Keiner da?

Die ländlichen Gegenden Sachsens haben keine Zukunft. Heißt es in allen Studien. Weil die Bevölkerung schrumpft. Weil sie überaltert ist. Und nicht wettbewerbsfähig. Dabei ist hier nur zu beobachten, was auch für den Rest der Republik bald Alltag sein wird.




So schön kann demografischer Wandel sein: Als die Meißener Seniorentheatergruppe Sentha im Januar das Märchen "Der Teufel mit den drei goldenen Haaren" aufführte, waren die Plätze im Stadttheater restlos ausverkauft. Auf der Bühne standen Schauspieler zwischen 60 und 80 Jahren, im Publikum klatschten ihre Kinder, Enkel und deren Freunde. Die nächsten Vorstellungen im November sind quasi ausverkauft. "Kitas, Schulen und Familien ­ die rennen uns alle die Bude ein", sagt Utz Pannike zufrieden.

Der Dresdner arbeitet seit 2002 mit den Senioren, inszeniert Kabarettistisches, Märchen und Klassiker. Sein ganz persönliches Demografie-Projekt. "So bekommen ältere Menschen nach dem Ende ihres Berufsalltags noch mal eine neue Lebensperspektive." Und sorgen gleichzeitig für einen wirtschaftlichen Aufschwung: Bevor die Alten spielten, war das Theater nicht selten leer. Jetzt kommen zahlende Familienangehörige, Freunde und ehemalige Arbeitskollegen der Laienschauspieler.

Was bestimmt die Zukunft eines Ortes? In offiziellen Studien zählen die Lage der Wirtschaft, die Bildung, der Wohlstand und vor allem die Demografie, also der Zustand und die Entwicklung der Bevölkerung. Demzufolge haben weite Landstriche Sachsens keine Perspektive. Schon heute ist die Arbeitslosigkeit vor Ort mit knapp 13 Prozent immens. Zudem ist die Region hoffnungslos überaltert. Nach der Wende blieben die Babys aus, viele Junge wanderten auf der Suche nach Jobs gen Westen. Die Sachsen sind im Schnitt gut 45 Jahre alt, Tendenz steigend. 2020 wird etwa jeder dritte Sachse 65 Jahre oder älter sein. Schon heute fehlen potenzielle Eltern. Die Bevölkerung schrumpft.

Natürlich sind die Folgen spürbar, seit Jahren schon. Und natürlich arbeitet die Politik dagegen an. Da werden Ideenwettbewerbe ausgeschrieben, Modellregionen definiert, Wohn- und Alten-beschäftigungsprojekte auf den Weg gebracht und Werbekampagnen erson- nen ­ wahlweise für die Generation 50plus oder fürs Kinderkriegen.

Auch baulich verändert sich viel. Allein in Hoyerswerda im Landkreis Bautzen, eine der am stärksten schrumpfenden Städte Deutschlands, sind in den vergangenen Jahren mehr als sechseinhalbtausend Wohnungen abgerissen worden, zurückgebaut, wie es im Fachjargon heißt. Vor 20 Jahren lebten hier noch mehr als 70000 Menschen, zurzeit zählt die Statistik noch rund 39000. Im Jahr 2020 sollen noch 25000 bis 30000 Bürger übrig sein.

Wo die Bevölkerung schrumpft, verändern Dörfer, Städte und Landstriche ihr Gesicht. Weniger Menschen bedeuten weniger Steuereinnahmen für die Kommunen ­ und steigende Kosten für die Infrastruktur. Weil die Ausgabenlast für den Bürger wächst, fehlen die Mittel fürs Private. Das heißt: Geschäfte verschwinden, Cafés bleiben leer, Vereine finden keine Mitglieder mehr, Freibäder und Sporthallen schließen, Krankenhäuser fusionieren, Buslinien werden stillgelegt. Vor allem in den ländlichen Regionen wird die medizinische Versorgung dünn. Und weil der Nachwuchs fehlt, schließen die Schulen: In Sachsen wurden seit Mitte der neunziger Jahre fast 800 Einrichtungen dichtgemacht, weil sich die Zahl der Schüler annähernd halbiert hat. Inzwischen werden Facharbeiter, Lehrlinge und Studenten knapp. Experten prognostizieren, dass sich die Zahl der Studienanfänger an sächsischen Hochschulen bis 2015 im Vergleich zu 2003 im schlimmsten Fall um die Hälfte reduzieren wird.

Das ist bedrohlich. Hoffnungslos ist es nicht. Wenn man für die Jungen erst Angebote schafft, die Familie, Arbeit und Zukunft ermöglichen ­ und wie Theatermann Pannike den Blick neu schärft und die Alten endlich überall dort ernst und wahrnimmt, wo der Jugendwahn bislang die Sicht versperrt.

Warum soll eine Gesellschaft, in der Reife und Lebenserfahrung dominieren, weniger lebenswert sein als eine, die den 30-Jährigen zum Ideal verklärt? Weshalb sollen Quartiere, in denen viele Alte und wenige Familien zusammenleben, nicht lebendig und idyllisch sein? Wer sagt, dass die Erfahrung und Kreativität älterer Arbeitnehmer nicht so wertvoll ist wie die Neugier und das Wissen der Jugend? Wieso soll ein gebürtiger Pole als Facharbeiter weniger taugen als sein deutschstämmiger Kollege? Und gibt es irgendeinen vernünftigen Grund, weshalb ein Geschäft nicht rentabel wirtschaften soll, nur weil seine Kundschaft im Schnitt 50 oder älter ist?

Leuchtturm oder Teelicht?

Die Alterspyramide lässt sich nicht umdrehen, ob es uns gefällt oder nicht. Der demografische Wandel ist nicht zu stoppen. Aber vielleicht lässt er sich ja gestalten? Vielleicht wird dem gängigen Horrorszenario irgendwann endlich das Bild einer älteren, lebenswerten Gesellschaft gegenüberstehen?

Bis es so weit ist, geht es darum, den Übergang zu schaffen. An kleinen Stellschrauben zu drehen. Angebote für Alte und Junge zu machen, die zunächst vermutlich eher Teelicht als Leuchtturm zu nennen sind.

Die Sachsen haben schon vor geraumer Zeit damit begonnen ­ notgedrungen. In zehn Jahren werden ihre Experimente sicher deutlicher Gestalt angenommen haben. Dann, wenn auch die anderen Regionen schrumpfen. 2020 wird die Hälfte aller deutschen Landkreise ein Bevölkerungsminus verzeichnen. Spätestens dann sind vielerorts Antworten auf die drohenden Entwicklungen gefragt. Rückblickend könnten die heutigen kleinen Schritte in und um Dresden dann mehr sein als erste Gehversuche auf dem Weg in eine ältere Gesellschaft. Dereinst nennt man sie vielleicht wegweisende Etappen von Pionieren.

DIE BUSFAHRERIN

Der Weg führt durch blühende Landschaften. Gelbe Rapsfelder links und rechts der holprigen Landstraße, Getreidefelder, kilometerweit auf sanften Hügeln. Die Lommatzscher Pflege, die Kornkammer Sachsens, ist fast menschenleeres Gebiet. Nur alle paar Kilometer kommt ein Ort ­ ein großes Wort für die Ansammlung von oft nur fünf, sechs Häusern. Rund 240 dieser Sprengsel gibt es in der Region. Früher halfen die guten Böden ­ reichhaltiger Ton und Kaolinvorkommen ­ dem nahen Meißen beim Aufstieg zum Porzellan-Mekka. Auf den Feldern wuchs das Korn üppiger als anderswo und machte die Bauern reich. "Davon ist nicht viel geblieben", sagt Hannelore Faerber. Die 55-Jährige ist eine von sechs Ehrenamtlichen, die seit September 2008 regelmäßig den Bürgerbus durch die Region fahren. Der Linienbus verkehrt nur noch auf den Hauptstrecken.

Nicht wenige Dörfer sind inzwischen komplett vom öffentlichen Nahverkehr abgeschnitten. Das war zu DDR-Zeiten kaum anders. Aber damals wohnten die Alten und die Jungen noch zusammen. Heute sind die Felder privatisiert, und der Nachwuchs ist weg. Der einzige Luxus, der den Alten vielerorts blieb, ist ein Briefkasten ­ und die mobile Versorgung mit dem Lebensnotwendigen: Einmal pro Woche fahren ein Bäcker, ein Lebensmittelhändler und ein Metzger vor.

"Ohne uns kommen manche älteren Bewohner hier gar nicht mehr weg", sagt Faerber und biegt links ab. Ein Ortsschild. Zwei Vierseithöfe, einer ist teilweise verfallen. Davor steht eine alte Frau und wartet. Die erste Kundin seit anderthalb Stunden. Mühsam steigt sie in den Achtsitzer. Die Begrüßung ist herzlich, die 83-Jährige fährt mit dem Bürgerbus regelmäßig nach Lommatzsch. Dort geht sie zum Friedhof, hebt Geld bei der Bank ab oder besorgt in der Apotheke Medikamente. Der Bus fährt zweimal pro Woche in die Kleinstadt, Dienstag ist Behördentag, Donnerstag Markttag. An einem weiteren Tag steuert er ein Einkaufszentrum im Nachbarort an. Beide Gemeinden subventionieren das Projekt, die Verkehrsgesellschaft Meißen wartet den Minibus, die ehrenamtlichen Fahrer halten die Kosten niedrig. Der Fahrschein kostet dasselbe wie früher im Linienbus.

Hannelore Faerber dreht den ganzen Vormittag mehrere Runden. Wer morgens mit ihr in die Stadt fährt, kommt ein paar Stunden später auch wieder mit ihr nach Hause. An guten Tagen hat sie bis zu acht Passagiere. An schlechten, vor allem wenn es regnet, steigt kein einziger zu. "Das ist dann ganz schön frustrierend." Ans Aufhören denkt sie trotzdem nicht.

Sie wohnt schließlich selbst in einem der abgeschiedenen Dörfer. Krepta hat 13 Gebäude und 25 Einwohner. Hier hat Faerber ihre fünf Kinder großgezogen, die älteren sind lange fort zum Studium. Sie macht die Buchhaltung im Geschäft ihres Mannes, einem selbstständigen Fliesenleger. Seit einigen Monaten verdient sie zusätzlich ein paar Hundert Euro als Bademeisterin in Lommatzsch. Jahrelang hat sie sich für den Erhalt des Freibads eingesetzt. Als sich dann niemand für den Job des Bademeisters fand, machte Hannelore Faerber kurzerhand den Rettungsschwimmer und bewarb sich. "Was zählt, ist, beweglich zu bleiben."

DIE KARRIEREMACHER

Wolfgang Zettwitz, Referent des Oberbürgermeisters, hat zur Erklärung zwei Artikel ausgesucht. "Boomtown Bautzen" titelt der eine und erzählt, dass die Stadt jüngst 5500 neue Jobs geschaffen hat. "Lasst die Wölfe rein", heißt die zweite Überschrift. Im Text geht es darum, dass die Menschen abwandern, zum Beispiel in der Oberlausitz, deshalb erobert sich die Natur jetzt das Land zurück. "So unterschiedlich kann eine Region wahrgenommen werden", sagt Zettwitz und zuckt die Achseln. Aber so differenziert bleibe die Wahrnehmung leider nicht: Am Ende setze sich meist ein negatives Bild fest, selbst in der eigenen Bevölkerung. "Wenn Kinder von ihren Eltern ständig hören, dass sie nur woanders berufliche Chancen haben, dann glauben sie das irgendwann auch."

Zettwitz will das ändern, unermüdlich hält er gegen die Vorurteile an. Mit guten Argumenten, schließlich hat sich hier eine Menge bewegt. Ja, es gibt im Kreis Bautzen Landstriche, denen es schlecht geht. Ja, die Region schrumpft, die Arbeitslosigkeit steigt. Der wichtigste Punkt aber ist: Fast 70 Prozent der Menschen, die in Bautzen arbeiten, sind Pendler, sie kommen von anderswo her. Die Stadt selbst bringt es auf 575 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte je 1000 Einwohner, das ist der höchste Wert in ganz Sachsen. Es gibt Arbeit. Das muss nur in die Köpfe der jungen Leute: "Wer gut qualifiziert ist, hat eine große Zukunft hier."

So nachdrücklich erzählt er es auch an diesem Nachmittag dem knappen Dutzend Zuhörern im Auditorium. Sie sind Teilnehmer des Programms "Karriere hier" und stehen kurz vor dem Abitur. Professor Barbara Wuttke von der Berufsakademie Sachsen hat das Projekt vor zwei Jahren mit dem Verein "Chancen für Sachsen" und einer Dienstleistungsagentur auf den Weg gebracht. Die heimische Wirtschaft trägt zur Finanzierung des Aufklärungs- und Trainingsprogramms bei, um den dringend benötigten Nachwuchs in der Region zu halten.

18 Jugendliche nehmen dieses Jahr teil, nachmittags nach der Schule. In den vergangenen Monaten haben sie unterschiedliche Berufe kennengelernt, Business- Pläne geschrieben, sich in einem Planspiel als Manager einer Jeansfabrik geübt. In Kleingruppen haben sie außerdem Unternehmen vor der Haustür besucht. Sie waren beim Straßenbahnwagen-Produzenten Bombardier, beim Stifte-Hersteller Edding oder bei Ontex, Europas Nummer eins für Hygieneartikel. "Manche Firmen kannte ich davor gar nicht", sagt eine Teilnehmerin, andere seien für sie "jetzt irgendwie interessanter". Toll habe sie gefunden, dass während der Olympischen Spiele in London 2012 Stadtbahnen aus Bautzen eingesetzt werden. "Da ist man schon ein bisschen stolz." Ob das Programm sie inspiriert hat, in der Region zu bleiben? Da sind sich alle Teilnehmer einig: Studieren werden sie auf jeden Fall woanders, aber anschließend kommen sie wieder. Vielleicht.

Stefan Lehmann zählt zu den wenigen, die es nach dem Studium zurück in die Heimat gezogen hat. Er hat Kulturarbeit in Potsdam studiert, und während sich viele seiner ehemaligen Kommilitonen mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten, hat er seit 2006 in Bautzen einen unbefristeten Vertrag. Lehmann arbeitet im Bautzener Steinhaus, einem soziokulturellen Zentrum, das Kultur als Sozialarbeit versteht. Vor der Tür rasen Skateboarder über Rampen, im sanierungsbedürftigen Gebäude üben Breakdancer, das vegetarische Restaurant verkauft Cola für einen und Bier für zwei Euro. Seit drei Jahren versucht das Steinhaus auch, die jungen Besucher mit dem demografischen Wandel zu konfrontieren. "Nicht pessimistisch", betont Lehmann, "sondern konstruktiv" ­ und so erfolgreich, dass es im Februar dieses Jahres sogar Bundespräsident Horst Köhler für einen Informationsbesuch ins Jugendzentrum nach Bautzen zog.

In Wettbewerben kitzelten sie kreative Ideen der Teenager für eine bessere Zukunft der Region hervor. Die einen träumten von der Organisation einer Erlebnistouristik durch sorbische Dörfer, andere planten einen Einkaufsservice für alte Menschen. Zwei Mädchen dokumentierten den Tagebau in der Region und ziehen seitdem mit ihren Fotos von Ausstellung zu Ausstellung. "Durch solche Ideen wächst die Identifikation mit der Umwelt", hat Stefan Lehmann beobachtet. Die Perspektivlosigkeit verblasse, der Drang, sich einzubringen, wachse. "Und genau das brauchen wir jetzt." Nicht nur in Sachsen.

DIE GEMEINDESCHWESTER

Gut 125 Kilometer von Bautzen entfernt, im Städtchen Geringswalde, macht sich Kerstin Arndt in ihrem silberfarbenen Skoda auf den Weg in die umliegenden Dörfer. Zu den Alten, die nicht mehr in die Praxis kommen können.

Arndt ist Gemeindeschwester in ärztlicher Mission. Die 52-Jährige übernimmt rund die Hälfte aller Hausbesuche, die der niedergelassene Arzt Uwe Stolz aus Zeitgründen längst nicht mehr bewältigt. In der halben Stunde, die ein Besuch in der ländlichen Region im Schnitt dauert, kann er in der Praxis drei bis vier Patienten behandeln. Die Gemeinschaftspraxis, die Stolz mit seiner Frau betreibt, ist Anlaufstelle für rund 1700 Kranke aus den Dörfern im Umkreis von 20 Kilometern. 70 Prozent der Patienten sind im Rentenalter, zehn Prozent sogar älter als 80 Jahre. Etwa 150 von ihnen schaffen es nicht mehr in die Praxis. Tendenz steigend.

Mindestens einmal im Quartal und bei Notfällen fahren die Ärzte zu ihnen nach Hause. Die Besuche zwischendurch übernimmt die bei Stolz angestellte Arndt als Vollzeitkraft für ein Bruttogehalt von 1500 Euro. Sie nimmt Blut ab, gibt Schmerzspritzen, misst Blutdruck und Blutzucker, wechselt Verbände und kontrolliert Wunden. Sie übernimmt alle Routineaufgaben.

Aber natürlich leistet Kerstin Arndt in Wahrheit viel mehr. Sie ist Gesprächspartnerin, Trösterin, emotionale Stütze ­ und nicht selten das einzige vertraute Gesicht, das so mancher alte Patient regelmäßig sieht. Arndt plant für jeden Besuch rund eine halbe Stunde ein. Mehr, als der Hausarzt sich je leisten könnte. In dieser Zeit erledigt die Gemeindeschwester auch Aufgaben, um die sich ihr Chef nicht kümmert. Die gelernte Arzthelferin beseitigt Stolperfallen, klebt lose Teppichenden fest, räumt Telefonschnüre aus dem Weg und achtet darauf, ob die Beleuchtung in der Wohnung oder im Treppenhaus ausreicht. Sie sortiert chaotische Hausapotheken, mistet Abgelaufenes aus, erstellt eine Liste der brauchbaren Medikamente und lässt den Gemeindeapotheker prüfen, ob es bei den Arzneien zu Wechselwirkungen kommen kann. Nach rund 20 Prozent ihrer Besuche alarmiert sie Uwe Stolz, dann ist ärztlicher Beistand gefragt.

Die Arbeitsteilung ist sinnvoll, das ergab auch ein Forschungsprojekt der Universität Greifswald, an dem Kerstin Arndt vergangenes Jahr als eine von fünf sächsischen Gemeindeschwestern teilnahm. Getestet wurde, ob und wie sie Hausärzte entlasten und die Versorgung der Patienten verbessern. Die Ergebnisse waren ­ wie bei ähnlichen Projekten in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg ­ eindeutig: Die Werte und das Befinden der Patienten entwickelten sich positiv. Die Ärzte waren mit der Arbeit der Gemeindeschwestern zufrieden.

Honoriert wird sie trotzdem nicht. Anders als für den ärztlichen Hausbesuch, der von den Krankenkassen mit 15,40 Euro plus Kilometergeld vergütet wird, kann die Praxis für jeden Termin, den ihre Schwester übernimmt, nur etwas mehr als fünf Euro abrechnen. Zwar ist die Leistung kürzlich in die Regelversorgung aufgenommen worden, der Katalog gilt allerdings nur in wenigen als unterversorgt definierten Regionen. Und dazu zählt Geringswalde nicht. "Ein Unding", sagt Uwe Stolz.

Auch für die Kritik vieler westlicher Kollegen, die ärztliche Verantwortung für nicht teilbar halten, hat der Mediziner wenig Verständnis: "Die Schwester übernimmt Aufgaben, für die ich überqualifiziert bin." Bei allem anderen behalte er den Hut auf. Grundsätzlich solle niemand unterschätzen, wie wichtig es für die Patienten sei, dass da jemand Zeit für sie habe.

Aus demselben Grund hält Kerstin Arndt auch wenig vom Einsatz moderner Technik, für den die Greifswalder Wissenschaftler warben: Sie könnte den Arzt schon heute per Videokonferenz ins Krankenzimmer holen oder Blutdruckwerte und Gewicht der Patienten täglich automatisch auf den Computer des behandelnden Arztes übertragen. Telemedizin kann zwar unterstützen, findet auch die erste Patientin dieses Morgens. Ein Ersatz für Gemeindeschwester Kerstin ist sie aber nicht. "Das ist das Schönste", sagt die 93-jährige Dame beim Abschied. "Dass alle paar Wochen jemand nach mir schaut und fragt, ob es mir heute auch gut geht."

DIE VORAUSSCHAUENDE

Einmal die Woche ist Club-Tag. Dann treffen sich in Dohna-Heidenau zehn Frauen, um über ein vorher festgelegtes Thema zu diskutieren, Ausflüge zu machen oder gemeinsam zu kochen. Es ist ein buntes Trüppchen, das sich da zusammengefunden hat: Die Jüngste ist 77, die Älteste 98 Jahre alt, einige sitzen im Rollstuhl. Sie sind alt und gebrechlich, aber sie sind neugierig aufs Leben. Deshalb hat Isolde Leuschke die Bewohnerinnen des Johanniter-Stifts im "Mittwochsclub" zusammengebracht.

Leuschke ist eine von 13 sogenannten Grünen Damen in Dohna-Heidenau. In ganz Deutschland arbeiten Ehrenamtliche unter diesem Titel in Altenheimen oder Kliniken, besuchen Bewohner und Kranke, lesen ihnen vor oder kaufen für sie ein. Auch Leuschke hat vor gut drei Jahren so angefangen. Die 69-jährige alleinstehende pensionierte Ingenieurökonomin suchte eine neue Aufgabe ­ und Mitstreiter, um den Ableger des Ehrenamtsprojektes in ihrer Heimat zu gründen. Zu siebt fingen sie an, inzwischen hat sich ihre Zahl verdoppelt, und seit Herbst 2007 organisiert Isolde Leuschke unter anderem diesen Club, der die alten Damen aus ihrer Isolation holen, unterhalten und miteinander ins Gespräch bringen soll.

Auf dem Programm stehen Kunst, Kultur, Politik, Literatur und Musik, außerdem alles, was das Leben zu bieten hat und den Clubmitgliedern Spaß macht. Die Frauen lesen Bücher, hören Opern und diskutieren über Autoren und Komponisten. Beim gemeinsamen Kochen trainieren sie ihre Sinne. Sie besuchen den Sächsischen Landtag, spazieren durch den Schlosspark Pillnitz oder pflücken auf einer Wiese Wildkräuter und machen sich anschließend über deren heilende Wirkungen schlau. Sie fahren zu Orten, die für jeden eine Bedeutung haben ­ und wecken persönliche Erinnerungen. Wenn sie Goethe oder Schiller lesen, erzählt Leuschke, sprechen die Frauen gemeinsam ganze Textpassagen auswendig mit. Geschichtliche Themen verknüpfen sie mit längst vergangenen Stationen ihres Lebens. Dann werden sie quasselig, wie die Grüne Dame es nennt.

Für Isolde Leuschke ist der Club inzwischen mindestens so wichtig wie für die alten Damen. Sie genießt die Vorbereitungszeit am heimischen Computer, recherchiert fremde Themen, denkt sich für jede Woche eine neue Überraschung aus. Und sie pflegt neben den Alten, die sie betreut, auch den Austausch mit den ehrenamtlichen Kollegen. Zu Uta Falkenau, der Kräuterexpertin, mit der sie so manchen Mittwochabend organisiert, ist der Kontakt besonders eng geworden. Falkenau ist noch jung, Mitte 40. Vielleicht wird sie den Club mal mit einer anderen Kollegin übernehmen, wenn Isolde Leuschke nicht mehr so kann. Die 69-Jährige würde am liebsten in ihrer Ein-Raum-Wohnung alt werden. Ihre Angst vor einem Heim aber hat sie verloren. "Das wäre mir eine vertraute Umgebung."

DIE FAMILIENFREUNDLICHEN

An der Technischen Universität Dresden (TU) liegen zwischen Wickelkommode und Hörsaal mitunter nur wenige Meter. "Manchmal muss man sich zu helfen wissen", sagt Clemens Kirschbaum, Professor der Biologischen Psychologie. Zwei Stockwerke unter seinem Büro betreut eine Tagesmutter täglich zwischen 8 und 14.30 Uhr die vier Kinder seiner Mitarbeiterinnen. Ein Projekt, das aus der Not entstand: Als zwei Doktorandinnen und eine Post-Doktorandin während der Elternzeit keinen Kita-Platz fanden, engagierte Kirschbaum die Kinderfrau ­ und bezahlt sie seitdem aus Drittmitteln. Die Uni stellte einen Raum zur Verfügung, Lehrstuhlmitarbeiter sorgten für Einrichtung und Spielzeug. So entstand im Mai 2008 innerhalb weniger Wochen die lehrstuhleigene Kinderbetreuung.

Auch auf anderen TU-Etagen sind Kinder gern gesehen. Seit Professor Hermann Kokenge, der Rektor, das Projekt "familienfreundliche Uni" 2005 zur Chefsache gemacht hat, zählt die Dresdner Hochschule zu den kinderfreundlichsten Deutschlands. Für den Nachwuchs der gut 4000 Beschäftigten und von mehr als 35000 Studenten wurden Tagesmütter organisiert, flexible Arbeitszeiten eingerichtet, Eltern-Kind-Arbeitsplätze in der Bibliothek geschaffen, Wickelkommoden in Hörsaalnähe und Laufställe neben Kopierern platziert. Die Mensa bietet Kinder-Essen für 50 Cent und hält Fläschchenwärmer und Babystühle parat.

Außerdem gibt es das von TU und Studentenwerk betriebene Campus-Büro "Uni mit Kind". "Wir wollen Eltern Mut machen", sagt Büroleiterin Manuela Lang, während im Nebenzimmer Kinder mit ihren Müttern spielen und gegenüber eine Kollegin eine schwangere Studentin berät. Welche Leistungen kann ich im Urlaubssemester erbringen? Wie finanziere ich das Erziehungssemester? Reguläre Ämter seien mit solchen Fragen meist überfordert, sagt Lang. Das Campus-Büro berät auch in Sonderfällen ­ und bringt vor allem Studenten in ähnlicher Lebenssituation zusammen. Hier können sich die rund 2500 an der Uni eingeschriebenen Väter und Mütter zu Kursen treffen, vom Schwangeren-Yoga über Stillgruppen bis hin zu Elternseminaren. So bildeten sich private soziale Netzwerke, sagt Lang, "das ist für die spätere Organisation des Studiums extrem wichtig".

Vor allem mit Blick auf die Betreuung geht die TU neue Wege. Das Team um Manuela Lang hilft bei der Vermittlung von Paten-Omas, organisiert Tagesmütter, die den Nachwuchs von Gästen und Mitarbeitern als "Flying Nannys" bei Kongressen umsorgen. Und das Studentenwerk bietet seit April 2008 neben der regulären Kita auch eine Kurzzeit-Betreuung an. Bis zu vier Stunden am Tag und zehn Stunden die Woche dürfen Kinder im "Campus-Nest" bleiben, regelmäßig oder spontan, und das für einen Bruchteil des Geldes, das ein Babysitter kostet.

Auch die Lehrstühle an der TU sind inzwischen aktiv. Die Informatik-Fakultät richtete unlängst für einige Mitarbeiter Telearbeitsplätze ein. Die Elektrotechniker ermutigen Väter an ihrem Lehrstuhl, in Elternzeit zu gehen. Kollegen übernehmen Vorlesungen, schicken Protokolle aus Besprechungen und laden zu Tagungen ein, damit die Väter im Thema bleiben und sich nicht ausgeschlossen fühlen. "Das klingt vielleicht banal", sagt Dörte Görl-Rottstädt aus dem Gleichstellungsreferat der TU, "hat aber enorme Wirkung." Im Kern gehe es darum, den Uni-Alltag zu überdenken. Gremiensitzungen, die früher oft abends stattfanden, werden heute auf familienfreundliche Zeiten gelegt. Dank gleitender Arbeitszeiten können Kollegen flexibel arbeiten, etwa mit stundenlangen (Betreuungs-)Pausen während des Tages. "Die Stimmung ist inzwischen pro Kind", sagt Görl-Rottstädt.

Das hat nicht nur die Zufriedenheit vor Ort erhöht: Ihr Engagement hat den Dresdnern kürzlich auch beim Uni-T-Shirt-Ranking des Zeit Campus Magazins eine Auszeichnung der besonderen Art eingebracht. Während andere Hochschulen sich mit mehr oder weniger originellen Shirts für Große bewarben, punkteten die Vertreter der TU mit Kinder-Hemdchen, frech bedruckt mit "junior professorin" oder "Ich bin ein Nanoteilchen". Die Juroren überschlugen sich vor Lob für diese "Lebenswirklichkeit" und das "Bekenntnis zu unserer modernen Gesellschaft". Der erklärte "Liebling der Redaktion und der Jury" bekam trotzdem nur einen Sonderpreis. "Wegen mangelnder Vergleichbarkeit." So weit wie Dresden war keine andere Uni.