Oh-Weh-L

Wenn man eine Region bereist, deren Name keinem Einheimischen über die Lippen kommt, dann ist man in Ostwestfalen-Lippe. Die Bewohner haben nicht wirklich das Gefühl zusammenzugehören. Gelegentlich treffen sie sich immerhin doch ­ abends im Park. Die ländliche Kultur verbindet.




Martina Gedeck hängt man gern an den Lippen, selbst wenn sie stundenlang redet. Die Schauspielerin ist als Vorleserin sehr gefragt. "Seit einigen Jahren haben die Leute richtig Lust aufs Zuhören", sagt sie, freut sich über den Nebenerwerb und geht mit Lesungen auf Tour. Ob sie vielleicht auch mal in Ostwestfalen-Lippe etwas vortragen möchte?, hieß es vor einigen Jahren. "Ostwestfalen-wie? Was ist denn das für eine Gegend?", hat sie damals gekontert. Gute Frage. Die stellen sich die Einheimischen auch, manche schon seit 60 Jahren.

Seit immerhin sechs Jahrzehnten sind die Bewohner von sechs Kreisen und einer kreisfreien Stadt in der gemeinsamen Verwaltungsstruktur des Regierungsbezirks Detmold verbunden ­ können aber noch immer nichts mit dem Begriff "Ostwestfalen-Lippe" anfangen. Spötter ausgenommen. "Es hat sich in der Bevölkerung keine gemeinsame Identität entwickelt", sagt der langjährige Standortförderer Jürgen Heinrich von der OWL Marketing GmbH. Jeder Kreis macht lieber seins. Minden will "Mühlenkreis" sein, Paderborn "Klosterregion", Höxter "Kulturlandkreis", und die Gütersloher Westfalen sind, wenn auch im Scherz, lieber der "Fettfleck Deutschlands" als "Ostwestfalen-Lipper". Hier ist man stolz auf die hohe Schweine- dichte, da auf Mühlen, dort auf Klöster: Das Kirchturmdenken gehört zum Alltag. "Die Lokalzeitung hat keinen Veranstaltungsteil für ganz OWL", ärgert sich die Gräfin Annabelle von Oeynhausen-Sierstorpff, wenn Bad Driburg am Wochenende mal zu klein wird und ihr die zehn Hektar Dach ihres Anwesens auf den Kopf zu fallen drohen. "OWL", hadert ihr Mann Marcus, das klinge ohnehin nicht nach einem Aushängeschild, sondern "wie ein öffentliches Busunternehmen".

Doch wenn es warm wird, dann geht's auf einmal. Von Kreisgrenzen befreit sind Ostwestfalen und Lippe durch des Sommers belebenden Blick: Die Region nimmt sich für ein paar Wochen zusammen und präsentiert sich im wahrsten Sinn des Wortes als blühende Landschaft ­ als "Garten_Landschaft". Unter dieser Dachmarke des öffentlichen Kulturbetriebs finden dann in drei Veranstaltungsreihen Lesungen, Konzerte und Ausstellungen in allen Kreisen statt.

Seit acht Jahren läuft dieser Versuch gemeinsamen Kulturschaffens. Und die Leute? Die fremdeln nicht mehr mit des Nachbars Garten, sie fahren hin. Nach kurzem Vorverkauf im Frühling sind die Karten weg. "Die Besucher kommen von überall her", sagt Brigitte Labs-Ehlert, Leiterin des Literaturbüros OWL in Detmold. Sie organisiert das Literatur- und Musikfest "Wege durch das Land", das jedes Jahr einige Tausend Zuhörer anzieht. Meist spielt ihr abendfüllendes Programm in Schlössern und Gutshöfen. Die dienen auch den anderen Kulturprogrammen als Kulisse. Die "Rauminszenierungen ­ Kunst in Gärten und Parks" sorgen mit jährlich rund 50000 Besuchern für Parkplatzmangel rund um Parkanlagen, die dank des Sanierungsprojektes "Neue Alte Gärten" ordentlich gejätet worden sind. Klaus Maria Brandauer, Bruno Ganz & Anna Thalbach: Bekannte Künstler kommen gern und gerne wieder aus den Metropolen des Kunstbetriebs hinaus nach Höxter, Rödinghausen-Bieren, Dörentrup-Wendlinghausen. "Also mir war vorher nicht klar, dass hier so viel los ist", sagt Martina Gedeck, 2003 zum ersten Mal als Vorleserin gebucht.

Holz und Kohle

In der Vorweihnachtszeit ist hier gar nichts los. Die Besucher sind weg, die Künstler woanders, die Parks leer gefegt. Vielleicht nicht der passende Zeitpunkt, eine sommerlich-bunte Gartenlandschaft kennenzulernen, wohl aber, um ein Gefühl für die Leere zu bekommen, die sich ohne ein wenig Kulturbetrieb in dieser ländlichen Gegend breitmachen würde, in der man auf einen Zug nicht in der Bahnhofshalle warten kann, weil die schon geschlossen wurde, sondern stattdessen zum Aufwärmen rüber in die Kurklinik muss. Aber der Termin steht nun mal. Mit einer Pressereise zu den kulturellen Schauplätzen des Sommers ­ außer der Reihe und außerhalb der Saison ­ wollen die Organisatoren für vitalere Eindrücke von der Gartenlandschaft sorgen.

Eine seltsam illustre Truppe hat sich für die Landpartie angemeldet. Neben der überregionalen Feuilleton-Dame sitzt ein lokaler Patriot vom Magazin Westfalium im Bus, während sich die FAZ-Reiseseite mit der Thalacker Allgemeine Samen- und Pflanzenofferte unterhält. Wenn die Reiseführerin Labs-Ehlert auf der Fahrt durch den herbstlichen Laubwald nebenbei erzählt, die Brüder Grimm hätten hier im tiefen, tiefen Wald sage und schreibe 29 ihrer Märchen aufgelesen, kann es deshalb passieren, dass sich der Stolz der Einheimischen auf den Sitzen mit den Worten Bahn bricht: "Wir sind das Kernverbreitungsgebiet der Buche schlechthin!"

Die Mischung ist angemessen. Baumfreunde, Kunstinteressierte und Landadel sind nun mal die natürlichen Begleiter, wenn man eine Gartenlandschaft ins Leben ruft. Wirtschaftspresse hingegen muss Anwesenheit rechtfertigen, ausgerechnet. Offenbar ist untergegangen, wer die Runde schmeißt. Wirtschaftsförderer Jürgen Heinrich, präsentabler Mann mit Umgangsformen und kurz vor seinem Ruhestand, hat sich der kultureifrigen Truppe eher bescheiden vorgestellt. Dabei ist er der Koordinator der "Garten_Landschaft".

Heinrich hat das größte Interesse an einem Wort, das nicht nur schmeichelhafter ist als "OWL", sondern vor allem besser zu vermarkten. Mit Zugkraft, geeignet zur Werbung von Touristen, Fachkräften, Investoren. So kommt es, dass als Träger der Kulturkampagne der Standortvermarkter zuständig ist. "Der gemeinsame Auftritt als Gartenlandschaft zeigt, welches Potenzial in der Region steckt", sagt Heinrich etwas hölzern bei einem Halt unter Hainbuchen. "Dadurch ist der Prozess des Zusammenwachsens vorangeschritten", meint der 65-Jährige und verbucht außerdem Unternehmernetzwerke, die sich inzwischen OWL-weit bilden, oder eine Bahnstrecke auf der kollektiven Habenseite.

Eigentlich ist Heinrich zu bedauern. Seit 15 Jahren ackert seine OWL Marketing GmbH und steckt identitätsstiftende Setzlinge, doch die Saat geht nicht auf. "OWL ­ Ganz oben in Nordrhein-Westfalen" ist beispielsweise so ein Slogan, um den sich die Region nicht scharen mag. Auf der Karte ist OWL eher ganz rechts in NRW zu finden, doch das zu sagen, das geht natürlich nicht. Schon die Vorläufer- truppe, der "Verein zur Imageförderung der Wirtschaftsregion Ostwestfalen-Lippe", agitierte mit Blick auf den Sinn fürs Gemeinsame glücklos. Ihr Spruch: "Ostwestfalen-Lippe ­ Im Schnittpunkt Deutschlands" half wenig. Nein, Heinrich und Kollegen haben es wahrlich nicht leicht. Ihr Leidensweg belegt, wie kompliziert Regionalmarketing ist, wenn sich das zu vermarktende Produkt nicht als solches versteht ­ und wie willkommen ein gelungener Versuch wie die blühende Parklandschaft ist. Endlich Resonanz. Endlich Presse.

Angesichts der fidelen Reisegesellschaft von Multiplikatoren spielt es gar keine Rolle, dass die Anregung zur Garten_Landschaft auf fremdem Mist gewachsen ist. 1997 war die damalige NRW-Kultur- und Städtebauministerin Ilse Brusis aus der Landeshauptstadt an die NRW-Peripherie gereist, um auf die Weltausstellung 2000 im benachbarten Hannover hinzuweisen. "Die gab das Motto aus: Wir holen die Weltausstellung zu uns", erinnert sich Heinrich. Für Ideen, die Gäste in die Region locken könnten, stellte die Ministerin rund 130 Millionen Euro Fördermittel in Aussicht. "Damit sind wir hier aus dem Dornröschenschlaf erwacht", sagt Thomas Kellein. Der Geschäftsführer der Kunsthalle Bielefeld ähnelt, wenn er so über die Wiese von Schloss Wendlinghausen spaziert, nicht gerade einer verwunschenen Prinzessin, die wach geküsst werden könnte, er sieht nur etwas schläfrig aus. Eindeutig belebend auf ihn wirken seine Begleiter, Elisabeth und Joachim von Reden.

Kunst, Kitsch und ein Kurator

Gleich werden die Schlossbesitzer dem Kulturmenschen und den Presseleuten ein Essen in Aussicht stellen, ein Wildschwein, vom Sohn erlegt. Doch vorher gibt's zum Lokal erst ein paar Sätze. "Ohne das Kunstinteresse insbesondere der Familie von Reden hätten wir nicht anfangen können", rechtfertigt Kellein das Aussteigen am Schloss. Hier machte im Mai 2000 die erste Lesung der "Wege durch das Land" Station. Seitdem sind Künstler jedes Jahr gern gesehene Gäste, vor allem experimentierfreudige. "Wunderschöne Bäume ­ scheußliche Kunst, sagen viele Besucher", erzählt Joachim von Reden. Der Schlossherr kann sich diebisch an Anekdoten freuen, weshalb er zum Beispiel fröhlich erzählt, wie mal eine Busladung von Veteranen der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur verstört durch seinen Park marschierte, fassungslos über eine Provokation der US-Künstlerin Martha Schwartz. Die hatte Kitschgegenstände aus Gartenbaumärkten, vom Gartenzwerg übers Windmühlenmodell bis zum Plastikschwein, nicht einfach auf den Rasen gestellt, sondern auf weiße Würfelpodeste, wie in einem Freiluftmuseum. "Einige der älteren Honoratioren haben laut geschimpft und die Spazierstöcke geschwungen", freut sich der amüsierte Kurator Thomas Kellein, sichtlich auflebend.

Erinnerungen an die Vorgeschichte von derlei Freuden bereiten ihm nicht so viel Vergnügen. 1997 war er erst ein Jahr in OWL und schon ziemlich niedergeschlagen. Die Stadt hatte gerade seine Museumserweiterungspläne mit Frank Gehry abgelehnt. Der baute ­ aufgrund der Brusis-Initiative ­ stattdessen in Herford. Die nächste Enttäuschung erlebte Kellein in den Arbeitsgruppen aus Kulturbeauftragten, Amtsträgern und Verbandsfunktionären, die, verlockt von den vielen Förder-Millionen, auf einmal im OWL-Rahmen denken und kreativ sein sollten. Es kamen zwar 320 Vorschläge, darunter auch einer für ein Kuriositätenkabinett ­ ein Rummelplatzmuseum, das den "Schausteller-Cluster OWL" würdigen könnte. "Doch keiner hatte eine Idee, woraus hier die kulturelle Identität besteht und wie wir sie entwickeln könnten", sagt der 52-Jährige. "Ich war bestürzt, dass so etwas nicht existiert."

Kellein macht nicht den Eindruck, als ob er sich nicht zugetraut hätte, den Missstand zu beseitigen. In der Tat: "Die ganze Idee zur Garten_Landschaft stammt von mir." Auf zehn Seiten stellte der Kurator die These auf, die 206 Parks und Gärten rund um den Teutoburger Wald ­ meist in Privatbesitz und sanierungsbedürftig ­ seien die kulturelle Identität von Ostwestfalen-Lippe. Um sie bekannt zu machen, sollten Fördermittel in die Gärten fließen, die mithin für Kulturereignisse zur Verfügung stünden. So kam es. Nein, eine private Leidenschaft stecke nicht dahinter. "Ich bin null Gärtner", sagt Kellein und fügt, sehr nachvollziehbar, hinzu: "Als Kind habe ich mich immer vor Gartenarbeit gedrückt."

Man muss sich das vorstellen: Die öffentliche Hand klopft an bei Freiherren und Grafen und bittet im Namen des Volkes um Einlass und etwas Identität. Der Glanz der Barocksäle könne doch abfärben auf nordrhein-westfälisches Regionalmarketing. Früher hätten die Landadligen über solch Begehr an ihrer Pforte sicher müde gelächelt. Heute ließen sie sich nicht lange bitten. Kellein und Labs-Ehlert rannten offene Türen ein, zumindest bei den geschäftstüchtigen Lokalaristokraten.

Besitz ist eine Last. Das zeigt ein Blick in die "Topographische preußische Neuaufnahme von 1895 bis 1912". In diesen hundert Jahre alten Karten ist "jeder einzelne Park in Ostwestfalen und Lippe verzeichnet", sagt Walter Neuling von der Höheren Landschaftsbehörde der Bezirksregierung Detmold, der im Vergleich zwischen damals und heute feststellt: "Eine Reihe von Parks existiert nicht mehr." Spätestens seit der Nachkriegszeit ging es bergab. Das Wirtschaftswunder lockte die Knechte in die Fabriken. Was passiert, wenn keiner mehr den Hof macht? "Die Wege wachsen als Erstes zu", sagt Neuling. An die Stelle der Flaneure trat wirtschaftliche Nutzung, in einem Park in Gestalt von Schweinen, in anderen in Form von Nutzholz. So auch rund um Schloss Wehrden.

Gipskartonplatten und Gehölz

Ein Spaziergang mit Alexander von Köckritz durch diesen Park ist ein Vergnügen ­ heute. Der Schlossherr geht nicht von Baum zu Baum, sondern von "Solitär" zu "Solitär" und stellt jeden persönlich vor. "Hier sehen Sie einen Christusdorn ­ Vorsicht, am Stamm sind Stacheln." Dort ein Mammutbaum ­ "der wächst wie eine Rakete". Er erhält Beschneidungstipps vom baumkundigen Lokaljournalisten. Über den kurz geschorenen Rasen marschierend, auf dem im Sommer Lesungen stattfinden, unterhält der 56-Jährige seine Gäste, vor allem die, die sich für exotische Gehölze interessieren. Eine solche Führung ist erst seit einigen Jahren wieder möglich. Beim Schwiegervater gab's kein Durchkommen, der hatte auf der Wiese Fichten und Lärchen gepflanzt, holzwirtschaftliche Einnahmen für das viel zu große Schloss. Das ist auch heute noch zu groß. "Wollen Sie eine Wohnung mieten?", fragt von Köckritz in die Runde. Nun, vielleicht nicht gerade diese: Ist kalt und sieht feucht aus. "Ich bin froh, wenn ich das Dach dicht kriege", sagt der Hausherr. Vorhang auf für eine Vorstellung von Armut im Reichtum: Er tritt an die Wand und zieht einen Samtvorhang zur Seite. Dahinter kommt kein Gemälde, sondern eine zwei Meter hohe Gipskartonplatte aus dem Baumarkt zum Vorschein. Mit etwas Mühe schiebt er auch die aus dem Weg, damit die Gäste einen Blick in die Bibliothek werfen können. Der Fundus eines einstigen Fürstbischofs ­ abgestellt in einer unzugänglichen Rumpelkammer. Immerhin, um den Park muss er sich, seit es die Garten_Landschaft gibt, nicht mehr kümmern. Er verpachtet ihn lieber für 30 Jahre an die Stadt Bewerungen, als dass er ihn verwildern lässt ­ und ist damit, wie auch andere Parkbesitzer, Pflege und Haftung los. Der Preis dafür: Die Herrschaften sind zu Hause, aber nicht mehr allein.

Fremde Leute im Schloss. Außerhalb der Besichtigungszeiten. Eigentümliche Künst- ler in der Küche. Dichtes Gedränge auf dem Rasen. Liebesspiele im Baumhaus. Probleme am Hals: "Wir haben wahnsinnig damit zu kämpfen, dass Leute reinkommen und Stühle raustragen", sagt Annabelle Gräfin von Oeynhausen-Sierstorpff zur Erklärung, warum sie mal wieder vor einer verschlossenen von gefühlten tausend Türen ihres Besitztums steht. Die vielen Besucher bringen auf viele Arten Leben in die Bude. Auch wenn es jetzt, wo die Zeitungsleute zu Gast sind, so gar nicht den Anschein hat.

Die junge Gräfin sitzt im Speisesaal ihres "Gräflichen Park Hotel & Spa" in Bad Driburg und ist ziemlich allein. Wo hundert Gäste tafeln könnten, ist nur ein weiterer Tisch gedeckt. Das Ehepaar grüßt herüber: "Ist es nicht schön, das eigene Hotel mal so ganz für sich zu haben?" Die Hausherrin lächelt ein bisschen süß-sauer, aber zehn Kunden für 137 Zimmer, das macht schon etwas einsam ­ und langfristig arm. "Irgendwo müssen Gäste herkommen", sagt die sympathische Gräfin, und man wünschte, man könnte die Mitreisenden zum Bleiben oder zumindest zum Bezahlen animieren.

Die Sehnsucht nach Gästen ­ die gibt es in allen Kurorten der Region. Einst nächtigten allein in Bad Driburg jährlich so viele wie in Köln. Der Volkssport "Kuren" der bundesdeutschen Kassengesellschaft aber war Mitte der neunziger Jahre abrupt zu Ende. Leere Kassen ­ leere Flure. Nicht gerade der beste Moment, das Erbe anzutreten? Im Gegenteil. "Es hat erst einen Sinn für mich gemacht, hierher zu ziehen, seit ich auch etwas bewegen kann", sagt die Gräfin, angesichts des stattlichen Besitzes dankbar für eine Aufgabe. Seitdem dreht das Paar, er Ex-Unternehmensberater, sie Kunsthistorikerin, ein großes Rad. 20 Millionen Euro haben sie in den "Gräflichen Park" gesteckt. Konnte der Gründergraf vor 225 Jahren noch mit "Hasardspielen" Gäste dazu verleiten, fürs Wassertrinken und Spazieren Kostgeld zu zahlen, setzen die Nachfahren auf Gartentourismus und auf den Werbeeffekt der Kultur: "Wenn viele der Besucher sagen, es ist schön, hier müssen wir mal Urlaub machen, ist es genau das, was wir wollen."

Da kommt der Bus mit den Journalisten gerade recht. Die staunen über das Dutzend taufrisch sanierter alter Gebäude und darüber, wie viel Geld abnehmwillige Diätiker dafür ausgeben, abgeschottet ihr Dasein zu fristen, statt die Wonnen im weitläufigen Saunabereich in Anspruch zu nehmen, wo freundliche Bedienstete auf Gäste im Bademantel warten. Weniger Staunen ruft dagegen ­ nach einigen Gärten ist auch ein Ginkgo nur noch ein Baum unter vielen ­ der international ausgezeichnete Park hervor. Vielleicht tragen deshalb zur besseren Unterscheidung einige der Bäume Namensschilder: Heine, Pindar, Fichte, Schelling, Kant. Die waren zwar so häufig vor Ort wie Marx in Karl-Marx-Stadt, doch Literaten-Name-Dropping gehört dazu, wenn man als Station des Lesefestes "Wege durch das Land" infrage kommen will. Referenzliterat in Bad Driburg ist übrigens Hölderlin.

Dass hier Hauslehrer Hölderlin seiner großen Liebe, der Bankiersgattin Gontard, nachging und den Briefroman "Hyperion" daraus machte ­ wie, das wussten Sie nicht? Oder dass im Teutoburger Wald einst Rilke spazierte oder Peter Hille vagabundierte ­ wer bitte was? Derlei nicht zu wissen, macht gar nichts, solange Brigitte Labs-Ehlert in der Nähe ist. Sie weiß das alles und erklärt es durchaus geduldig. "Wir betreiben eine umfangreiche Spurensuche", sagt die zierliche Leiterin des Literaturbüros OWL in Detmold, mit zwei Kollegen immer auf Recherche nach dem, "was sich in der Region literarisch angereichert hat".

Und weil sie davon weiß, wissen es jetzt viele. Sie bittet die Besucher auf ihren Wegen durch das Land an ganz ausgesuchten Stellen zur Rast und kombiniert dort zum Ort passende Worte sowie musikalische Laute. Mit Schloss Rheder verbinden nun einige Presseleute einen bärtigen Barden mit Saiteninstrument, auch wenn nachher keiner dem anderen mehr erklären konnte, warum der amerikanische Zeitgenosse im Rokokosaal mit seinen mittelalterlichen englischen Weisen in unsere Zeit gehörte, vielleicht ja nur, weil er aussah wie der irische Musiker Aphex Twin mit Gambe. Dass dies ein altmodisches Musikinstrument ist, das zwischen die Knie geklemmt gespielt wird, bleibt als Erkenntnis, die man mit nach Hause nehmen kann.

Landschaft, Lyrik und Altbierkultur

"Nein, reine Traditionspflege mache ich nicht", sagt Brigitte Labs-Ehlert. Die kleine Frau in Schwarz schaut etwas verständnislos herüber. Mögen viele Besucher nur wegen der barocken Kulisse und der berühmten Schauspieler kommen ­ als volkstümelnd will sie ihr Programm nicht auch noch verstanden wissen. Tatsächlich macht es die 56-Jährige ihren Besuchern nicht so leicht und verabreicht auch schon mal experimentelle Lyrik oder lädt auf den Truppenübungsplatz. Außerdem kann sie ja nichts dafür, dass ihre ursprüngliche Idee, lieber Poesie-Kapellen in moderner Architektur in der Landschaft zu bauen, statt die alten Pfade rund um die alten Schlösser und Gärten auszutreten, im Kommunalwahlkampf unter die Räder kam. "Keine Moneten ­ aber Poeten!", hieß das Gegenargument. Dass Neues in der Landschaft nicht störend, sondern auch mal wohltuende Abwechslung sein könnte, zeigt ein Besuch im futuristischen "Glasscube" in Bad Driburg, doch den haben sich nicht gedankenverlorene Lyriker, sondern kühl kalkulierende Glasverkäufer auf die grüne Wiese gestellt. Labs-Ehlert hat einen Weg gefunden, sich abzufinden. "Je länger man die Orte betrachtet, desto mehr Aspekte entdeckt man." Auf die Art holt sie aus dem Fundus ihrer Wahlheimat immer neue Reize. Dieses Jahr, unter anderen: Marx.

Letztlich führen Pressereisen immer an die Theke. Was für ein Tag. Und dennoch: Die Auswertung der Eindrücke lässt einen alteingesessenen OWL-Journalisten mit seinen Landsleuten hadern. "Viele Westfalen haben ein Problem damit, in den Dingen, die sie haben, etwas Besonderes zu erkennen." Gambe, Ginkgo, Fichte ­ was meint er? "Das Einheitspils hat die westfälische Altbierkultur kaputtgemacht", beklagt er die Geringschätzung heimischen Kulturguts und tröstet sich nach der Vorlesung in der vollen Schlossschänke mit einem Pils, gebraut vom landadligen Gastgeber. Standortwerber Jürgen Heinrich will langsam, aber sicher nach Hause. Noch Fragen? Ja: Hat es eigentlich geklappt, so wie geplant, mit der Garten_Landschaft im Jahr 2000 die Expo-Gäste aus Hannover herüberzulocken? "Nein", gesteht Heinrich.

Auf dem Heimweg wird er es schon verschmerzt haben. Schließlich besuchen sich die Einheimischen jetzt immerhin gegenseitig. Ist ja nicht selbstverständlich, in Ostwestfalen-Lippe.