Woher kommen Deutschlands Entwickler von morgen?

Hogwarts für Programmier-Novizen

In Deutschland öffnen gleich zwei Ableger der erfolg- reichen IT-Schmiede „École 42“ aus Paris: Ganz ohne Lehrer und Lehrpläne sollen in Heilbronn und Wolfsburg die Softwareentwickler der Zukunft ausgebildet werden.





Dieser Artikel erschien in der Ausgabe IT-Dienstleister 2021.

/ „Deep Thought“ heißt der Computer, der im Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ die berühmteste sinnlose Antwort der Popkultur auf die Frage aller Fragen auswirft, die „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“. Sie lautet: „42“.

Einer IT-Schule, die den Anspruch hat, die weltbesten Programmierer auszubilden, den Namen 42 zu verpassen, zeugt also von einer gewissen Fähigkeit zur Selbstironie. Denn um 42 als die Antwort auf alles auszuspucken, hat der Superrechner in Douglas Adams’ weltbekannter Science-Fiction-Satire 7,5 Millionen Jahre gebraucht.


 


Die Pariser „École 42“ dagegen kann manche ihrer Studenten schon nach ein paar Monaten, nämlich dem ersten Praktikum, ins gut bezahlte Programmiererleben verabschieden. Die Talente von der 42 sind angeblich so begehrt, dass sie gleich vom Fleck weg engagiert werden – oder sich ermutigt fühlen, selbst ihr erstes Start-up zu wagen. Auf zwei bis fünf Jahre ist die Ausbildung angelegt und kostet die Studenten: nichts. Sehr wohl aber können sie bereits Geld verdienen – während ihrer Betriebspraktika.

Seit Gründung der Pariser Programmierer- Schmiede im Jahr 2013 durch ein illustres Quartett um den heute 53-jährigen Internetmilliardär Xavier Niel sind weltweit schon 33 Franchise-Ableger gewachsen, darunter in den USA, Marokko und Armenien. Rund 10 000 Absolventen haben an einer 42 das Codieren als Gleiche unter Gleichen gelernt, peer to peer.** Sie mussten, um einen Platz zu ergattern, weder Schul- noch Studienabschlüsse vorweisen. Sie sollten jedoch „Born2Code“ sein, geboren, um zu programmieren.

Das ist nicht nur ein Slogan, sondern der Anspruch: Man verspricht den Teilnehmern eine „pädagogische Revolution“. Spoiler: nur lernen, was man will, aber das ohne Lehrer und ausschließlich anhand von Software- Aufgaben aus dem echten Leben.

Ausgerechnet Deutschland, das Land der Denker und Maschinenbauer, war bisher Terra incognita bei diesem Streben nach neuen Ufern in der IT-Ausbildung. Das ändert sich in diesen Monaten schlagartig. Gleich in zwei Städten öffnen 42-Schulen, in Heilbronn im Süden und in Wolfsburg im Norden. Finanzier der einen ist die Dieter Schwarz Stiftung. Sie investiert seit 1999 Ausschüttungen des Handelskonzerns Schwarz-Gruppe, zu der Lidl und Kaufland gehören, in Forschung, Bildung und Soziales.

Hinter der Schule in Wolfsburg steht der Volkswagen-Konzern. Den gemeinnützigen Trägerverein der Schule 42 Wolfsburg, der von Ralph Linde, in Personalunion Leiter der Bildungssparte Volkswagen Group Academy, geführt wird, sponsert der Auto- und Technologiekonzern. Hier bald ohne Zugangsvoraussetzungen und Autoritäten studieren zu können, schwärmt Ralph Linde, „wird das Ökosystem des Lernens völlig verändern“.

Aus Kalifornien nach Heilbronn

Aufgebaut und geführt werden die Schulen von Max Senges (Wolfsburg) und Thomas Bornheim (Heilbronn). Dass Senges, 42 Jahre alt (kein Witz), ein promovierter Internet- philosoph und gelernter Wirtschaftsinformatiker ist und Bornheim, 45, einen Einskomma- null-Magister in Vergleichender Literaturwissenschaft hat und gleichzeitig Riesenspaß am autodidaktisch erlernten Programmieren, ist Teil des Konzeptes. Denn an den 42er-Schulen erinnert nichts an ein Informatikstudium, sie ähneln eher Hackerclubs im Gewand schicker Werbeagenturen.

Das müssen ihre CEOs verkörpern und verkaufen: Es gibt keine Dozenten, keinen Stundenplan, keine Scheine, keine Abschlüsse, keine Anwesenheitspflicht. Es gibt nur 21 Levels zu erreichen, was nicht zufällig ein Begriff aus der Zockerwelt ist. „Gamifiziert“ soll die Lernumgebung laut Eigenwerbung sein, computerspielerisch sozusagen. „Wir haben 24/7 offen“, sagt Senges, der wie Bornheim auch schon auf der halben Welt geforscht und gearbeitet hat.

Dass beide lange bei Google waren und sich daher gut kennen, ist eine Zufälligkeit, als sie unabhängig voneinander Anfang 2020 für die neuen Schulen rekrutiert werden, nahezu zeitgleich. Während Senges zuletzt von Berlin aus für Google gearbeitet hat, ist Bornheim im Corona-Spätsommer mit seiner Familie von Mountain View, Kalifornien, extra nach Heilbronn an den Neckar gezogen.

So euphorisch wie er am Telefon seine Pläne schildert und so enthusiastisch wie Senges in einem Kreuzberger Coworking-Space beim Interview wirkt, bedauert man glatt, ein Digital Naive zu sein, so gut könnte das werden, was sie da aufziehen wollen: Die Magie von Harry Potters Hogwarts wird beschworen, die Prinzipien Maria Montessoris werden hochgehalten („Hilf mir, es selbst zu tun“), „die Exzellenz des MIT“ in Cambridge wird als Messlatte angelegt und der Innovationsgeist eines Ferdinand Porsche angerufen, „um die nächste Generation europäischer Software-IngenieurInnen auszubilden“ (VW-PR).

Wo die Ohren schon mal schlackern, wundert es nicht mehr, wenn Senges erzählt, wie Bornheim und er als freundschaftlich konkurrierende Schulleiter neulich darüber fantasiert hätten, inwiefern man die zehn Gebote des „Burning Man“-Kulturfestivals für ihre 42er-Schulen adaptieren könnte. Beim Burning Man treffen sich jährlich in der Wüste Nevadas in pandemiefreien Zeiten bis zu 60 000 (Selbst)Darsteller zu einer friedlichen kunst- bis wahnsinnigen Feier des Lebens.

Mit deren dritten Gebot würde es allerdings schwierig: Es propagiert eine werbe- und kommerzfreie Zone ohne Sponsoring. Davon aber leben die gemeinnützigen 42- Schulen. Zwei Millionen Euro wird VW jährlich der Wolfsburger spendieren, dieses Jahr sind es sogar 3,7 Millionen. Davon wird gerade die im Midcentury-Stil erbaute, ehemalige Hertie-Markthalle zum Spiel- und Arbeitsplatz der künftigen Codier-Novizen umgebaut. Auch in Heilbronn hat die Stiftung ein schönes altes Loftgebäude gekauft, das jetzt für den ersten Durchgang hergerichtet wird, Ruhe- zonen inklusive.

Foto: maxsenges.com

Max Senges, 42, ist promovierter Internetphilosoph und Wirtschaftsinformatiker – jetzt wird der Ex-Google-Mann Leiter der Schule 42 in Wolfsburg.*

Das Burning-Man-Gebot 1 dagegen –„Radikale Offenheit“ – passt, da heißt es nämlich: „Niemand muss irgendwelche Bedingungen erfüllen, um Teil unserer Gemeinschaft zu werden.“ Tatsächlich gibt es nur eine Bewerbungs-Voraussetzung: Man muss über 18 sein. Das reicht zumindest, um am Auswahlverfahren teilzunehmen. Es startet mit einem mehrstufigen Online-Konzentrations- und Eignungstest, der zwar aufgebaut ist als Spiel – aber schon algorithmische Fähigkeiten abklopft. Kenntnisse gängiger Programmiersprachen wie etwa Python, Java oder C++ sind aber noch nicht vonnöten.

Die Besten jeder Eingangstests – nach den Erfahrungen in anderen Länder sind die meisten zwischen 18 und 30 Jahre alt – werden an die Schulen ins „Piscine“ eingeladen, ins Schwimmbad. Der von den französischen 42-Gründern geprägte Name klingt netter als Assessment-Center oder Bootcamp. Aber was man in den vier Wochen von den Aspiranten wissen will, läuft auf dasselbe hinaus: wer sich am besten eignet.

„Oh nein“, das sei nicht mit Elite zu verwechseln! Sagt Senges auf Nachfrage ernst und schiebt kurz seinen kalifornischen Positivismus beiseite: „Man braucht null Vorkenntnisse. Was man braucht, ist intrinsische Motivation und einen großen Appetit zu lernen.“ Englisch zu verstehen ist übrigens auch hilfreich. Denn das ist die Studiersprache.

Teamplayer im Schwimmbad

Im Piscine wird – anhand der vom 42er-Netzwerk standardisierten Aufgaben – vorweggenommen, was nachher das Lernprinzip der gesamten Ausbildung ausmacht: Während die Grundlagen der Programmiersprachen erlernt werden, gibt es stets mehr Probleme zu lösen, als einer schaffen kann – und sie werden komplizierter. Die Testphase ist so gebaut, dass jeder und jede irgendwann nicht mehr allein weiterkommt. Laut Erfahrungsberichten erfolgreicher Teilnehmer kann man also das Gros nur lösen, wenn man andere um Hilfe bittet und selbst Hilfe stellt – also ein Teamplayer ist. Die Gefahr, eine Ansammlung lebensferner Cybernerds auszubilden, bleibt von vornherein gebannt.

Die ersten drei Piscines laufen von Februar bis April voll. In Heilbronn und Wolfsburg sollen je 150 Auserwählte herausgefischt werden. Und wenn es die Bewerbungen hergeben, gern 50 Prozent davon Frauen, sagt Senges. Aber er weiß, dass schon ein Drittel eine gewaltig hohe Quote wäre, so männlich ist das Berufsbild nach wie vor dominiert.

Bereits im Mai 2021 soll an beiden Standorten der erste Durchgang starten. Die Teilnehmer bringen sich im Selbststudium über die von der École 42 entwickelten Aufgabenkomplexe die wichtigsten Grundlagen der Programmierung bei, darunter die gängigen Sprachen, den Aufbau von Software-Architekturen und die Grundlagen maschinellen Lernens. Auf maximal 600 Studenten kann die Belegung in Heilbronn und Wolfsburg jeweils anwachsen, wobei immer ein Gutteil in Praktika sein wird.

Die Unternehmen der Region freuten sich schon auf die geborenen Coder, sagt Thomas Bornheim. Mithilfe einer Unternehmensberatung ist er dabei, die Einsätze in Firmen zu konzipieren und Mentoren zu gewinnen. Es sind Große darunter, der Optik-Konzern Zeiss, Daimler und der Unterhalt stiftende Handelskonzern, die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland. Die will übrigens gerade eine eigene Softwaresparte aufziehen. Bornheims Ziel: 42-Schüler sollen in den Unternehmen konkrete Probleme lösen helfen – und von vorneherein wissen, welche. Im Silicon Valley habe er erlebt, dass Firma und Werkstudent nicht immer wüssten, was sie voneinander erwarteten: „Das bringt es dann nicht.“

„Natürlich“, sagt Ralph Linde, Chef der Volkswagen Group Academy und Initiator der Wolfsburger Dependance, verbinde man mit der 42 „auch die Hoffnung, dass sich viele Absolventen finden, die sich für Automotive-Themen begeistern und bei uns oder einem unserer Zulieferer einsteigen“. Dennoch sei die Schule gemeinnützig, unabhängig „und offen für alle Plattformen. Das macht gerade ihre DNA aus.“

Foto: 42 Heilbronn

Thomas Bornheim, 45, hat sich das Programmieren selbst beigebracht. Seinen Magister in Vergleichender Literaturwissenschaft hat der Leiter der Heilbronner Schule 42 an der FU Berlin gemacht.

Gemeinnützig und gebührenfrei – der Geist hinter den École-42- IT-Schmieden klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Die Absolventen sind heiß begehrt – klar, dass es deshalb einen aufwendigen Auswahlprozess gibt.

Verantwortung und Savoir vivre

Tatsächlich hat die VW-Academy schon 2018 ein Programm aufgelegt, das Nachwuchs für den eigenen Bedarf ausbildet: An der „Fakultät73“ kann man in nur zwei Jahren Softwareentwicklerin und -entwickler werden. Bewerben kann sich dafür jede(r) aus dem gesamten Konzern, auch Externe sind ausdrücklich willkommen. Froh mache ihn, sagt Linde, dass die Quote etwa bei fifty-fifty liege, „und dass wir Talente gewinnen konnten, die vorher bei uns in den Montagelinien gearbeitet haben“. Die Konditionen sind verlockend: VW-Mitarbeiter, die sich über das Angebot qualifizieren, beziehen weiter ihr Gehalt. Namensgeber ist übrigens auch bei dieser Initiative die Popkultur: 73 ist die Lieblingsprimzahl der Figur Sheldon Cooper aus der amerikanischen Physiker-Sitcom „The Big Bang Theory“.

Offenbar setzt die Wirtschaft viel daran, das Programmieren-Lernen zu einem großen Spaß zu machen – was daran liegt, dass der Bedarf an Fachkräften enorm ist, vor allem an Entwicklern, die mitdenken, unternehmerisch ticken, teamfähig sind und sich trotzdem selbst organisieren können.

Max Senges spricht davon, dass es an den neuen 42-Schulen „auch um gesellschaftliche Verantwortung geht und überhaupt um Lifestyle und Savoir vivre, um eine ganzheitliche Bildung für ein sinnvolles und glückliches Arbeitsleben“.

Also zwischendurch lieber mal zum Kitesurfen fahren, wie Senges es bisweilen tut, statt nachts um drei mit Pizza vor einem der 260 Macs einen Bandscheibenvorfall zu züchten. Zum Beispiel während man mittels der Programmiersprache Python einen Avatar namens Marvin verzweifelt dazu bringen will, gleichmäßig über den Bildschirm zu laufen –das ist so eine Aufgabe aus der 42.

Senges schwebt vor, die Studenten im geplanten „Fab Lab“, der offenen Werkstatt „seiner“ 42, einen selbstfahrenden VW Käfer (den Oldtimer natürlich) bauen und programmieren zu lassen. Bornheim wiederum spinnt Ideen, im Heilbronner Labor mit Kameras bestückte Drohnen so mit künstlicher Intelligenz in Form selbstlernender Bilderkennungssysteme aufzuladen, dass sie unberechenbare Naturphänomene, wie die Größe und Gesundheit von wilden Bienenvölkern, erfassen, verarbeiten und bewerten können.

Damals, im alten Jahrhundert, kursierten komplizierte mathematische Theorien, warum der Supercomputer in „Per Anhalter durch die Galaxis“ ausgerechnet die 42 auf die Fragen aller Fragen auswarf – bis Schriftsteller Adams den Spekulationen ein Ende setzte: „Die Antwort ist ganz einfach. Es war ein Scherz. Es musste eine Zahl sein, eine gewöhnliche kleine Zahl, und ich wählte diese … Ich saß am Schreibtisch, starrte in den Garten und dachte ,42 geht‘. Ich tippte es. Ende der Geschichte.“

Trotzdem, falls man es nicht wisse, sagt Max Senges, der Binärcode von 42 laute: 101010. //

*In Deutschland wurde mittlerweile der dritte Standort in Berlin eröffnet, den Senges heute ebenfalls leitet.

**Weltweit sind es im Sommer 2023 mittlerweile 50 Standorte und mehr als 18000 Studierende.