Kundenfrequenzen eher ab. „Die Leute sind heute lieber in ihrer Nachbarschaft, ihrem Kiez unterwegs.“ Kiez bedeutet aber nicht nur drei Blocks in alle Richtungen, sondern eben auch persönliche Nähe. Für Budnis Filialnetz mit seinem nachbarschaftlichen Anspruch ist das natürlich gut.

Es ist eine Art Rückkehr des Einzelhandels, des kleinen Ladens an der Ecke – und damit ein weiterer Berührungspunkt mit Edeka: Das Unternehmen hat mit seinen inhabergeführten Supermärkten, die stolz den Namen ihrer Betreiber tragen, von dem Trend profitiert. Einer dieser Kaufleute ist Werner Massak aus Strullendorf bei Bamberg, der an dem Tag die Berliner Budni-Filiale besichtigt und grinsend erklärt: „Ich habe fünf Edeka-Märkte und 173 Justizvollzugsanstalten“ – er ist Marktführer im Verkauf von Waren an Häftlinge, dem sogenannten Gefangeneneinkauf.

„Ich habe einen Standort in Bamberg, wo ich eine Budni-Filiale eröffnen möchte, denn so etwas haben wir da noch nicht“, erzählt Massak in diesem freundlichen bayrischen Poltern, das Nordlichter gern etwas überwältigt. Er schaut sich um. „Die Filiale ist sehr gut durchdacht, schlüssig von vorn bis hinten. Ich sage immer: Man kann nicht einen Porschemotor in einen Trabant einbauen – so ein Auto muss von vorn bis hinten stimmig sein. Und hier ist das so.“

Die größte Supermarktkette Deutschlands, ein Familienunternehmen mit einem exzellenten Ruf und ein Trend, der Nähe und Ansehen einen hohen Wert gibt – was soll da schiefgehen? Doch Budnis Expansion wird kein Selbstläufer. „Wir brauchen Mitarbeiter“, sagt Christoph Wöhlke, „die sehr eigenverantwortlich handeln, die unsere Werte leben und kommunizieren können. Wir wollen keine Filial-Klone schaffen, sondern Geschäfte, die so einzigartig sind wie ihre Nachbarschaft und die Menschen, die dort leben. Dafür müssen wir verstehen, wer sie sind und was sie bewegt. Die große Herausforderung für uns ist, Menschen zu finden, die das können und auch gern umsetzen.“

Wie das geht? „Es gibt keinen Generalplan“, sagt Christoph Wöhlke. „Man darf sich als Unternehmerfamilie und als Unternehmensführung nicht so wichtig nehmen. In Berlin, aber auch in Hamburg, ist der Filialleiter entscheidend für den Erfolg vor Ort. Es geht um viel mehr, als darum Handelsexperte zu sein – das kann man lernen. Wichtig sind gewisse Grundwerte sowie Interesse an Menschen und Empathie. Das schlummert in vielen, wird aber von anderen Unternehmen nicht immer gefördert.“

Eine Alternative sieht Wöhlke sowieso nicht. „Der Gedanke ‚wir verkaufen Deos und überlegen, wie wir mehr Deos verkaufen‘ – das ist kein Weg in die Zukunft. Wir befinden uns in einer Transformationsphase. Ich glaube, der stationäre Handel wird sich in den kommenden Jahren zu einem Community-Geschäft entwickeln, wo man sich trifft und die Alltagsprobleme der Menschen gelöst werden. Und das wird nur funktionieren, wenn die Leute spüren, dass echtes Interesse an ihnen besteht.“ //