Hüwwe und drüwwe: Die Brücke ist offen, die Verbindung reißt ab

Seit 1993 gibt es dank dem Schengener Abkommen keine Grenzkontrollen mehr ­ auch nicht zwischen den Dörfern Scheibenhardt in der Pfalz und Scheibenhard im Elsass. Die Gemeinden versuchen, die Zusammengehörigkeit zu festigen, doch für die nachwachsende Generation hält sich der Reiz am direkten Gegenüber in Grenzen.




An der Lauterbrücke zerfällt die Welt in zwei Teile, in hüwwe und drüwwe, in Scheibenhardt und Scheibenhard. Wären diese beiden Dörfer Europa in Miniatur, es würde sich der Schluss aufdrängen: Europa? Gute Nacht. Die Schranken sind offen, doch zwischen Scheibenhardt, Pfalz, und Scheibenhard, Elsass, ­ keine 25 Meter voneinander entfernt ­ reißen die Verbindungen ab. Man kennt sich kaum. Man verwendet keine Mühe, sich kennenzulernen. Über die Lauterbrücke, die mit Geranien üppig dekoriert ist, schlendern Franzosen gerade mal, um ein Eis im Bistro "Felice" (Deutschland) zu holen. Und Deutsche, um in der "Auberge à la fleur" (Frankreich) Froschschenkel in Knoblauchsauce zu essen. Dann geht es schnell wieder zurück. Auf vertrauten Boden, zur vertrauten Sprache. Die ist deutsch. Oder französisch. Aber immer seltener "scheibenhardterisch", umgangssprachlich: "scheiwert".

Die Deutschen klappen die Schranke hoch ­ schönes Symbol.

Bei den Franzosen ist die Schranke weg. Symbole? Schnickschnack

Scheibenhardt in der Pfalz, rund 700 Einwohner, ist ein armes Dorf, das mit 800000 Euro im Jahr auskommen muss, es gibt so gut wie keine Arbeitsplätze, wer hier wohnt, ist alt, Hausfrau, oder er fährt nach Karlsruhe oder Wörth zum Geldverdienen ­ vor allem zu DaimlerChrysler oder in die Papierfabrik Palm. Entlang der Hauptstraße dominiert der Baustil der sechziger Jahre, betonweiße und erbsgelbe Fassaden, graue Rollläden, nur vereinzelt stechen Fachwerkhäuser heraus, gebaut vor 250 Jahren, als Scheibenhardt französisch war und französische Kultur herüberschwappte. Die Gärten sind sauber gepflegt ­ besonders der Vorplatz zur Kirche: kein Unkraut zwischen den Pflasterritzen, alles geschrubbt wie ein Krankenhausflur. Die Schaufenster der früheren Bäckerei Saum stehen leer. "Metzgerei, Lebensmittel" ist hundert Meter weiter auf einem geschwungenen Eisenschild zu lesen, aber auch hier sind die Fenster zugeklebt. Die Dorfwirtschaft "Zum Kreuz", in die früher die Männer von diesseits und jenseits der Brücke nach der Kirche zum Stammtisch gingen, existiert nicht mehr, seit die Besitzerin vor elf Jahren starb.

Vor dem Häuschen, an dem bis 1993 ein Zöllner Wache hielt, wacht heute eine struppige Katze, beigefarbenes Fell, finsterer Blick ­ würde der finsterste aller Zöllner noch leben, dann wäre die Katze seine Reinkarnation, spöttelt man hüben wie drüben. Die beiden rot-weißen Schranken sind nach oben geklappt, man hätte sie natürlich auch abschrauben können, als das Schengener Abkommen die Personenkontrollen abschaffte, aber die Scheibenhardter mögen Symbole. Hochgeklappte Schranken: Das steht für Freiheit, für offene Grenzen. Auf der anderen Seite ist die Schranke weg ­ die Franzosen finden Symbole weniger wichtig, sie finden derlei mitunter sogar einen typisch deutschen Schnickschnack. Die Franzosen beschränken sich auf ihre Pflichtschilder: ein blaues Schild, auf dem in weißer Schrift "France" steht, eines mit zwölf goldenen Europa-Sternen und ein gelbes, auf dem in beiden Sprachen zu lesen ist: "Eintrittserklärung für das Staatsgebiet Frankreich ­ Die Leute die dieser Meldepflicht unterliegen, werden gebeten, ihre Eintrittserklärung bei der nächsten Polizei-, Zoll- oder Gendarmeriedienststelle abzugeben."

Die Hauptstraße mündet jenseits der Brücke in die Rue de trailleurs tunesiens, die Straße der tunesischen Schützen, was an die Befreiung von den Deutschen erinnert. Das Dorf auf der französischen Seite ist etwa genauso groß, etwa genauso arm, aber ein bisschen schöner als Scheibenhardt, das räumen die meisten Deutschen ein: Die "Auberge à la fleur", direkt rechts an der Brücke, beherbergt ein Restaurant in einem aufwendig mit Blumen geschmückten Gebäude. Die Häuser sehen freundlicher aus, es gibt mehr Fachwerk, die Fassaden sind hier und da hellblau oder zartpink gestrichen, wilde Blumengärten tun sich auf. Romantisch schön ist allerdings weder Scheibenhardt noch Scheibenhard ­ kein Vergleich mit Lauterbourg, zwei Kilometer weiter. Schon auf dem Ortsschild prangt stolz der Hinweis auf den prächtigen Blumenschmuck in Lauterbourg: "Ville très fleurie". Wenn Touristen nach Scheibenhardt oder Scheibenhard kommen, kommen sie nicht wegen Blümchen, sondern weil es kaum sonst irgendwo einen Ort gibt, der vom Sturm der Geschichte derart wild hin- und hergeschleudert wurde.

Nach der Gründung im 12. Jahrhundert war Scheibenhard deutsch, verwaltet vom Bistum Speyer. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts, nach dem Dreißigjährigen Krieg, wurde es französisch, unterstand aber immer noch dem Bischof von Speyer. Der Wiener Kongress, der 1815 das nachnapoleonische Europa ordnete, riss den Ort 1815 ohne Rücksicht auf Verluste entzwei ­ die Lauter bildete fortan die Grenze. 1871, nach dem deutsch-französischen Krieg, wurde das elsässische Scheibenhard wieder deutsch. Nach dem ersten Weltkrieg französisch. Nach Kriegsausbruch 1939 wurden beide Ortsteile evakuiert, das Elsass von den Deutschen besetzt. Auch Elsässer wurden zur Wehrmacht zwangseingezogen. Seit 1945 gehört Scheibenhardt zu Deutschland und Scheibenhard zu Frankreich. Wunderbar kann man Schulklassen oder wandernden Senioren demonstrieren: Kinder, das ist Europa!

Francis Joerger, 59, Sozialist, gibt sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Hauptberuflich ist er Lehrer, nebenberuflich seit 18 Jahren Bürgermeister auf der französischen Seite. Sein Blick ist schwer, er wirkt missmutig, daran ändert auch das rosafarbene Hemd nichts. "Wir marschieren rückwärts", sagt er. Er geht hinter seinem verschrappten Schreibtisch auf und ab ­ in einem gelben Gebäude, auf dem "Mairie", Bürgermeisteramt, steht und in dem auch der Kindergarten untergebracht ist ­ ob er nächstes Jahr noch mal kandidieren wird, weiß er nicht, eventuell, wenn sich abzeichnen würde, dass er seine Vision verwirklichen könnte, eine gemeinsame Jugendherberge.

Er ist frustriert über die deutsch-französischen Beziehungen. Schlimm war die Fußball-WM: Hupend, triumphierend, mit gehissten Fahnen seien die von drüben wie germanische Horden mit ihren Autos durch Scheibenhard gerast, wenn Deutschland gewonnen hat. "Mir würde nie einfallen, mit der Bleu-Blanc-Rouge durch Deutschland zu fahren, das würde ich nie machen", sagte Joerger. Ein Glück, findet er, dass es kein Spiel Deutschland ­ Frankreich gegeben hat. Oder die Geschichte mit der Dorfchronik, die 2006 zum 800-jährigen Bestehen der Ortschaften als deutsch-französisches Gemeinschaftswerk herauskommen sollte. Die Deutschen wollten ihren Zeitplan durchdrücken; dass die Elsässer damit Schwierigkeiten hatten, habe sie nicht sonderlich interessiert, sagt Joerger. Schließlich haben die drüben ihre Chronik allein geschrieben ­ ein stolzes blaues Buch, 400 Seiten, mit der Scheibenhardtschen katholischen Kirche auf dem Deckel und nicht, wie geplant, der gemeinsamen Lauterbrücke. Das einzige Gemeinsame, was man termingerecht gebar, war ein Telefonbuch.

Aber das traurigste Kapitel ist für Joerger immer noch der Kindergarten. Als man in Deutschland nicht mehr genug Platz für die Kinder hatte, euphorisierte diese Idee die Gemüter: Man könnte gemeinsam einen "Europakindergarten" aus der Taufe heben. Es wurde konferiert, kalkuliert. Die Deutschen wollten den Kindergarten so schnell wie möglich, die Elsässer alles in Ruhe angehen ­ da bauten die Deutschen ihren Kindergarten schließlich allein. Die Sache ist 15 Jahre her, die Wunde immer noch nicht verheilt, man fühlte sich in Frankreich missachtet und überrumpelt ­ und das nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal.

So viele Unterschiede: Sprache, Planung, Verkehrsregeln, Preise

Keinen Kilometer Luftlinie vom französischen Bürgermeister entfernt, ist Michael Löhle aus der Pfalz, 43, mit seiner Familie beim Abendbrot versammelt: seine Frau Regina, die Töchter Anna-Maria, Theresia, Melissa und Benedikt, der Sohn. Löhle zuckt mit den Schultern. Er ist ein umtriebiger Mann, Vorsitzender der CDU im Dorf, stellvertretender Ortsverwalter in Scheibenhardt, an der Chronik hat er wesentlich mitgeschrieben. Von der Feuerwehr bis zum Fußballverein ist er in so ziemlich allen Vereinen außer der katholischen Frauengemeinschaft aktiv. Was soll er denn machen? Die Gemeinde macht doch schon sehr viel. Die 800-Jahr-Feier! Das Brückenfest, das seit 1996 einmal im Jahr hüwwe und drüwwe gefeiert wird! Der gemeinsame Martinsumzug! Sein Scheibenhardt kann doch nichts dafür, dass die Franzosen auf der anderen Seite so zögerlich sind. Ihren Part zur Chronik haben sie nicht rechtzeitig abgeliefert. Für den Kindergarten brauchten sie viel zu viel Bedenkzeit. Und außerdem: Wie sollte man die Jugend von hüwwe nach drüwwe zwingen? Die einen treffen sich im Anbau beim Bürgerhaus auf der deutschen Seite, die anderen im Feuerwehrhaus auf der französischen Seite. Und manche bleiben sowieso am liebsten zu Hause und chatten am Computer.

Seine eigene Familie ist ein gutes Beispiel: Regina Löhle fährt nicht gern ins Elsass, weil die Vorfahrtsregelungen anders sind als in Deutschland. Das Ehepaar Löhle begibt sich also nur zusammen zum Supermarkt "Champion", der am Ortsrand von Scheibenhard liegt. Dort wird dann günstig der Wagen vollgetankt und ein ordentlicher Vorrat an Volvic-Mineralwasser eingeladen, 1,5 Liter für nur 50 Cent. Anna-Maria und Theresia haben vor den Franzosen eine Scheu, die sie selbst nicht genau beschreiben können, die anscheinend aber vor allem mit Sprachbarrieren zu tun hat. Sie kichern. Beide hatten bis zur mittleren Reife beziehungsweise bis zum Hauptschulabschluss kaum Französisch in der Schule. Anna-Maria erinnert sich: Als Jugendliche war sie mit einer Freundin im Dorf unterwegs, ein paar französische Jungs riefen ihnen etwas nach, was sie nicht verstanden. Übrig blieb Verunsicherung. Nur die beiden Kleinen, die zehnjährige Melissa und der siebenjährige Benedikt, würden gern mal mit einem Franzosen spielen. Melissa seufzt: "Aber ich kenne einfach keinen!" Woher auch.

Dabei war das mal ganz anders. Michael Löhle ist in Scheibenhardt aufgewachsen ­ als er 14, 15 war, kamen die Elsässer oft mit ihren Mopeds herüber, Treffpunkt der Jugend war die Bushaltestelle, die Verständigung überhaupt kein Problem, denn alle sprachen "scheiwert". Scheibenhardt-scheibenhardsche Liebespaare gab es zuhauf ­ heute weiß man von keinem mehr. Die Gemeinden hatten 25 Jahre lang einen gemeinsamen Pfarrer, der immer zwei Geldbeutel mit sich herumtrug, einen rechts, mit D-Mark, einen links, mit Francs ­ Justin Heinrich pendelte über die Brücke, zuverlässig wie eine Straßenbahn, er organisierte Treffen für Kinder, Jugendliche und Alte. "Europa ist hier ohne große Worte schon seit Jahren Wirklichkeit", hat er 1991 in einem Interview gesagt, kurz vor seinem Tod. Inzwischen wird Scheibenhardt von einem deutschen Pfarrer betreut, der für fünf Pfarreien zuständig ist, Scheibenhards Pfarrer ist Franzose, er muss sich um sieben Kirchen kümmern. Auch die Älteren finden nicht mehr zusammen.

So viele Erinnerungen: an die Gemeinsamkeiten nach dem Krieg

Michael Löhle und seine Familie leben Wand an Wand mit seinen Eltern, Hugo und Christa, beide 67, beide lassen keinen Gottesdienst ausfallen, dienstags und sonntags. Christa, freundliches Lächeln, blaue Strickweste, und Hugo, vor der Pensionierung Förster, reden schnell. Hüwwe, drüwwe, drüwwe, hüwwe. Er wedelt mit der Fliegenpatsche herum. Sobald er sich auf einen der Störenfriede konzentriert, hat seine Frau ihn schon wieder unterbrochen. So viele Grenzgeschichten fallen den beiden ein ­ wenn man ihnen eine Weile zuhört, entsteht der Eindruck: Die Grenze hat das Dorf eigentlich eher zusammengeheftet als getrennt.

Zwischen 1939 und 1940 wurden die Familien auf beiden Seiten der Lauter evakuiert. Als sie zurückkamen, waren viele Häuser zerstört, die Kirche im französischen Scheibenhard war abgebrannt. Manche Menschen hatten im Krieg Angehörige verloren ­ natürlich gab es Vorbehalte den Deutschen gegenüber. Aus Christa und Hugo Löhles Sicht war es aber vor allem so: Man betrachtete sich gemeinsam als Opfer des Krieges ­ für die Franzosen waren die Scheibenhardter Scheibenhardter, keine echten Deutschen. Schließlich hatte man hüben wie drüben Verwandte. Und landwirtschaftliche Flächen. Seit Kriegsende brauchen sogar Kühe, die zum Acker herübergeführt wurden, einen Pass. Selbst in der Wurstsuppe wurde Schmuggelgut vermutet. Christa Löhle erinnert sich, dass sie als Mädchen nach dem Schlachten mit der heißen Suppe zur Tante über die Brücke sollte ­ der Zöllner hielt sie an und rührte mit dem Stock im Topf herum, während das Kind vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre.

Dann die echten, spannenden Schmuggelaktionen: Die französischen Verwandten und Freunde liebten es, in Deutschland Kleidung und Schuhe einzukaufen. Meist wurden die Sachen bei den deutschen Angehörigen grenznah abgeladen, dann in vielen Schichten übereinander angezogen ­ wie Astronauten bewegten sich die Klamottenschmuggler über die Brücke, im Rücken immer eine Bande Kinder, die die Daumen drückten. Wenn es sich um größere Dinge wie ein Schaf oder einen Holzofen handelte, dann stürmten die Kinder als Vorhut zur Brücke und kundschafteten aus, wer gerade Dienst hatte ­ ein netter oder ein böser Zöllner. Sobald die Luft rein war, wurde Entwarnung gepfiffen wie bei Tom Sawyer und Huckleberry Finn ­ die Reise ins Ausland konnte beginnen. Nach drüben zu gehen war ein Abenteuer.

Kolonialismus, nicht Interesse an der anderen Seite vom Fluss ­ diesen Eindruck hinterließen viele Deutsche bei ihren französischen Nachbarn, als die Zöllner sich 1993 verabschiedet hatten. Ein Boom brach los. Viele zogen auf die andere Seite ­ weil es billiger war. Der in Scheibenhardt lebende Steuerberater Thomas Ehl schrieb Ende der neunziger Jahre zusammen mit Detlev Bartels das Taschenbuch "Elsass für Neubürger" ­ schnell waren zwei Auflagen vergriffen. Wer grenznah in Deutschland arbeitet und im Elsass lebt, spart bis zu zwei Dritteln an Steuern. Vor allem, wer viele Kinder hat, kommt billiger davon: Statt des deutschen Ehegatten-Splittings gilt in Frankreich ein Familien-Splitting ­ jedes Kind senkt die Steuerschuld.

Empfindlichkeiten ­ und der Versuch einer Völkerverständigung

Den Pfälzern wurde übel genommen, dass sie auf günstigem Grund Häuser bauten, die Grundstückpreise nach oben trieben und Steuern sparten ­ aber kein Wort Französisch sprachen und ihre Kinder in den deutschen Kindergarten und in die deutsche Schule nach drüben schickten, weil sie das deutsche System für das bessere hielten. "Elsass, deutsches Hinterland" ­ auf alles, was in diese Richtung deutet, reagieren die französischen Nachbarn empfindlich. Inzwischen hat sich der Andrang an Deutschen wieder gelegt. Zwischen 15 und 20 Prozent der Scheibenharder sind deutsche Staatsangehörige ­ darunter einige in gemischten Ehen. Die Grundstückspreise haben sich hüben wie drüben auf ähnlichem Niveau eingependelt, im jüngsten Baugebiet in Scheibenhard, auf dem Franzosen ein Vorkaufsrecht eingeräumt wurde, gibt es sogar noch Baulücken.

Sigrid Neff, 42, und Katia Geideck, 33, sind Freundinnen und manchmal nicht sicher, wie sie sich sehen sollen: als letzte Bastion der deutsch-französischen Freundschaft? Oder als Vorboten einer ganz neuen Völkerverständigung? Sie treffen sich regelmäßig im Eiscafé am Fluss. Sigrid ist im deutschen Scheibenhardt aufgewachsen, Katia im französischen Scheibenhard ­ zum ersten Mal getroffen haben sie sich vor gut zwei Jahren, über eine gemeinsame Bekannte. Beide haben deutsche Ehemänner, Sigrids Kinder Sascha und Janina sind sechzehn und zehn, Katias Kinder Philippe, Marie und Jean sieben, vier und ein Jahr alt. Katia und Sigrid achten darauf, dass ihre Kinder zwei Sprachen sprechen: Deutsch und Französisch. Den Dialekt kriegen sie sowieso mit ­ vor allem von den Großeltern. Die Mütter sprechen miteinander in atemberaubendem Tempo "scheiwert", wovon ein ortsfremder Mensch spätestens dann nichts mehr versteht, wenn beide vergessen, dass ein solcher mit am Tisch sitzt.

Deutsch, französisch ­ die Grenzen verlaufen heute anderswo

Wenn sie zusammen sind, biegen sich die beiden Frauen vor Lachen, denn bei ihnen ist alles ein bisschen anders als bei anderen. Katia, die Französin, fühlt sich mehr als Deutsche. Sie liebt Aldi. Sie bewundert, dass es in Deutschland viel mehr Vereine gibt. Französisches Laissez-faire findet sie eher nachlässig als lässig. Sigrid würde dagegen lieber Französin sein. Ihr gefällt, dass es im Elsass keine rigiden Bauvorschriften gibt wie in der Pfalz, dafür in der Bäckerei zuckersüße mit Mokka-Creme gefüllte Eclairs, luftigeres Baguette und im Supermarkt eine Riesen-Auswahl an Fisch und Käse. Manchmal schämt sie sich für ihr Land. Beim Brückenfest zum Beispiel, das seit 1996 immer am ersten Juniwochenende gefeiert wird: Scheibenhardt und Scheibenhard bauen auf beiden Seiten Marktstände auf ­ die Franzosen bieten Wurst und Pommes, Riesling und Flammkuchen an, die Deutschen Steak und Kraut, Bier und Kuchen. In Zelten spielt Musik. Die Pfälzer, hat Sigrid Neff beobachtet, würden immer so schnell wie möglich zurück in ihre Gemeinde eilen, statt im Elsass auf einer Bierbank zu verweilen und dort zu essen. Die Elsässer seien da viel aufgeschlossener.

Vor Kurzem wollten Katia Geideck und Sigrid Neff etwas für die deutsch-französische Verständigung tun ­ sie arrangierten einen deutsch-französischen Nachmittag für Kindergartenkinder und Grundschüler, einmal in der Woche. Hunderte Flugblätter wurden verteilt, die beiden rechneten mit mindestens 50 Müttern, Vätern, Kindern. Drei Versuche ­ ein Flop. Von der deutschen Seite kam nur eine Mutter ­ Sigrid Neff. Französinnen waren es mit Katia Geideck drei. Es gibt einfach kein Interesse, sich kennenzulernen, stellten die beiden ernüchtert fest.

Vielleicht gibt es aber auch einfach keinen Bedarf mehr ­ in einer mobil und global gewordenen Welt, deren Grenzen nicht mit den Grenzen von Scheibenhardt und Scheibenhard zusammenfallen. Am Nachbartisch im "Felice" trinken an diesem Abend zwei Französinnen ­ eine aus Scheibenhard, eine aus Lauterbourg ­ Cappuccino. Ein junger Mann setzt sich dazu, auf dem Oberarm ein Tattoo, das Ying und Yang symbolisiert. Erst versuchen die drei es mit Französisch, doch er kann nur "oui" und "non". Dann aktivieren die Mädchen ihr Elsässisch. Der Mann versteht kein Wort. Schließlich schalten alle drei auf Englisch um. Sie lachen und flirten und verabreden sich für Samstag in Karlsruhe, Club "Metropolis", frühestens 22 Uhr. Nach dem Krieg war um diese Uhrzeit der Schlagbaum seit einer Stunde unten ­ von hüwwe nach drüwwe kam man höchstens zu Fuß und illegal.