Erbengemeinschaft

Bier, Brot, Bischof ­ das war Paderborn. Bis Heinz Nixdorf die Stadt in einen Computerrausch versetzte. Der Kater kam mit der Pleite der Nixdorf Computer AG. Tausende verloren ihren Arbeitsplatz. Heute ist Paderborn wieder obenauf. Ist Technikzentrum, Forschungsstandort. Weil Heinz Nixdorf auch dafür die Grundlagen schuf. Und weil es Menschen gibt, die sie immer wieder neu zu nutzen verstehen.




Ein Fixstern steht scheinbar starr am Himmel, an einem festen Punkt. Er strahlt, man kann sich an ihm orientieren. Doch wenn er verglüht, fällt das Licht aus. Und ist er groß genug, während er in sich zusammenfällt, saugt er alles Licht in seiner Umgebung in sich auf. Es entsteht ein schwarzes Loch.

"Heinz Nixdorf war ein Fixstern", sagt Paderborns ehemaliger Stadtdirektor Wilhelm Ferlings. Er schenkt Sherry ein und denkt an alte Zeiten. "Ein Motor war dieser Mann, ich hätte mir fünf von seiner Sorte gewünscht. Und plötzlich war dieser Motor nicht mehr da. Alle waren erschrocken und in banger Er-wartung: Was wird nun aus der Nixdorf Computer AG?"

Heinz Nixdorf ist tot, seit mehr als zwanzig Jahren. Er starb 1986 auf der Computermesse Cebit. Nicht wenige fürchteten damals, Paderborn könnte werden, was böse Zungen der Stadt von jeher andichten zu sein: ein schwarzes Loch. Nach Nixdorfs Tod sah es oft so aus, als ob die düstere Ahnung in Erfüllung gehen könnte. Die Nixdorf Computer AG war vier Jahre später Geschichte.

Und doch hat Paderborn den Wandel bewältigt, ist Universitätsstadt, Forschungsstandort, Zentrum der Informa-tionstechnologie mit knapp 300 Fir-men, in denen sich rund 10000 Men-schen mit nichts anderem beschäftigen ­ jeder sechste sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in der Stadt ist in dieser Branche tätig. Es ist das Erbe eines Mannes, der zu Lebzeiten die Grund-lagen dafür schuf, dass es nach seinem Tod weitergehen konnte in Paderborn. "Heinz Nixdorf", sagt Bürgermeister Heinz Paus, "der war wie Bill Gates. Er hat die richtigen Menschen hergebracht. Sie haben sich hier seine Dynamik abgeschaut. Und er hat sie gelehrt, sich am Weltmarkt zu orientieren."

Bier, Brot, Bischof ­ das war der Paderborner Dreiklang, bevor Heinz Nixdorf 1959 aus Essen zurück in seine Heimatstadt kam und dort seine Computerfirma gründete. Ein verschlafener Ort, nur über Landstraßen erreichbar, ohne Schnellzugverbindung, mittendrin der Dom und diverse Kirchen. "Vom Rat-haus bis zum Bahnhof konnte man gucken", erinnert sich Wilhelm Ferlings, "so zerstört war die Stadt nach dem Krieg." Nixdorf baut dort einen Konzern, der am Ende 25500 Menschen Arbeit gibt, darunter 11000 in Paderborn. Er triezt die Stadtvorderen, so-dass der Ort einen eigenen Flughafen bekommt und sage und schreibe fünf Autobahnauffahrten. Er selbst baut mitunter ohne Genehmigung. Er macht einfach los. Ein nicht selten cholerischer Mann. "Auch mich hat er mal Arschloch genannt", sagt Ferlings noch immer voller Achtung, "aber was haben wir für ein Glück gehabt mit ihm. Er hat die Schnarchigkeit vertrieben."

Doch seine Firma legt eine bemerkenswerte Pleite hin ­ 1990 ist die Nixdorf Computer AG insolvent. Das Unternehmen verpasst den Siegeszug der kleinen Personalcomputer. Die waren Nixdorf schon zu Lebzeiten ein Gräuel. "Quick and dirty", das war nichts für den Mann, der für jeden Kunden nach einer individuellen Lösung suchte.

Es beginnt eine neunjährige Leidensgeschichte. Siemens übernimmt die Nixdorf AG, doch die Integration in den Konzern misslingt. 1999 wird Nixdorf zerschlagen ­ Siemens teilt sich mit Fuji-tsu das Computergeschäft, die Elektronikfertigung geht an Flextronics. Der Bereich Geldautomaten und Kassensys-teme wird von Finanzinvestoren übernommen und heißt fortan Wincor Nixdorf. Von 11000 Arbeitsplätzen in Pader- born sind knapp 6000 übrig.

Es hätte das Ende sein können. Um zu verstehen, wie die Stadt den Arbeitsplatzverlust wieder wettmachen konnte und trotzdem stetig wuchs, auf heute gut 140000 Einwohner, lohnt es sich, mit Karl-Heinz Stiller zu sprechen. Bis Ende Januar 2007 war Stiller Vorstandsvorsitzender der Wincor Nixdorf AG, heute ist er Aufsichtsratsvorsitzender. Ein Mann, von dem viele Paderborner sagen, er sei Heinz Nixdorfs Nachfolger.

Stiller ist 65, ein runder Mann, man sieht ihm an, dass er gern lacht. Unter seiner Führung ist Wincor Nixdorf bei Geldautomaten und programmierbaren elektronischen Kassensystemen aufgestiegen zur Nummer drei in der Welt. Mit 3000 Mitarbeitern fing das Unternehmen an, heute sind es weltweit 8400. Aus 1600 Paderborner Arbeitsplätzen wurden 2100, dort draußen am Heinz-Nixdorf-Ring 1, wo die typischen Nix-dorfgebäude stehen. Flach, kantig, klar strukturiert: Jede Wand, jedes Fenster, jeder Raum ist auf ein Rastermaß von 1,80 mal 1,80 Meter fixiert.

"Jede Krise setzt Kräfte frei", ist für Stiller ein entscheidender Satz. Bei Heinz Nixdorf hat er gelernt, diese Kräfte zu nutzen, auch wenn er sagt: "Wir sind keine Erben." Schon 1966 stieg der gelernte Werkzeugmacher bei Nixdorf ein und stieg dann auf, war Produk-tionsvorstand und Chef des Bereichs "Selbstbedienungssysteme" ­ heute das Kerngeschäft von Wincor Nixdorf.

Der Patriarch hatte Prinzipien ­ seine Erben setzen sie um

Als Siemens diese Sparte in die Freiheit entließ, hätte Stiller viel falsch machen können. "Doch es war unsere Chance auf Eigenständigkeit", sagt er. Eigenständigkeit, das war auch Nixdorfs Cre-do. Stiller setzte dessen Prinzipien um. Verantwortung ­ die Manager kauften Anteile am neuen Unternehmen, die meisten mussten dafür Kredite aufnehmen, auch Stiller. Beteiligung ­ für die Mitarbeiter gab es Vorzugsaktien, mehr als zwei Drittel der Beschäftigten inves-tieren. Motivation statt Druck ­ bis heute gibt es bei Wincor Nixdorf keine Bezahlung nach Akkord. "Und wir sind nicht titelgeil", sagt Stiller. Die Hierarchien sind flach geblieben.

Sie hatten keine Angst. Dabei hätte es dafür durchaus Grund gegeben. Wincor Nixdorf hatte keinen eigenen Vertrieb, keine Rechtsabteilung, keinen Service, kaum Kaufleute ­ all das waren vordem Leistungen der Mutter Siemens gewesen. So haben sie sich all das eben selbst aufgebaut. "Nicht viel, aber gut", sagt Stiller und lächelt dabei. Und sie haben all das selbst finanzieren können. Weil sie aus Nixdorfs Fehlern lernten ­ und sich auch an Siemens orientierten: ein klares Berichtssystem, Materialmanagement, Vier-Augen-Prinzip bei Entscheidungen, Controlling, definierte Entwicklungsprozesse, damit war es bei der Nixdorf Computer AG nicht weit her, auch das ein Grund für ihr Scheitern. "Wir leben und sterben nur mit dem, was wir selbst machen", definiert Stiller den Unterschied zu der Zeit, als Nixdorf ein Teil von Siemens war. "Da muss man voranmachen."

Heinz Nixdorf hat Macher in die Provinz gezogen, hat sie geformt ­ und so die Voraussetzung geschaffen, dass die Stadt aus der Krise herausfand. Die Geschichte des neuen Paderborn ist eine Geschichte von Gründern, die von dem Alten gelernt ­ und sich von ihm emanzipiert haben. Ohne Heinz Nixdorf wären sie nicht in Paderborn. Und genau wie Heinz Nixdorf machen sie vor allem ihr eigenes Ding.

Klaus Dieter Frers beispielsweise kehrte den Computerpionieren schon 1988 den Rücken ­ heute beschäftigt sein Unternehmen Paragon in Delbrück bei Paderborn 120 Mitarbeiter, weltweit sind es 600. Paragon produziert Luftgütesensoren für Autoklimaanlagen, Car Media Systeme sowie Anzeige- und Bedienelemente. Mit dem Sportwagen Artega steigt Paragon nun sogar in die Autoproduktion selbst ein.

Frers ist 55, er fährt Autorennen nicht nur als Hobby, die Konferenzräume seiner Firma heißen Monza, Imola und Nürburgring. Fünf Jahre war er bei Nixdorf zuständig für die Elektronikfertigung. "Dort herrschte das Recht des Könners", erinnert sich Frers, "und das war genau die Absicht von Nixdorf. Da wurde sogar ein Fleischer zuständig für die Endmontage. So habe ich gelernt, dass man auf Titel nichts geben muss." Frers spricht noch immer mit großem Respekt von seinem alten Arbeitgeber. Bei ihm durfte er wachsen, Neues ausprobieren, Erfahrungen machen ­ und auch aus Fehlern lernen: "Nixdorf war eine Firma unter Höchstleistung, aber manch- mal wurde da auch mit großem Aufwand schlechte Planung kompensiert." Als Nixdorf der Stadt einen Sportpark für 25 Millionen Mark schenkte, war Frers richtig sauer: "Ich hatte in meinem Bereich Millionen eingespart, und dann das." Frers wollte es anders machen, vor allem aber wollte er seine eigene Firma. Der Abschied fiel ihm leicht. Er hatte bei Nixdorf sein Thema gefunden ­ die Elektronikfertigung, mit der er sich in den ersten selbstständigen Jahren überwiegend beschäftigte. Er wusste, wie man eine Produktion organisiert. Und Nixdorf war einer seiner ersten Kunden.

Frers ging, als es noch gut bestellt war um die Nixdorf Computer AG. Für andere war die spätere Krise der Tritt, den man manchmal braucht, um Neuland zu betreten. Abstoßungskräfte können mitunter recht vorteilhaft sein.

Vor allem nach der Übernahme durch Siemens verließen zahlreiche Nixdorfer ihren alten Arbeitgeber. "Wir hatten den Eindruck, dass einige Nixdorf-Assets nicht so positionierbar waren, wie wir uns das gewünscht hätten", umschreibt Josef Tillmann das Recht des Stärkeren diplomatisch. Tillmann ist Vorstand der S&N AG, einer Beratungs- und Softwarefirma für Finanzdienstleister, mit 100 Mitarbeitern in Paderborn.

Tillmann wurde 1991 klar: "Siemens wollte die Bankkunden nicht." Er beschäftigte sich damals bei Nixdorf mit der Entwicklung von Bankensystemen, fühlte sich ausgebremst ­ und gründete schließlich die S&N, zusammen mit sieben Kollegen. Was er außerdem mitnahm, waren sein Können und seine Kontakte. Ganz ohne Ärger ging das nicht ab. Inzwischen ist die Trennung Schnee von gestern ­ Tillmann macht Geschäfte mit Wincor Nixdorf wie jedes andere Unternehmen. Jeder fünfte S&N-Mitarbeiter hat heute einen Nixdorf-Hintergrund. Personalwechsel zwischen beiden Firmen sind gang und gäbe. Tillmann nennt es ein ständiges Geben und Nehmen.

Die Siemenszeit ist vielen Paderbornern in keiner guten Erinnerung. "Unterm Strich ist alles in Ordnung" ­ so lautete ein böser Spruch, der mit dem Logo der damaligen Siemens-Nixdorf-Informationssysteme AG spielte: Der Schriftzug "Siemens" war durch einen Querbalken von "Nixdorf" getrennt. Bis heute gilt der Konzern vielen vor Ort als Plattmacher. Das ist ­ wie immer in so einem Fall ­ natürlich nur ein Teil der Wahrheit. Tatsächlich gäbe es ohne die Unterstützung von Siemens so manche Entwicklung in der Region nicht. Auch Webwasher würde nicht existieren. Unter dem Dach der Secure Computing GmbH sichert sie heute immerhin 80 Paderbornern Lohn und Brot.

Auf Bier und Brot

folgen Bildung und Boom

"Für mich war die Siemenszeit sehr positiv", sagt Webwasher-Gründer Horst Joepen. In den späten neunziger Jahren bastelte der Entwickler an einem Internetfilter, der Spam und andere unerwünschte E-Mails selbstständig aussortieren kann ­ eben Webwasher. Siemens konnte mit der Innovation wenig anfangen, sie gehörte nicht zum Kerngeschäft. Aber der Konzern unterstützte die Ausgründung. Über eine Risikokapitaltochter bekam Joepen eine Million Euro ­ die Hälfte des benötigten Startkapitals. Er und seine beiden Kollegen konnten ein Drittel ihrer Arbeitszeit für das eigene Unternehmen nutzen, bei juristischen Fragen half die Siemens-Rechtsabteilung, die Kollegen aus der Öffentlichkeitsarbeit kommunizierten Webwasher in den Markt. 1999 wagte Joepen den endgültigen Absprung, machte sein Unternehmen erfolgreich und verkaufte es 2004 weiter. Inzwischen hat Joepen als IT-Consultant ein Büro in der Stadt, mit Blick auf den Marktplatz, wo sich seine ehemaligen Mitarbeiter mittags vielleicht ein Würstchen kaufen.

Paragon, S&N, Webwasher ­ Geschichten wie diese gibt es zuhauf in Paderborn. Die Stadt steckt voller Menschen, die etwas können. Und wenn es sich dabei um technologische Kompetenz handelt, ist es sicher keine Übertreibung, darin einen Teil des Nixdorf-Erbes zu sehen. Denn auf den einstigen Patriarchen der Stadt geht neben der Gründungsdynamik auch eine imposante Bildungslandschaft zurück, die Paderborner Unternehmen Jahr für Jahr mit kompetenten Mitarbeitern versorgt.

Wie eine nimmersatte Maschine saugte die Nixdorf Computer AG in ihren guten Zeiten Mitarbeiter auf ­ damals, als es noch gar keine IT-Spezialisten gab. Seinerzeit kamen Lehrer mit null Bock auf Schule nach Paderborn, aber auch Psychologen, Kaufleute und die Vertreter vieler anderer Berufe. Sie wurden beispielsweise in die Bürener Stadthalle gepfercht und in wenigen Wochen zu Programmierern umgemodelt. Heinz Nixdorf war klar, dass das nicht lange gut gehen konnte ­ also gründete er seine eigene Berufsschule. Die ist längst selbstständig, mittlerweile schickt das Bildungszentrum für informationsverarbeitende Berufe (b.i.b.) jedes Jahr knapp 600 Absolventen auf den Arbeitsmarkt, der saugt die Informatiker und IT-Kaufleute dankbar auf.

Zwei Drittel aller Absolventen bleiben in der Region. Dieser stete Strom an qualifiziertem Nachwuchs ist der Haupt- standortvorteil der ansässigen Unternehmer. Dank ihm können sie wachsen. Und er markiert zugleich das Ende einer verhängnisvollen Tradition. "Wer früher nicht Priester, Arzt oder Anwalt wurde, der musste ja weggehen", sagt Wilhelm Ferlings, der Stadtdirektor im Ruhestand. Ein Aderlass war das, Jahr für Jahr.

Nun strömen Jahr für Jahr neue Leute in die Stadt ­ etwa an die Universität mit ihren gut 14000 Studenten. Auch die würde es ohne Heinz Nixdorf nicht geben. Druck hat er gemacht, in der Stadt, beim Land. Er wollte eine Universität mit Schwerpunkt Informatik ­ er hat sie bekommen, 1972 war das. Zwar schärften damals zunächst die Geistes- und Ingenieurwissenschaften das Hochschulprofil, aber der Grundstein für Nixdorfs Vision war gelegt, durchaus zum Vorteil von Paderborn.

"Da kamen endlich auch mal junge Mädchen in die Stadt", erinnert sich Ferlings. Kneipen machten auf, die Straßen waren voller Menschen. "Hier zog richtig Leben ein, dabei hat man damals geunkt, von wegen die Langhaarigen in unsere Stadt holen und so." Die Betriebsamkeit ist geblieben, Nixdorfs Traum wurde wahr: Jeder Zehnte, der sich heute in Paderborn immatrikuliert, ist ein angehender Informatiker.

Die Universität ist der Inkubator der Stadt. Als Studenten gehen die jungen Leute hinein. Nicht wenige gehen als Unternehmensgründer wieder hinaus ­ vor allem in den 1992 gegründeten Technologiepark. "Wir haben keine 150 Quadratmeter mehr frei", sagt Geschäftsführer Willy Steffens. In seinem Park am Rande der Stadt beschäftigen 92 Unternehmen rund 1150 Menschen, gut 60 Prozent sind Ausgründungen aus der Universität.

Kleine Drei-Mann-Unternehmen sind darunter, aber mit der dspace GmbH ist auch ein echter Platzhirsch dabei. Dspace-Geschäftsführer Herbert Hanselmann hatte vor 20 Jahren keine Lust mehr auf eine Uni-Karriere. "Ich war Akademischer Rat", sagt er, "aber eine Beamtenlaufbahn? Nicht mit mir." Heute ist dspace nach eigenen Angaben Marktführer bei Werkzeugen für die Entwicklung und den Test mechatronischer Systeme, vor allem bei den Innereien eines Autos. Damit macht das Unternehmen 80 Prozent seines Geschäftes. Jeder fünfte der 600 Mitarbeiter in Paderborn kommt von der Hochschule. "Ein Hightech-Unternehmen wie unseres kann es nur an einem Universitätsstandort geben", sagt Hanselmann.

Für dspace mit seinem MechatronikSchwerpunkt ist die Universität ideal. Informatik, Elektrotechnik, Mathematik und Maschinenbau sind dort eng verzahnt ­ genau wie in der Praxis, in der das theoretische Wissen angewandt werden soll. Mit der Verbindung der beiden oft genug getrennten Welten hat die Uni Erfahrung. Schon 1985 setzte sie mit der Nixdorf Computer AG das heutige C-Lab auf, das erste Public-Private-Partnership-Projekt einer deutschen Hochschule überhaupt. Heute ist Nixdorf-Nachfolger Siemens der Industriepartner.

Theorie und Praxis im Labor ­ weil es erdet

C-Lab, Cooperative Computing and Communication Laboratory ­ das sind vor allem viele gläserne Büros, denn IT ist Denkarbeit. Mittendrin ein zimmergroßes Fußballfeld aus grünem Filz, auf dem staubsaugergroße Maschinen einen Ball hin- und herjagen ­ die sensor- und kamerabepackten "Paderkicker" sind die Fußballmannschaft des Labors. Sie sind Sinnbild und Testobjekte für das, worum es im C-Lab geht: technische Systeme, die selbstständig miteinander kommunizieren und ihre Handlungen ohne Einwirkung von außen abstimmen. Das ist absolut alltagstauglich. "Ein Auto ist heute ja ein fahrender Parallelrechner. Nicht mehr lange, dann wird jede Türklinke Informationen verarbeiten", sagt Franz-Josef Rammig, Informatiker der Universität, der das Zentrum zusammen mit Siemens-Mann Wolfgang Kern leitet, der zuvor bei Nixdorf war.

Im C-Lab arbeiten 80 Menschen, jeder Partner bringt 40 Fachleute ein. Informatiker, Ingenieure, Wirtschaftswissenschaftler, Designer und Psychologen. Sie arbeiten zusammen, weil es sie erdet. "Wir Ingenieure können unsere Probleme nicht selbst definieren", sagt Rammig. "Im Universitätsbetrieb gelten Praxisprobleme oft als trivial. Wir hingegen sind gezwungen, Systeme zu entwickeln, die sich auch umsetzen lassen ­ und die Menschen später bedienen können. Das macht uns besser." Umgekehrt wird für Siemens die oft als abgehoben belächelte Wissenschaft zum Geschäftsvorteil. "Alle Unternehmen müssen heute sehr schnell Lösungen anbieten können. Weil wir direkt an der Uni sind, erfahren wir sofort, welche technischen Möglichkeiten es gibt", meint Wolfgang Kern. "Und wir erfahren früh, welche Probleme mögliche Kunden überhaupt haben."

So kommt Siemens auf Ideen für neue Produkte ­ weil das C-Lab auch für Dritte arbeitet. So war es beispielsweise beim Forschungsprojekt "Augmented Reality". Bei diesen Systemen können virtuelle Objekte in reale Welten eingepasst werden, etwa mithilfe einer Datenbrille. Wichtig ist das zum Beispiel bei Wartungsarbeiten für komplizierte Maschinen ­ kein Techniker muss dann noch mühsam dicke Handbücher wälzen. Dank des C-Labs hat Siemens dafür nun eine Lösung.

Auch das jüngste Vorhaben klingt sehr vielversprechend. Für Claas, den Hersteller von Erntemaschinen aus dem nahen Harsewinkel, forscht das C-Lab an einem Computersystem, mit dem fahrerlose Mähdrescher selbstständig das Erntegut auf Feuchtigkeitsgehalt und Reifegrad analysieren können. Anschließend sollen sie diese Daten an eine Zentrale schicken, die daraufhin Befehle zurücksendet, etwa, ob der Mähdrescher weiter ernten soll oder nicht. "Diese Art Datentransfer ist für die Industrie interessant", meint Kern. "Denn was bei Mähdreschern funktioniert, klappt auch bei Straßenbahnen oder Kraftwerken." Beides hat Siemens im Portfolio. "Wenn wir eine Lösung haben, können wir sie für andere Kunden adaptieren", sagt Kern, "das bringt Neugeschäft, mit dem wir unsere C-Lab-Kosten refinanzieren."

Auch für die Stadt bedeutet das Labor einen Standortvorteil. IT ist Denkarbeit ­ das C-Lab zieht Denker an, macht sie zu Könnern. Zu heimatverbundenen Könnern, die nach ihrer Forschungszeit die Belegschaften der Paderborner Unternehmen verstärken. Die können sich auf diesem Weg gut im Markt positionieren, neue Produkte entwickeln ­ und suchen dafür die Kooperation mit der Universität. Inzwischen gibt es an der Paderborner Universität neben dem C-Lab deshalb auch ein L-Lab für technische Fragen des Lichts und ein S-Lab (Software Quality Lab), wo sich unter anderem die S&N AG und dspace gemeinsam mit Forschern um die Qualitätsverbesserung von Software kümmern. Was entsteht, ist ein Kreislauf, an dem alle Beteiligten wachsen: die Firmen, die Uni und die Stadt.

Das ist ganz im Sinne von Heinz Nixdorf ­ dem Mann, der an die Zukunft dachte, weit über seinen Tod hinaus. Das C-Lab hatte er gegründet, um noch zu Lebzeiten für sein Unternehmen praktische Vorteile zu erzielen. Aber Paderborn zu einem weltweit renommierten Zentrum der Informationstechnologie zu machen würde mehr erfordern, das war ihm klar. Deshalb gibt es seit 1987 das Heinz Nixdorf Institut (HNI).

"Wer Kapital hat, soll es auch ausgeben. Kapital ist nicht zum Horten da", hat Nixdorf einmal gesagt. Diesem Spruch ist er treu geblieben ­ und hat mit seinem Vermögen ein Forschungsinstitut ermöglicht, wie es in Deutschland kein zweites gibt. 50 Millionen Mark stellte er nach seinem Tod über eine Stiftung für die Gründung des Instituts zur Verfügung, Land und Bund gaben jeweils genauso viel dazu. Ein wuchtiger Glaskasten an der Fürstenallee ist daraus geworden, gleich neben der ehemaligen Nixdorf-Zentrale, wo heute mit dem Heinz Nixdorf MuseumsForum auch das größte Computermuseum der Welt seinen Platz gefunden hat.

"Heinz Nixdorf hätte seine Freude an uns", sagt Jürgen Gausemeier. "Wir sind ganz auf seiner Spur, weil wir die klassische Industrie mit der Informatik verknüpfen." Gausemeier ist Professor und geschäftsführender Vorstand am HNI, und er interessiert sich vor allem dafür, wie man Informationstechnik in den Produktionsprozess integrieren kann. Also analysiert er Märkte, entwickelt Geschäftsstrategien, entwirft Produktionsprozesse vor allem für mechatronische Geräte und passt IT-Systeme in real existierende Fabriken ein.

Mit Mensch und Maschine

für die Gesellschaft

Gausemeier ist einer von sieben Professoren, die 200 Mitarbeiter um sich scharen. "Uns allen geht es um Produkte, die in der Industrie Arbeitsplätze schaffen", beschreibt er das Ziel des HNI. Seine Kollegen tüfteln Algorithmen aus, damit Maschinen schneller laufen, bauen rechnergestützte Logistiksysteme, entwickeln Lernprogramme, Computerchips, Testverfahren für elektronische Prozesse. Sie schaffen Systeme, die sich selbst optimieren, simulieren den Einsatz von Robotern, basteln an Fühlern für Sportkleidung, die Herzschlag und Atmung messen, bohren mit Ultraschall, kombinieren Computer zu blitzschnellen Rechnernetzen. Und am Ende der Tüftelei denken sie auch noch darüber nach, wie die Maschinen uns Menschen verändern.

Ihr gesammeltes Wissen findet den Weg nach draußen. Zum einen, weil die Forscher den Kontakt zu Unternehmen aktiv suchen. Zum anderen, weil aus dem HNI Firmen entstehen, die das Wissen direkt umsetzen und vermehren. "Wir knobeln die Sachen hier aus, unsere Assistenten nehmen es mit und fangen auf der grünen Wiese an", sagt Gausemeier. Als Verlust empfindet er das nicht, im Gegenteil, mit Aufträgen aus Forschungsprojekten unterstützt der HNI-Vorstand seine Gründer. "Wir sollen ja nicht wie eine Glucke auf dem Wissen sitzen, sondern der Gesellschaft nützen. Und überhaupt ist das doch die beste Vermarktung unserer Entwicklungen."

Im Laufe der Jahre haben sich aus dem Institut 14 Firmen gegründet. Die meis-ten beschäftigen weniger als 20 Mitarbeiter, aber in Summe läppert sich das. Mit der Unternehmensberatung Unity AG ist sogar ein Betrieb mit 125 Beschäftigten entstanden. Unity pflegt auch nach zwölfeinhalb Jahren die Kontakte zum HNI ­ Gausemeier ist Vorsitzender des Aufsichtsrats. Für Unity-Vorstand Christoph Plass ist das Institut praktisch: "Es ist unsere Abteilung für Forschung und Entwicklung." Ganz abgesehen davon, dass er mit dem Ins-titut im Rücken bei potenziellen Kunden schneller die Tür aufkriegt.

Dieser Kaskadeneffekt ist das Besondere an Paderborn. Ohne Heinz Nixdorf würde es ihn nicht gegeben, und vermutlich ist gerade das der Grund, weshalb so mancher vor Ort mitunter ein wenig angestrengt reagiert, spricht man ihn auf den Mann an, der das IT-Virus in die Stadt gepflanzt hat. Ist doch alles schon so lange her, heißt es oft. Aber der Besucher der Stadt kommt nun mal nicht vorbei an diesem Mann. So wenig wie die Bewohner.

Jeden Tag pendeln rund 25000 Menschen nach Paderborn zur Arbeit ­ von der es so viel gibt, auch weil es Heinz Nixdorf hier gab. Wer Sport treibt, tut dies vielleicht im Ahorn-Sportpark, dem Geschenk des sportbesessenen Patriarchen an die Bürger. Dank der Stiftungen, die sein Erbe verwalten, muss bis heute kein Nutzer auch nur einen Cent dafür zahlen. Wer sich für Squash oder Baseball interessiert, weiß, dass die Paderborner Mannschaften seit Jahren die Ligen anführen ­ weil Nixdorf gerade diese Sportler förderte und seine Stiftungen das Engagement fortsetzen. Und wenn die Geschäftsleute heute ab Paderborn fliegen, verdanken sie es eben auch dem seligen Nixdorf.

Im MuseumsForum, das seinen Namen trägt, sitzt Geschäftsführer Norbert Ryska und denkt über seine Stadt nach. Auch er ist ein altgedienter Nixdorfer, was sonst. Alle zwei Jahre treffen sich im ehemaligen Verwaltungsgebäude an die 300 Ex-Kollegen, sogar aus Schweden reisen sie an. Es gibt Leute, die betreiben noch heute ihre Internetseiten mit alten Nixdorf-Systemen. Er selbst habe es ja nicht so mit der Nostalgie, sagt Ryska. "Aber so einer wie Heinz Nixdorf wird in Paderborn nicht noch einmal geboren. Er ist wohl seit der Industrialisierung die bedeutendste Persönlichkeit dieser Stadt."

Fehlt nur noch, dass ihm die Paderborner ein Denkmal setzen. Das haben sie bislang nicht gemacht, und sie haben es auch nicht vor. Undank? Ach was, das ist ein gutes Zeichen. Der ehemalige Stadtdirektor Wilhelm Ferlings zweifelt jedenfalls nicht: "Paderborn hat heute zwar keinen Fixstern mehr, aber dafür ganz viele Treiber, die bestimmen, wo es langgeht.

Handfeste Hilfe

Von der Idee bis zur Realität dauert es oft zu lange. Ein Probelauf in der virtuellen Welt hilft, schneller zu werden.

Virtual Prototyping & Simulation (VPS) ­ das klingt kompliziert, bewirkt aber genau das Gegenteil, etwa bei der Produktentwicklung. Mit Virtual Prototyping können Rechnermodelle von künftigen Produkten gebildet und analysiert werden. Das spart Zeit und Geld, weil es den Bau realer Modelle über-flüssig macht. Die virtuelle Simulation geht noch einen Schritt weiter. Beispiel Waschmaschine: Soll eine neue Komponente, etwa ein Sensor, in eine Maschine gebaut werden, lässt sich vorher am Computer prüfen, ob das Neue gut zum Alten passt. Fügt es sich in die Lücke? Gerät es nicht zu sehr in Schwingung? Ein solcher Test ist weit weniger aufwendig als ein Probelauf mit echten Prototypen. Und das gilt nicht nur für Produkte, sondern auch für Prozesse: Entwicklung, Produktionsplanung, Vertrieb ­ auch dabei können Firmen von VPS profitieren.

In der Autoindustrie und im Flugzeugbau sind die Verfahren heute Alltag ­ nicht aber im produzierenden Mittelstand. Um das zu ändern, kooperiert das Heinz Nixdorf Institut mit dem 171 Unternehmen starken Firmennetzwerk "OWL Maschinenbau". Die Partner haben im September 2006 das Kompetenzzentrum ViProSim gegründet. Das leistet praktische Hilfe, will ein Unternehmen VPS einsetzen.

ViProSim vermittelt interessierte Firmen an geprüfte Anbieter von VPS-Technik, organisiert Fachtreffen mit praxiserfahrenen Unternehmern und veranstaltet Weiterbildungskurse. Der "Quick Check" liefert eine Analyse des eigenen Betriebs: Dafür überprüfen die Experten drei Tage lang die Prozesse eines Unternehmens, modellieren sie im Computer nach und erarbeiten eine Liste mit Verbesserungsvorschlägen ­ ohne Verkaufsdruck.

OWL ViProSim e.V. / www.viprosim.de