Auf Schleuderkurs

In den USA fragen Sticker auf zahllosen Lkw, Bussen und Lieferwagen: How’s my driving? Eine offene Einladung zu Lob und Tadel – deren Nutzen umstritten ist.




• Da, der gelbe Schulbus in der linken Spur hat einen Aufkleber. „How’s my driving?“ fragt der auf Augenhöhe angebrachte Sticker. Darunter steht eine gebührenfreie Telefonnummer für den Fall, dass man sich beschweren möchte, zum Beispiel weil einen der Bus geschnitten hat, beim Spurwechsel oder Abbiegen nicht blinkt oder zu schnell fährt. Zwei Fahrzeuge vor ihm steht ein weißes Shuttle der University of California, San Francisco, im morgendlichen Stau. Auf dem Kleinbus prangt ein ähnliches Schild, nur mit einer anderen örtlichen Telefonnummer und einer eigenen Kennziffer, um zu genau diesem Bus einen Kommentar abzugeben. Und auch der Klempner-Dienst direkt daneben passt ins Bild: Er fordert die Verkehrsteilnehmer via Aufkleber dazu auf, sich mit Beobachtungen bei einer Hotline zu melden.

Im US-Straßenverkehr gibt es kein Entkommen vor „How’s my driving“ (HMD). Egal ob Unternehmen eine eigene Hotline betreiben oder die Nummer zum Callcenter eines externen Dienstleisters führt: Von Verkehrsteilnehmern Lob und Tadel einzufordern ist in den USA ein großes Geschäft. Dabei geht es vor allem um vorbeugendes Risiko- management. Die Kommentare sollen helfen, problematische Fahrer zu identifizieren und zu bremsen, bevor ein Unfall die Versicherungsprämie nach oben treibt oder sogar zu einer Klage führt.

Die kleinen Sticker, so das Argument der Anbieter, sind eine vergleichsweise preiswerte Investition in den guten Ruf der Marke. Sogar in unserer Zeit allgegenwärtiger Datenerfassung hat die Kombination aus Denunziantentum und Crowdsourcing nicht ausgedient. Im Gegenteil: Sie hat offenbar ein symbiotisches Auskommen mit der Telematik gefunden, der Auswertung von Daten, die während der Fahrt gesammelt werden.

Wer die Idee mit den Aufklebern hatte, wissen selbst die alten Hasen im Geschäft nicht. Einig sind sie sich nur, dass alles in den Achtzigerjahren begann, lange bevor es Mobiltelefone gab, geschweige denn Smartphones oder gar billige Sensoren, die jede Lenkbewegung eines Truckers genauer registrieren, als es ein Fahrtenschreiber je konnte.

„Am Anfang haben wir jede Beschwerde, die bei uns einging, den Kunden gefaxt“, erinnert sich Darryl Tolentino, Chef von Fleetwatch, dem die griffige Web-Adresse howsmydriving.com gehört. Sein Unternehmen mit Sitz im kanadischen Vancouver ist einer der Marktführer. Fleetwatch hat nach eigenen Angaben um die 750 000 Fahrzeuge von mehr als 8000 Unternehmen in ganz Nordamerika mit Aufklebern ausgerüstet, von Tanklastern, Zementmischern und Sattelschleppern großer Unternehmen bis zu Montage-Fahrzeugen und Lieferwagen örtlicher Betriebe.

In der Jahresgebühr pro Fahrzeug, die je nach Flottengröße zwischen 12,50 und 20 Dollar beträgt, ist alles enthalten – die Entgegennahme der Anrufe, die Überprüfung, um triviales Gemecker auszusieben, die Berichterstattung und der Abgleich mit den Telematik-Daten. „Früher war es üblich, dass die Firmen eigene Hotlines betrieben, doch dabei stellte sich schnell ein Problem heraus“, berichtet Tolentino: „Es gab Leute, die ihre Kumpel hinterm Steuer schützten und dafür sorgten, dass einige Beschwerden nie beim Management landeten. Ein externer Dienstleister kann viel neutraler agieren.“

Das sieht auch Baron Davis so, Gründer und Geschäftsführer der Firma Safety Alert in Louisiana, die 1991 den Betrieb aufnahm. Nachdem ihn ein Sattelschlepper fast von der Fahrbahn gedrängt hatte und Davis eine Viertelstunde vergebens versuchte, eine Beschwerde zu hinterlassen, machte der ehemalige Immobilienmakler aus seiner Entrüstung ein Geschäft. Sein Konzept: Jeder Anruf soll prompt beantwortet und bearbeitet werden, damit Unternehmen das Fahrerverhalten dokumentieren und auf Probleme zügig reagieren können. Anfangs sprach Davis die großen Konsumgüter-Hersteller und Speditionen an, doch er merkte schnell, dass kleine und mittelgroße Betriebe mit eigenem Fuhrpark an seinem Angebot am meisten interessiert waren.

Mehr Transparenz und mehr Sicherheit?

„Sie sind Teil ihrer Gemeinde und wollen sich ihren guten Ruf bei den Nachbarn bewahren. Dazu gehört nicht nur, anständige Arbeit zu leisten, sondern auch das tadellose Verhalten der Mitarbeiter im Straßenverkehr“, erklärt Davis, dessen Firma bis heute rund 80 000 Fahrzeuge mit Aufklebern ausgerüstet hat. Während der durchschnittliche Fleetwatch-Kunde zwischen 3000 und 7000 Fahrzeuge betreibt, bringen es die Kunden von Safety Alert im Schnitt gerade auf 90. Davis verlangt pro Fahrzeug zwischen 15 und maximal 50 Dollar im Jahr. Und auch er betont wie Tolentino, dass es mit Aufklebern und einer Hotline allein nicht getan ist.

Große Anbieter haben die Sticker in ein umfassendes Programm integriert, bei dem die Auswertung von Beschwerden mit Modulen zur Fahrerfortbildung gekoppelt ist. Bei fast allen sind zudem Telematik-Daten eingebunden, um Beobachtungen der Verkehrsteilnehmer mit objektiven Sensor-Messungen zu ergänzen.

„Das Ziel lautet, mehr Transparenz zu schaffen, für Verkehrssicherheit zu sorgen und gutes Verhalten zu belohnen“, erklärt Fleetwatch-Chef Tolentino. Sensordaten seien präzise, aber weniger aussagekräftig als die Aussagen anderer Verkehrsteilnehmer. So gingen bei seinem Unternehmen beispielsweise regelmäßig Hinweise ein, dass jemand ein Firmen- fahrzeug irgendwo geparkt habe, um Sex zu haben, einen Stripclub zu besuchen oder sogar mit Drogen zu handeln. „Es geht uns nicht darum, dass Fahrer verunsichert werden oder wegen Lappalien ihren Job verlieren, sondern darum, die zehn Prozent Problemfälle herauszufiltern.“

Niemand weiß, wie viele Nutzfahrzeuge auf US-Straßen mit einem HMD-Sticker unterwegs sind. Schätzungen zufolge gibt es in den USA rund 1,2 Millionen Speditionen, die insgesamt 15,5 Millionen Lkw betreiben, zwei Millionen davon Sattelschlepper. Hinzu kommen etliche Millionen leichter Nutzfahrzeuge, vom Firmen-Shuttle bis zum Handwerker-Pick-up.

Eine wirksame Waffe gegen Fluktuation?

Alle diese Unternehmen haben ein Interesse daran, ihre Versicherungsprämien niedrig zu halten, denn in der Regel steigt der Preis einer Police nach jeder Geldbuße und jedem Unfall. Zugleich wollen sie die Fluktuation bei den Fahrern reduzieren. Die Branche leidet, zumindest im Ferngüterverkehr, unter chronischem Personalmangel. Der Dachverband ATA vermeldet, dass 2017 schon landesweit 51 000 Trucker fehlten, und erwartet, dass sich diese Zahl in den kommenden acht Jahren auf 174 000 mehr als verdreifachen wird.

Personalmangel heißt mehr Stress. Die Lkw-Flotten und -Fahrer werden umso intensiver und länger eingesetzt, je höher das Frachtaufkommen ist – und das wird kaum sinken, schon weil Online-Einkäufe und Retouren kontinuierlich zunehmen. Auch aus anderen Gründen wird das Problem absehbar größer. So baut etwa Amazon gerade einen eigenen Logistikdienst auf, bei dem nicht nur professionelle Trucker sondern auch Tausende unabhängige Freelancer mit geleasten Kleinlastern oder sogar Privat-Pkws im Einsatz sind. Wer die nicht ausgebildeten Fahrer beobachtet und zur Verantwortung zieht, wenn sie in zweiter Reihe parken oder waghalsige Wendemanöver vollziehen, ist eine ungeklärte Frage.

Doch ändert ein simpler Aufkleber wirklich das Fahrverhalten? Dienstleister wie Safety Alert und Fleetwatch, aber auch Verkehrsexperten und Versicherungsgesellschaften untersuchen seit Jahren, ob HMD-Aufkleber zu besserem Verhalten und mehr Verkehrssicherheit beitragen. Die Ergebnisse sind nicht eindeutig.

Die Betreiber der Hotlines verweisen auf einen steten Strom von Anrufen als Beleg dafür, dass sie eine wichtige Aufsichtsfunktion erfüllen. Bei Fleetwatch mit seinen rund 750 000 gemeldeten Fahrzeugen gehen im Sommer rund 1400 Telefonate am Tag ein, in den Wintermonaten knapp unter 1000. Safety Alert kommt auf durchschnittlich 77 Anrufe am Tag. Dabei sorgen 20 Prozent der Fahrer für 80 Prozent der Beschwerden, so Firmenchef Davis. „Der Großteil verhält sich korrekt. Ungefähr zehn Prozent der Leute rufen sogar an, um einem Fahrer ein Kompliment zu machen.“

Was ein Unternehmen mit den Beschwerden anfängt, ist ihm selbst überlassen. In der Regel werden Fahrer erst nach zwei oder drei Beschwerden abgemahnt, erzählt Tolentino. Oft ist ein Gespräch mit einem zusätzlichen Fortbildungskurs verbunden. Bei schwerwiegenden Verstößen oder einem Beinahe-Unfall kann allerdings auch schon eine einzige Beschwerde zur Entlassung führen. Rechtlich steht dem nichts entgegen, da sämtliche US-Bundesstaaten (außer Montana) Beschäftigungsverhältnisse als „at-will“ betrachten, also als freiwilliges Arrangement, aus dem man jederzeit ohne Frist oder Angabe von Gründen entlassen werden kann.

Für die großen Versicherungsgesellschaften scheint der Nutzen jedenfalls unbestreitbar: Sie haben die Beobachtungsprogramme zu einem festen Bestandteil ihrer Policen für Nutzfahrzeuge gemacht oder locken Kunden mit Nachlässen, wenn sie Aufkleber nutzen. Davis hat Partnerschaften mit 35 Versicherungsgesellschaften abgeschlossen, Fleetwatch mit mehreren Dutzend. Sticker am Fahrzeug können die Prämien um zehn bis 25 Prozent senken.

Und die Versicherungen bestätigen handfeste Ersparnisse. Die Hanover Insurance Group mit Sitz in Massachusetts fasste den Wissensstand in einer Veröffentlichung so zusammen: „Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass ein sorgfältig ausgewähltes und gut betriebenes Programm einen direkten, kostenmindernden Effekt auf die Unfallvermeidung haben kann.“

Die Versicherung berief sich dabei auf eine Auswertung bei Flotten von elf Fuhrunternehmen, bei denen die Unfallzahlen nach einem Jahr um 22 Prozent sanken, die Schadenssumme sogar um 52 Prozent. Die Zahlen decken sich mit den Studien anderer Gesellschaften. Fireman’s Fund nahm 200 kommerzielle Flotten über mehrere Jahre hinweg unter die Lupe und stellte fest, dass Aufkleber für einen 22-prozentigen Rückgang der Unfallquote verantwortlich waren. Und Great West Casualty, die auf Policen für Speditionen spezialisiert ist, untersuchte 78 Fuhrunternehmen über zwei Jahre und stellte sogar einen Rückgang der Unfallquote um mehr als die Hälfte fest.

Ein Modell für sämtliche Lebensbereiche?

Akademiker, die das Thema Sicherheit und Fahrerverhalten für das offizielle Transportation Research Board (TRB) bearbeiten, sehen diese Zahlen allerdings kritisch. Obwohl Versicherungen die Aufkleber explizit unterstützen und sogar bezahlen, wiesen die unabhängigen Experten darauf hin, dass viele Sicherheitsbeauftragte in Logistikunternehmen keine hohe Meinung von den Stickern haben. In einer Umfrage gab nur gut jeder Fünfte an, überhaupt solche Aufkleber zu verwenden. Schlimmer noch: Verglichen mit Fahrertraining, Fahrtenschreibern und moderner Telematik halten die meisten Flottenmanager die Aufkleber für wirkungslos – sie haben sie auf ihrer Prioritätenliste ganz weit unten stehen.

Das könnte nach Meinung der Autoren auch daran liegen, dass es oft keinen organisierten Feedback-Kreislauf gibt, um Beschwerden methodisch zu erfassen und darauf angemessen zu reagieren. Das verhaltene Fazit der Akademiker: „Aufkleber sind eine wertvolle Sicherheitsmaßnahme, aber es fehlt eine gründliche Dokumentation ihrer Wirksamkeit.”

An dieser zwiespältigen Einschätzung hat sich mit den Jahren nicht viel geändert. Auf der einen Seite stehen Flottenmanager wie Rocky Milino von der Filmproduktion-Ausstattungsfirma Sim International in Vancouver. Er versah vor sechs Jahren die ersten 100 seiner Produktions-Trailer mit Aufklebern von Fleetwatch und hat keine Zweifel, dass sie sich lohnen, um „Unfälle zu vermeiden und guten Willen zu schaffen“. Da Sim-Trailer an ständig wechselnde Fahrer von Film-Crews vermietet werden, bieten die Sticker eine zusätzliche Kontrollinstanz, um bei Beschwerden Verantwortliche zu identifizieren und Missstände abzustellen. „Wir haben es in meiner Branche mit professionellen Fahrern zu tun, aber die 30 bis 40 Anrufe im Jahr machen ganz klar einen Unterschied, der unserem guten Ruf hilft“, ist Milino überzeugt. Deswegen weitet die Firma das HMD-Programm gerade auf seine Fuhrparks in mehreren anderen Großstädten wie Atlanta und Los Angeles aus.

Auf der anderen Seite stehen große Fuhrunternehmen wie UPS mit seinen rund 100 000 Fahrern. Der weltweite Kurierdienst hält nichts von Aufklebern, erklärt Firmensprecher Dan McMackin kategorisch. „Eine gründliche Ausbildung und eine Kultur des defensiven Fahrens sollten immer mehr Priorität genießen als Sticker.“ Deren Wirksamkeit sei fragwürdig, obendrein seien sie nicht sicher, glaubt McMackin: „Sie lenken andere Verkehrsteilnehmer unnötig ab, wenn sie eine Nummer aufschreiben oder wählen.“ Wer sich bei UPS oder dem großen Konkurrenten FedEx beschweren wolle, könne das über die allgemeine Service-Hotline tun, die unübersehbar auf den Fahrzeugen prangt. Die Zahl der Anrufe, versichert der UPS-Sprecher, sei allerdings „minimal“.

Doch die Bedenken der Branche halten niemanden davon ab, ein System der allgegenwärtigen Beobachtung sogar für sämtliche Lebensbereiche vorzuschlagen. So plädierte der Juraprofessor Lior Strahilevitz von der Universität Chicago in einem Fachaufsatz 2006 dafür, HMD „für alle und alles“ einzuführen. Ein Smiley-Knopf für saubere Toiletten sei längst nichts Besonderes mehr. Doch wie wäre es, fragte Strahilevitz, mit zeitnahen Kommentaren „das Verhalten von Soldaten, Polizisten, Hotelgästen, Sportfans und Mitgliedern von virtuellen Welten zu regulieren?“

Mit der Einführung des iPhones 2007, Millionen von Apps und kleinen Kameras auf immer mehr Armaturenbrettern oder Sturzhelmen scheint die Realität diese Vision aber längst überholt zu haben. Auch wenn es keine Aufkleber gibt, beteiligt sich ein keineswegs kleiner Teil der Menschheit auf Social-Media-Plattformen inzwischen an einem endlosen Feedback-Kreislauf, dessen unausgesprochener Titel zu sein scheint: „How’s my living?“ //