Mit beiden Beinen ständig am Boden

Was die Marken aus Ostwestfalen-Lippe über Ostwestfalen-Lippe verraten.




Gäbe es die Aufgabe, ein Beispiel für die Existenz blinder Flecken auf der deutschen Landkarte zu finden, Ostwestfalen-Lippe wäre der perfekte Kandidat. Die kulinarischen Spezialitäten heißen Steckrübeneintopf, Stippgrütze und Pickert. Es gibt Schützen- und Bockbierfeste. Die Landschaftsmarken sind Teutoburger Wald, Hermannsdenkmal, Externsteine, Porta Westfalica. Eine Region voller urgermanischer Brocken. Aber schon die Einheimischen scheinen sich des grundsätzlichen Problems bewusst, dass keiner ihre Heimat verorten kann. Weshalb sie ihrem Landstrich einen praktischen Slogan gegeben haben: "Ganz oben in NRW".

Erst beim Blick auf die ansässigen Unternehmen fällt die Doppeldeutigkeit auf. Der Regierungsbezirk Detmold, so der Verwaltungsname, hat eine geballte Ansammlung überregional bekannter Marken zu bieten: Cor, Dr. Oetker, FSB, Hettich, Melitta, Miele, Ritex, Schüco, Seidensticker, Storck, Teutonia, Walther Glas, Westfalia-Automotive, Wincor Nixdorf. Außerdem natürlich Bertelsmann. Nicht schlecht für eine Gegend, die nach Wind, Gummistiefeln und Überlandkanälen klingt.

Ostwestfalen-Lippe ist ein deutsches Paralleluniversum, mitten in Deutschland. Nimmt man die Lupe zur Hand und beugt sich über die Landkarte, entdeckt man Felder, Hügel, Wälder und vier kreuzende Autobahnen. Eine Provinzlage, wie sie zentraler kaum sein könnte, in der es von Handwerkern, Maschinen- und Möbelbauern, Wurstfabriken, Textilhäusern, Lebensmittelwerken, Druckereien, Experten aus der Gesundheitsindustrie und Fabrikanten aller Art nur so wimmelt.

Die Vielfalt hat mit der Lage und den Verkehrswegen zu tun, die so historisch und gewachsen sind wie die Generationen von Unternehmen. Es gibt alte Autobahnen und schon seit mehr als hundert Jahren eine Bahnverbindung zwischen Köln und Minden, von dort aus führt die Weser nach Bremen. Im Westen liegt Amsterdam, im Südwesten das Ruhrgebiet; im Norden die Hansestädte, im Osten Berlin, Polen, Moskau. Zentraler geht's nicht. Man ist schnell hier ­ und schnell wieder weg. Ein Paradies für Logistik-Fans: Alle Wege führen durch OWL. Kein Wunder, dass Bertelsmann hier seinen Stammsitz hat. Der Weltkonzern hat am Wegesrand der A2 begonnen, als Buchclub und Versandhaus. Ein Ursprung, den man heutigen Computerkids auch als "Großeltern von Amazon" erklären könnte.

Geballte Wirtschaftskraft

Entlang dieser europäischen Routen bildeten sich Cluster westfälischer Prägung. Es gibt ein Gesundheits-Cluster, ein Küchen-Cluster, ein Verbindungstechnik-Cluster und eines für die Autozulieferindustrie. Zudem ballt sich hier, wenn auch nicht mehr so üppig wie früher, ein ordentlicher Rest deutscher Textilindustrie. Rund um Paderborn glucken die Vertreter aus Informationstechnologie und Maschinenbau; weiter nördlich, in Versmold, sitzen drei der größten einheimischen Wurst-Fabrikanten ­ was dem Ort den bewundernden, aber wenig schmeichelhaften Beinamen "Fettfleck Deutschlands" bescherte.

An dieser üppig bestellten Markenlandschaft lässt sich der typische Verlauf der industriellen Evolution ablesen. In jeder Stufe der Entwicklung sitzen heute noch Unternehmen. Von der Rohstoffgewinnung (Forstwirtschaft) über die Verarbeitung (Möbelindustrie) zur Spezialisierung (Küchen, Beschläge) bis hin zu den High-End-Produzenten (Designermöbel, Türklinken). Und fast jede der Branchen weist reichhaltige Verästelungen auf ­ entlang von Märkten, Spezialistentum, Design und Marke.

In Ostwestfalen-Lippe ist also "ordentlich was los", wie die Leute, die hier wohnen, ihre geballte Wirtschaftskraft wohl trocken umschreiben würden. Aber warum ist die Region dann so wenig bekannt? Wieso existiert um die größte Stadt des Landstriches gar die Legende, es gäbe sie nicht? Und weshalb berichtet fast jeder, den es zeitweise oder dauerhaft in die Gegend verschlägt, von anfänglicher Skepsis und ausgiebigem Zögern? Nun, es braucht wohl etwas Stolz und auch eine Portion Geltungsdrang, um als Region etwas darzustellen. Den Westfalen und Lippern sagt man eine gewisse Sprödigkeit nach. Als Spaßkanonen sind weder die Leute im protestantischen, SPD wählenden Norden noch die aus den erzkatholischen CDU-Hochburgen im Süden bekannt. Kann es sein, dass den Menschen vor Ort, die sogar den Namen ihrer Heimat emotionslos auf drei Buchstaben verknappen, jede Art von Selbstdarstellung einfach zu frivol ist?

Um ein tieferes Verständnis für den Landstrich zu erlangen, nimmt der Betrachter am besten das, was er ihm noch am ehesten als emotionale Oberfläche entgegenstreckt, seine Marken, und verteilt sie auf einer neuen, psychologischen Karte. Natürlich nicht nach Gutdünken: Eine Gruppe von Verbrauchern hat die Slogans, Logos und Selbstdarstellungen ostwestfälischer Marken gesichtet, Experten haben die Eindrücke ausgewertet und in einer Karte verzeichnet, deren Pole nicht aus Himmelsrichtungen, sondern aus Motiven bestehen.

Kontrolliert und männlich

Harmonie und Spannung, Kontrolle und Lust heißen die Hauptzugkräfte dieses Fadenkreuzes; die vier Quadranten sind von knapp 200 Attributen bevölkert (siehe Randspalte Seite 15). Im Marketing ist das Erstellen solcher "semantischen Werteräume" eine Standardprozedur, mit der die Position der eigenen Marke und die der Konkurrenz bestimmt wird. Wenn sich Marken, Medien, Zielgruppen, Menschen, Völker und Staaten ­ ja, die ganze Welt innerhalb dieser Pole erklären lässt, warum nicht auch Ostwestfalen-Lippe?

Der erste Eindruck der dortigen Markenwelt: stark kontrolllastig, mit Drall nach links außen. Nur die Unternehmen, die sich offensiv dem Thema Design verschreiben ­ Cor, Interlübke, Poggenpohl und FSB ­ bilden in der Nähe der intellektuell/kreativen Mitte der Karte mit verfeinerten, die kulturelle Raffinesse betonenden Logos eine Sachlichkeits-Gruppe. SieMatic liegt schon woanders, weiter oben im Sinnesquadranten, denn Kommunikation und Produktlinien des Küchenherstellers bedienen auch romantische Aspekte. Stichwort: Landhausküchen.

Weniger sachlich, dafür stimmungsvoll stellt sich Leonardo dar. Die Bad Driburger durchlaufen derzeit eine Verwandlung, die vielen ostwestfälischen Marken bevorsteht. Vom "Glasimporteur" haben sie sich zur "Glasmarke" entwickelt. Angesichts der Billigkonkurrenz aus dem Osten heißt der neue strategische Schritt Lifestyle-Marke ­ mit "Inspiration for Modern Living" als Claim. Aber selbst wenn Leonardo nun LED-Stimmungslampen produziert und den 2007 eröffneten, biomorph kon-struierten Glaspavillon mit Kultur bespielt, wird die Marke mit dem Wolken-Logo doch weiterhin im musischen, elegant-femininen Kern der Sinneswelt zu Hause bleiben. Das war es dann aber auch schon mit feminin in Ostwestfalen. Nur Leonardo und SieMatic stehen im Feld der Düfte, der Verführung und der Künste. Ansonsten pfeift der kalte Wind durchs Reich der Sinne.

Fast alle anderen Marken tummeln sich in der sicheren, harmonischen Familienwelt oder im machtorientierten, männlichen Quadranten. In die rechte, die lustbetonte Hälfte des Kreuzes verirren sich nur wenige aus Ostwestfalen und Lippe. Nicht, dass sie kein Herz hätten. Auffällig viele Marken haften an der Harmonieachse. Dort bilden Storck, Dr. Oetker, Bethel, Ritex und weiter außen Melitta ein beachtliches Kuschel-Cluster. Es ist heimelig in Ostwestfalen, auch in der wirklichen Welt. Das Klima ist mild, die Sommer sind nicht zu heiß, die Winter nicht zu kalt. Im "Heilgarten Deutschlands", wie sich die Region auch gern nennt, mag man es offenbar kuschelig.

Nun könnte man sagen, dass Backpulver, Pflegeeinrichtungen und Filtertüten naturgemäß nichts mit Sex, Aufregung oder Abenteuer zu tun haben. Aber schon beim Thema Kondome (Ritex) wäre die Markenmatrix, nun ja, dehnbarer. Und auch für keine der anderen Kuschelmarken sind "Harmonie", "Pflege" oder "Familie" zwingende Posi-tionierungsimperative. In ihren Märkten hat jede von ihnen überregionale Konkurrenten, die sich sehr wohl in anderen Feldern positionieren.

Zum Beispiel Ritex. Die Mitbewerber des Kondomherstellers (allesamt nicht aus der Region) heißen Durex, Fromms, Billy Boy oder Condomi. Billy Boy aus dem Hause Fromms richtet sich comicartig an eine junge Klientel ("Das aufregend andere Kondom"), besetzt also eine Nische in der Abenteuerwelt. Das hedonistische Condomi wird vom inzwischen polnischen Mutterkonzern exotisch vermarktet, ist also noch deutlicher als Abenteuer positioniert. Fromms selbst tritt als klassische Apothekenmarke im Sebamed-Look auf: Positionierung im Sicherheitsfeld. Durex hingegen inszeniert sich mit Bild und Wort als Sexspielzeug ("For more pleasure with Durex") und platziert sich so in Richtung Lust und Spieltrieb.

Ganz anders das Bielefelder Familienunternehmen: "Schützt die Liebe" lautet der Ritex-Claim, über die Website läuft ein blaues Band, darin schweben Logo und Spruch, darunter liegt ein weiß bekleidetes, sich anlächelndes Paar, dessen Konturen im weißen Hintergrund verschwimmen. Gäbe es jemals ein katholisches Präservativ, Ritex wäre die Marke dafür. Mit dieser Mischung aus Fami-lienschutz und Harmonie besetzt das westfälische Kondom eine Pflegepositionierung, die sonst vor allem von Marken wie Nivea genutzt wird.

Links neben dem Kuschel-Cluster ein Ballungsraum des Soliden: Miele, Westfalia, der Fensterbauer Schüco und der Kinderwagenhersteller Teutonia. Wichtig für alle: Qualität und Beständigkeit. Schüco betont Sparsamkeit, Westfalia-Automotive streicht Service und Haltbarkeit heraus. All diese Aspekte bekommen bei Miele schließlich die Amtlichkeit eines Generationenvertrags. Das Logo ist ein Meisterstück mit stempeldicker Typografie, schwer und unverrückbar wie eine deutsche Waschmaschine mit Betonfuß.

Natürlich darf Miele Miele bleiben. Auch die anderen Marken sind in ihrer historisch gewachsenen Position verwurzelt. Aber es fällt auf: dass so viele in genau derselben Erde wurzeln. Die Ostwestfalen lieben Qualität. Made in Germania.

Manchmal wurzeln sie auch zu tief. Melitta zum Beispiel hat so manchen Branchenexperten überrascht, weil das Unternehmen lange den trendigen Kaffee-Pad ignorierte und stattdessen beharrlich am Kompetenzfeld Filtertüte festhielt. Oder Teutonia: Die Hiddenhauser konzentrierten sich so sehr auf Qualität ­ dass sie übersahen, was Kunden, Händler und Lieferanten wollten. Erst als Miranda aus "Sex and the City" einen Wagen der brabbeligen Lifestyle-Marke Bugaboo durch New Yorker Straßen schob und ihr hierzulande prompt hippe junge Eltern folgten, wachte Teutonia auf. Bleibt nur noch ein Problem, der Name. Da kann sich der Anfangsbuchstabe unterm Logo zu einem Regenbogen-Lächeln biegen, wie er will: Darüber prangt ein Wort wie ein Rohrstock!

Die Textilmarken geben sich zugeknöpft und formbewusst. Gerry Weber, Seidensticker, Windsor: Alle finden sich auf der kontrollierten Seite, Seidensticker mit schlanker, hochragender Typografie, Windsor mit adeliger Anmutung. Diese Positionierung ist allerdings wenig verwunderlich und auch nicht typisch ostwestfälisch. Die Masse der deutschen Fashion-Brands von Boss, über René Lezard, Strenesse bis Jil Sander gibt sich ähnlich reduziert und kontrolliert.

Bleiben im männlich/hierarchischen Quadranten noch Wincor Nixorf, markengerecht auf der Technikposition, und Bertelsmann: Platzhirsch und Strippenzieher, der Macht- wie Gutmenschen gleichermaßen fasziniert. Von Bertelsmann scheint ohnehin in vielen ostwestfälischen Marken etwas zu stecken. Sie sind global, sozial engagiert, kraftvoll, einflussreich und ernsthaft. Und sie sind alle auch ein bisschen Sinalco: wie aus einer anderen Zeit, als es noch BRD und DDR gab.

Stur, trocken und geradeaus

Nur drei Marken reißen aus diesem soliden Raster aus. Eben jene Brause, die Anfang des vergangenen Jahrhunderts in Detmold geboren wurde und heute in Duisburg zu Hause ist. Der Spielautomatenhersteller Gauselmann, sonnig und beduselt wie drei Glas Bier am Nachmittag. Und Claas: bodenständig, humorvoll, robust. Das kursiv-kräftige Logo erinnert an einen schreitenden Elefanten, passend für einen Weltmarktführer bei Feldhäckslern.

Stur, trocken und geradeaus, sagt man, sind die Menschen in Ostwestfalen- Lippe. So sind auch ihre Marken. Wie sich die Küchenhersteller um Herford ballen, so ballt sich OWL um Qualität, Sorgfalt und Sicherheit. Typisch deutsche Eigenschaften in einer typisch deutschen Region. Kaum einer tanzt aus der Reihe, aber jeder macht kraftvoll sein Ding. Leidenschaft ist erst mal kein Thema. Cool sind nur manche. Zu allen hat man Vertrauen. Eine Gegend wie ein fester Händedruck.

Für die Marken ist diese Nüchternheit Stärke. Viele Schreihälse wie Saturn oder Müllermilch müssen ihre lautstarken Auftritte inzwischen dämmen, damit der Kunde sie wieder wahrnimmt. Gelassenheit, das hat schon was, auch für eine Marke. Wenn Sie also das nächste Mal in der Welt des Konsums herumschnuppern, lohnt vielleicht ein Blick nach Ostwestfalen-Lippe. Die Menschen sind trocken. Aber was sie da basteln, backen und bauen, das hält meist, was es verspricht. In der flatterhaften Welt der Marken ist das viel wert. Sehr viel sogar.

Beschreibung der Quadranten

Familienwelt (oben links): In dieser Sphäre zählt das Miteinander, eine warme Gesellschaftswelt mit Moral, Verbindlichkeiten und Regeln.

Stichworte sind: Zusammengehörigkeit, Gesundheit, Vertrauen, Verlässlichkeit, Ruhe, Nähe, Tüchtigkeit, Disziplin, Fairness. Volvo, Allianz, Hipp, Nivea, Sparkasse, Dresdner Bank, Schweden, Deutschland, Schweiz, Weihnachten.

Prestigewelt (unten links): Hier zählt das, was man erreicht, es herrscht förmlicher Umgang, viel Bewegung. Eine kühle, männliche Welt, voller Alphamännchen und Karrierefrauen.

Stichworte sind: Macht, Hierarchie, Elite, Distinguiertheit, Design, Analyse, Form, Oberfläche, Innovation, Kompetenz. Gala, Prada, Jaguar, Boss, Platin, Deutsche Bank, Großbritannien.

Abenteuerwelt (unten rechts): eine individualistische Welt aus Geheimnis, Spaß, Chaos, Spannung und Gefahr. Stichworte: Freiheit, Ungezwungenheit, Herausforderung, Individualismus, Explosionen, Sex, Metropolen, Feuer, Dramatik. Müllermilch, Axe, Gucci, Magnum, Bacardi, Camel, Spanien/ Flamenco, Kanada/Natur, Karneval.

Sinneswelt (oben rechts): eine weibliche Welt, romantisch, gesellig, intuitiv, emotional und künstlerisch.

Stichworte: Zärtlichkeit, Lachen, Spiel, Poesie, Musik, Duft, Leichtigkeit, Glück, Blüten, Erotik, Belohnung, Eleganz. Rotkäppchen, Calvin Klein, Vodafone, Apple, Frankreich, Italien, Renaissance.