Stille Stars

Jede Region hat ihre großen Namen. Und zahllose, vielleicht weniger prominente, aber keineswegs weniger spannende Unternehmen. Zwischen Hessischem Bergland und Norddeutscher Tiefebene gibt es jede Menge Kleinode zu entdecken. Frauen, die erfolgreich Bier brauen, zum Beispiel. Hi-Fi-Produzenten von Weltformat, einen Investmentbanker, der Demenzkranken hilft, eine Professorin, die Vollkornbrot zum Exportschlager macht, oder Forstleute, die einen Makel zum Markenzeichen drehen. Auch Kolbus sitzt vor Ort. Nie gehört? So ist das mit den Vertretern des Mittelstands. Sie machen weniger durch Lautstärke als durch solide Arbeit von sich reden. Jedes dritte Buch auf der Welt ist einst über eine Kolbus-Maschine gelaufen. In Rahden (Foto links) trifft der Besucher auf uraltes Handwerk in einer Hightech-Welt.




Das Mekka der Buchbindekunst liegt versteckt im letzten Nordzipfel Nordrhein-Westfalens zwischen Tannenschonungen und Rapsfeldern. Weit und breit keine Autobahn, keine Wasserstraße. Nur eine alte Bahnstrecke. Und doch pilgern täglich Gesandte großer Bindereien und Verlagshäuser aus Finnland, aus Brasilien oder China nach Rahden. In dem Städtchen im Kreis Minden-Lübbecke sitzt die Kolbus GmbH & Co. KG, Weltmarktführer für Buchbindemaschinen.

Jedes dritte Buch der Erde ist durch eine Anlage aus Rahden gerattert, bei hart gebundenen Büchern sind es sogar 80 Prozent. Mit dem Mitbewerber Müller Martini aus der Schweiz teilt sich Kolbus vier Fünftel des Weltmarktes. 2007 erzielte das Unternehmen zweistellige Wachstumsraten, die 1300 Mitarbeiter erwirtschafteten einen Umsatz von 180 Millionen Euro. Nur den Namen Kolbus kennt kaum jemand.

Zur Begrüßung fragt Geschäftsführer Kai Büntemeyer: "Haben Sie Ihre Uhr schon um 30 Jahre zurückgestellt? Wir sind hier nämlich in einer anderen Dimension." In der riecht es nach Öl und Grafit, spätestens wenn man die Gießhalle betritt. Schwarzer Aschestaub wabert unter Neonstrahlern. Ab und zu ertönt der Lärm eines Vorschlaghammers, in mannshohen Kübeln brodelt flüssiges Eisen. Einen hochmodernen Betrieb stellt man sich anders vor. Aber genau hier entstehen die Zahnräder und Gelenke, die Arme und Bäuche, also wenn man so will, die Herzen für die erfolgreichen Bücher bindenden High-tech-Ungetüme.

Wenn es nach Wirtschaftsjournalisten, Buchhändlern, Analysten und Verlagen ginge, dürfte es Kolbus eigentlich nicht mehr geben. Schon seit Jahrzehnten sahen sie das Buch gegen den Bildschirm verlieren. Das gedruckte Wort behauptet sich in der Welt von Internet und Fernsehen bekanntermaßen noch immer. Selbst im scheinbar übersättigten Deutschland steigt der Bücher-Umsatz ­ wenn auch langsam.

In den Schwellenländern warten sogar noch Millionen von Analphabeten auf Bildung. Bildung durch Bücher. Bücher, die gebunden und geklebt werden müssen ­ egal, ob Hardcover oder Taschenbuch, Hochglanz-Magazin oder Telefonbuch, Lexikon oder Katalog, alles kommt aus Kolbus-Maschinen. Auch der letzte Harry Potter.

Der Bau der hoch spezialisierten Anlagen ist ein personalintensives Geschäft. Computergesteuerte Werkzeugmaschinen haben die Fertigung zwar rationalisiert: Ihre Roboterarme hantieren hinter staubdichten Scheiben millimetergenau mit Hunderten von Geräten. Die Endmontage der bis zu 15 Meter langen Ungetüme erfolgt aber weiterhin von Hand. Rund ein halbes Jahr vergeht, bevor die schweren Geräte auf Lkw das Rahdener Fabrikgelände verlassen und die großen Häfen ansteuern.

Pro Sekunde ein Buch

Eine dieser Buchfertigungsmaschinen, die "BF 527" ist für Kolbus das, was für Volkswagen der Golf darstellt: ein Basis- Erfolgsmodell, das mit den Jahren immer größer und schneller wurde.

Auf den ersten Blick könnte man die u-förmig aufgebaute Buchstraße auch für eine Großküche halten. 15 aneinandergereihte hellgraue, kantige Geräte: von der infrarotgeheizten Einfuhr über die Leimstationen bis zur Einhängestation, die die geleimten Seiten in den Buchdeckel führt. "Wir haben Jahrzehnte gebraucht, um das so hinzubekommen", sagt Kai Büntemeyer. Die erste "Compact-Straße" der Welt, die Kolbus 1972 präsentierte, sei nicht einmal halb so schnell gewesen: "Heute fliegen die Bücher förmlich durch die Maschinen." Er übertreibt nicht: Die BF 527 kann pro Sekunde ein Buch ausspucken. Das sind 3600 Bücher pro Stunde, mehr als 30 Millionen im Jahr.

Büntemeyer klappt den Gitterdeckel der Buchrundemaschine hoch. Das Gerät, das für abgerundete Buchrücken sorgt, sieht aus wie eine riesige Eistruhe: "Das ist einmal der Kern von Kolbus gewesen." Das Ur-Exemplar wurde im Jahr 1900 von August Kolbus zusammengeschraubt, dem Ur-Ur-Enkel von Chris- tian Heinrich Kolbus, der sich 1775 mit einer Dorfschmiede selbstständig gemacht hatte ­ da, wo noch heute die Fertigungshallen stehen.

Wirtschaftliche Not hatte August in die Neue Welt nach Kentucky getrieben. In Newport arbeitete er sich in einer Fabrik für Buchbindemaschinen zum Werkmeis- ter hoch. Sein erstes eigenes Exemplar baute er jedoch zurück in der Heimat zusammen: den vor Zahnrädern und Hebeln strotzenden "Rupert", eine für Deutschland seinerzeit neuartige "Buchrunde- und Abpressmaschine" ­ der Grundstein des Kolbus-Imperiums.

Die Ostwestfalen bewiesen bald, dass Globalisierung keine neumodische Erscheinung ist. Schon 1930 erzielte die damalige "Rahdener Maschinenfabrik" vier Fünftel ihres Umsatzes im Export. Heute verlassen neun von zehn Kolbus-Buchbindemaschinen das Land.

Auch der Erfindergeist von August Kolbus hat sich über die Generationen hinweg erhalten. Mit 130 Mitarbeitern unterhält das Unternehmen eine der größten Abteilungen für Forschung und Entwicklung (F & E) im deutschen Maschinenbau. Kolbus investiert regelmäßig 8,5 Prozent seines Umsatzes in den Bereich. Einer Untersuchung des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung zufolge liegen die Aufwendungen für F & E im deutschen Maschinenbau bei nur 3,5 Prozent. 130 Patente zeugen inzwischen vom Forschungsdrang der Konstrukteure, von denen die meisten die Evolution der technisch weit ausgereiften Maschinenstraßen vorantreiben. Manche arbeiten auch an ganz neuen Modellen. Als ausgereiftes Produkt können sie bis zu drei Millionen Euro kosten.

Seit die Weltkonjunktur angezogen hat, arbeiten die Rahdener in der Fertigung am Limit. Allein im zweiten Halbjahr 2007 haben sie ihren Ausstoß um 41 Prozent erhöht. Ein groß angelegtes Investitionsprogramm soll für Entlas-tung sorgen: In den vergangenen zwei Jahren hat Büntemeyer 20 Millionen Euro in neue Maschinen und eine neue Werkhalle gepumpt. Der Manager will damit langfristig nicht weniger erreichen als "eine Umsatzverdoppelung".

Die billige Konkurrenz aus Fernost fürchten die Ostwestfalen nicht. Sie setzen auf ihr Know-how, das internationale Servicenetz und auf Kundennähe. Kolbus ist ein typischer Hidden Champion: hoch spezialisiert, global aufgestellt, Weltmarktführer ­ und dabei noch immer in Familienhand.

Der Geschäftsführer Kai Büntemeyer ist zwar mit dem Kolbus-Clan nicht verwandt, aber zur Familie gehört er inzwischen doch, irgendwie. 1996 setzten ihn die Eigner zum Geschäftsführer ein, sieben Jahre später erwarb er am Unternehmen einen Anteil von drei Prozent. Durch die Kapitalbindung habe er "ein ganz anderes Gefühl" für die Firma entwickelt, sagt der 46-Jährige.

Die Mehrheit am Konzern hält Ursula Heitmann, geborene Kolbus, 77 Jahre alt und Enkelin von Patriarch August. Der Rest der Anteile verteilt sich auf drei Familien. Die privaten Strukturen sollen erhalten bleiben, Anfragen von Private-Equity-Firmen lässt Ursula Heitmann direkt in den Papierkorb wandern. Noch kümmert sich ihr Sohn aus dem fernen Berlin um die Firma, aber ihre Enkel sind die ersten Kolbus-Sprösslinge, die nicht auf dem Fabrikgelände aufwachsen.

Was das für die Nachfolge bedeutet? Man wird sehen, die Bindung der Nachkommen zum Unternehmen scheint jedenfalls stark. Als Ursula Heitmanns Enkel Luis kürzlich in einem Aufsatz erzählen sollte, was er tun will, wenn er groß ist, schrieb er: "Eigentlich wollte ich Musiklehrer werden und in Berlin bleiben. Aber meine Oma hat eine große Firma, und wenn mein Bruder die nicht übernehmen will, muss ich das wohl tun."