Stabila Messgeräte

Fast jeder hatte ihn schon einmal in der Hand, aber kaum jemand weiß, dass er aus dem Örtchen Annweiler am Trifels stammt: der Zollstock. Ein Besuch bei Stabila, einem der weltweit führenden Hersteller für Gliedermaßstäbe, Wasserwaagen und Laser-Messgeräte.




Würde man die Bedeutung eines Feldzugs an seiner Dauer festmachen, würde Stabila den Staufer Kaiser Heinrich VI. um Längen schlagen. Zwei große Feldzüge haben unterhalb des Trifels ihren Lauf genommen. Der eine steht im Geschichtsbuch: 1194 versammelte der Staufer-Kaiser Heinrich VI. auf dem Schlossäcker ein schlagkräftiges Heer, finanziert aus dem Lösegeld für den englischen König Richard Löwenherz, den er auf der Burg gefangen gehalten hatte. Dann zog er nach Sizilien, eroberte Palermo und den legendären Normannenschatz.

Der andere Feldzug dauert noch heute an: 1889 kauft der Pfälzer Unternehmersohn Gustav Ullrich zwei alte Mühlen im Flusstal am Fuße des Berges und baut eine Fabrik. Ausgerechnet von hier aus will er den Weltmarkt erobern. Er ist sicher, der aufblühenden Industrialisierung das perfekte Produkt liefern zu können: die geniale Erfindung, die sein Onkel Anton bereits 24 Jahre zuvor gemacht hatte ­ den Zollstock.

Jeder kennt ihn, jeder hat ihn, keiner denkt über ihn nach. Der Maßstab zum Ausklappen, zwei Meter lang, oft gelb oder weiß, ist ein fester Begleiter bei Um-zügen, auf dem Bau, in der Werkstatt. Dass er aus einem Städtchen in der Südpfalz stammt, wissen die wenigsten, und auch die Erfolgsgeschichte dahinter ist kaum bekannt. Ullrichs alte Meterfabrik heißt heute "Stabila Messgeräte Gustav Ullrich GmbH" und zählt weltweit zu den führenden Herstellern hochwertiger Gliedermaßstäbe, Wasserwaagen und Laser-Messgeräte. Bei Wasserwaagen und Zollstöcken ist das Unternehmen in Europa die Nummer eins.

Der Ur-Maßstab

Fast schon ehrfürchtig öffnet Wolfgang Schäfer das blaue Etui, dann nimmt der Geschäftsführer der Stabila GmbH behutsam den fragilen Gegenstand heraus: "Unser Urmeter ­ das bewahren wir normalerweise im Banksafe auf", sagt er ernst.

Der ehemalige Degussa-Manager ist der zweite Stabila-Chef, den der Ullrich-Clan von außen geholt hat, das Familienerbe respektiert er jedoch wie ein Sohn. Vorsichtig legt er das Klappergestell auf den Tisch. Der Ur-Zollstock ist aus schwarzem Ebenholz, trägt matte Messingkappen und Nieten an seinen Enden und besteht aus acht Ellen, die gerade einmal die Länge eines Bleistiftes erreichen. Ein zerknittertes Ringbuchpapier im selben Etui, das handschriftlich die Daten des Firmenschatzes auflistet, bescheinigt Anton Ullrichs "Gelenkmaasstab" von 1865 keine große Genauigkeit. Tatsächlich ist die Beschriftung so ungenau, dass der Betrachter nicht einmal bestimmen kann, ob es sich dabei um alte Bremer oder Bayerische Zoll handelt.

Heute sind die Maßstäbe der Ullrich-Erben Präzisionsinstrumente. Sie leiern nicht mehr aus, hängen nicht mehr durch und erfüllen Genauigkeitsklasse III: eine maximale Abweichung von 1,4 Millimetern auf der Gesamtlänge von zwei Metern. Stabila beschäftigt mehr als 500 Mitarbeiter, ist in rund 60 Ländern präsent und erzielt zwei Drittel seines Umsatzes im Export, zum Firmenjubiläum 1989 waren es noch 40 Prozent. Der Umsatz hat sich seitdem verdreifacht und beträgt heute 55 Millionen Euro. Wichtigstes Produkt des Unternehmens sind inzwischen die knallgelben Wasserwaagen, seit 1994 ist die moderne Laser-Technik ein großer Wachstumstreiber.

So rosig sah es längst nicht immer aus, die Hiobsbotschaft kam Mitte der neunziger Jahre. Peter Hirsch, Werkzeugmacher und heute 61 Jahre alt, kann sich noch gut an den Moment erinnern, als er erfuhr, dass die Maßstabsherstellung "nach der Tschechei" ausgelagert werden sollte. 50 Mitarbeiter mussten gehen, weil die Lohnkosten in der arbeitsintensiven Zollstockfertigung zu stark gestiegen waren. Und die Firmenleitung schickte ausgerechnet Hirsch, Leiter der Maschinen-Instandhaltung, als Pionier ins mährische Haluzice. "Damals dachte ich, das sei der Anfang vom Ende", sagt der Mann mit dem Blaumann in weichem pfälzischem Akzent. Eine Befürchtung, die er mit vielen teilte, so auch mit Thomas Wollenweber. Der ehrenamtliche Bürgermeister des Städtchens, der seit 2004 für die SPD das Amt hält, weiß noch, welcher Gedanke die Bürger seinerzeit umtrieb: "Für die Menschen in Annweiler war Stabila eben 'die Meterfabrik', und nun plötzlich stellte sie gar keine Meter mehr her." Die Furcht sei groß gewesen, bald alle verbliebenen Fabriken im Ort zu verlieren. Das wäre fatal gewesen, wo doch gut die Hälfte aller Familien der 7500-Seelen-Gemeinde irgendwie mit den Ullrich-Werken verbunden ist. Auch Wollenwebers Großmutter hat im Krieg ihren Lohn bei Stabila verdient.

Der Turnaround

Der Bürgermeister sagt: "Annweiler ist ohne Stabila nicht denkbar." Der Geschäftsführer meint: "Stabila ist ohne Zollstöcke nicht denkbar." Beide haben recht ­ und inzwischen hat sich folgende Lösung des Dreisatzes als richtig erwiesen: Annweiler ist ohne Zollstöcke denkbar. Sehr gut sogar. Nach der Auslagerung der lohnintensiven Metermaße blühte der Geschäftsbereich Gelenkmaßstäbe wieder auf und macht heute bis zu einem Fünftel des Umsatzes aus. Die Erträge aus Tschechien machten es bald möglich, die 50 abgebauten Arbeitsplätze in Annweiler neu zu schaffen ­ auf einem höheren Niveau.

Wer heute die neuen, luftigen Werkhallen an der Queich besucht, sieht niemanden mehr Nieten in Zollstöcke drücken. Stattdessen wandert er durch einen modernen Maschinenpark, an dem nur vereinzelt Menschen hantieren. Die mannshohe graue TNL-Präzisionsmaschine keucht, zischt und spuckt alle drei Sekunden eine neongelb leuchtende Libelle aus ­ so heißt das Herzstück einer Wasserwaage. Weil die Maschine Acrylglas fräst, riecht es nach verbranntem Kunststoff. Direkt daneben füllt ein Roboter Benzin in die freigefräste Blase.

"Solche Arbeiten würden wir nie auslagern, denn das sind alles sehr kritische Prozesse", erklärt Geschäftsführer Schäfer. Hier gehe es um eine extrem hohe Messgenauigkeit, die auch bei großen Temperaturschwankungen, Luftfeuchtigkeit, elektrostatischer Aufladung oder starker Sonneneinstrahlung gewährleistet sein müsse. Ein paar Schritte weiter misst eine Kamera die Zentrierung jeder einzelnen Luftblase. Nicht perfekte Messgläser landen auf der Palette "Libellen für Schlüsselanhänger".

Die neue Halle wurde vor vier Jahren gebaut, ein Reinraum für hochempfindliche Laser-Technik kam vor anderthalb Jahren hinzu, weitere Maschinen sind bestellt. "Das Entscheidende ist, dass die Gesellschafter das Geld in der Firma belassen", sagt Schäfer. So könne er jedes Jahr zwei bis drei Millionen Euro reinvestieren und das Werk laufend modernisieren. Er spricht auch vom "Herzblut" der Familie, das bis heute durch den Betrieb fließe: Die Wurzeln der Meterfabrik reichen tief hinab in den Pfälzer Boden, ein Verkauf der Firma stand trotz vieler Angebote nie zur Debatte.

Das Erfolgsrezept

Schäfer trägt eine Brille, deren Bügel seltsamerweise dem familiären Urmeter ähneln. Als Manager ist er viel herumgekommen in Deutschland. Aber erst seit er vor sieben Jahren in Annweiler anfing, kann er es sich leisten, nicht dauernd auf den nächsten Quartalsbericht zu schielen. Er plant jetzt langfristig, denn konservativ und kreativ zu sein, bedeutet keinen Gegensatz in dem Pfälzer Familienunternehmen.

Die "Meterfabrik" ist über die Jahrzehnte provinziell geblieben und hat sich global aufgestellt, sie ist bodenständig und Avantgarde zugleich. In der Eingangshalle des Sechziger-Jahre-Kastenbaus beschwört ein freskenartiges Wandgemälde die Tradition herauf. Der Pfälzer Maler Adolf Kessler, Schüler des Impressionisten Max Slevogt, stellt den Patron Gustav Ullrich samt Schwiegersohn und Nachfolger Eugen Berthold in die Mitte des Bildes. Drum herum errichten halb nackte Helden der Arbeit eine Fabrik, als stünden sie Modell für ein Gemälde aus dem Sozialistischen Realismus. Im Hintergrund schreibt die Empfangsdame mit einem auf drei Zentimeter heruntergespitzten Bleistift ein paar neue Namen ins Gästebuch ­ unaufdringliches Symbol von Ur-Pfälzer Sparsamkeit.

Anders im Herzstück des Unternehmens: In der Stabila-Forschungs- und Entwicklungsabteilung ist man seit jeher alles anderes als knickerig gewesen. Schäfer hat das Personal in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt. Eine weitere Aufstockung um ein Drittel ist im Gange, verläuft aber wegen des aktuellen Ingenieurmangels eher schleppend. Das Unternehmen bildet deshalb selbst Entwickler aus, denn Stabila-Produkte sind teuer, und sie müssen ihren Preis mit immer neuen Verbesserungen rechtfertigen.

Der Innovationsdrang

Der Wettlauf mit der direkten Konkurrenz und den Billigkopierern aus Fernost spielt sich in der Abteilung von Gabriel Kallabis ab. Der Forscher mit Bart, Brille und Wohlfühlschuhen spricht bedächtig, wenn er die oft winzigen Innovationen beschreibt, an denen er und seine Kollegen lange tüfteln. "Wir suchen Neues für jahrhundertealte Produkte." Das können Gumminoppen an den Enden einer Wasserwaage sein, damit sie nicht verrutscht, oder auch ein Schlagschutz, damit der Maurer direkt aufs Gerät hämmern kann.

Die Produktmanager sitzen gleich nebenan. Weil sie nahe am Kunden sind, können sie den Erfindern verraten, wovon Handwerker träumen. Manchmal kommen komplett neue Geräte wie der Rotations-Laser dabei heraus, "aber selbst die kleinsten Verbesserungen können wichtig sein", betont Kallabis. Damit die großen und kleinen Ideen auch künftig sprudeln, wenden sie bei Stabila seit Neuestem Brainstorming-Techniken wie die "visuelle Synektik" an, eine Methode, die mittels bildhafter Vorstellungen die Kreativität von Denkprozessen anfeuern soll.

Eine kleine Revolution des Denkens fand auch in der Führungsetage statt, als Wolfgang Schäfer 2000 die Geschäfte übernahm. "Bis dahin hat Stabila fast keine Werbung gemacht", sagt Marketing-Leiter Jürgen Henschel. Schäfer, der Neue von draußen, sorgte für frischen Wind und brachte ausgerechnet mit den alten Zollstöcken neue Fahrt in die Öffentlichkeitsarbeit. Als Werbeträger funktionieren die Maßstäbe ganz ähnlich wie Kugelschreiber oder Feuerzeuge, bieten aber deutlich mehr Raum für Kreativität. "Jeder Schreiner oder Polier sagt doch heute: Zollstöcke lässt man sich schenken", weiß Henschel. Folglich werden die Maßstäbe aus Tschechien inzwischen in Annweiler veredelt, ein ganz neues Geschäftsfeld, weil längst nicht mehr nur das Stabila-Logo draufsteht.

Das Unternehmen spricht heute rund zwei Millionen potenzielle Kunden über Werbung und Fachpresse gezielt und direkt an, sponsert Seminare für Fachhändler und positioniert seine "Marke Gelb" als eine Art Lifestyle-Produkt für Handwerker. Um sich das Image als Qualitätsführer im Hochpreissegment nicht kaputt machen zu lassen, hat die Geschäftsleitung in diesem Jahr sogar deutliche Umsatzverluste riskiert. Wenn die Baumarktkette Praktiker mit "20 Prozent auf alles, außer Tiernahrung" wirbt, könnte sie "und Stabila" hinzufügen. Zum Wohle der eigenen Marke beliefere man die Kette nicht mehr, sagt Henschel nicht ohne Stolz. Und schiebt eine Kosequenz gleich hinterher: "Die anderen Händler haben uns diese Absage an die ewige Abwärtsspirale der Preise gedankt."

Die Gründerfamilie

So ein Aufstand gegen die Geiz-ist-geil-Mentalität erfordert Rückgrat. Schäfer und seine Leute können sich Haltung erlauben, weil ihnen die Gesellschafter den Rücken stärken. Solange Familienmitglieder wie Franz Berthold im Beirat über den Betrieb wachen, dürfen Management und Mitarbeiter sicher sein, dass Stabila auf Kurs bleibt. Der Enkel des Firmengründers, der bis heute in einer Villa auf dem Firmengelände wohnt, hat das Unternehmen zwar nie geführt, aber seit 85 Jahren die Firmenphilosophie geprägt. Auf die Frage nach dem Erfolgsrezept von Stabila, muss der alte Herr deshalb nicht lange überlegen: "Ganz einfach", sagt er. "Wir wissen, wer wir sind, wo wir herkommen ­ und wir haben uns nie verzettelt."