Bürokratieabbau in Ostwestfalen-Lippe

Hierzulande regeln viereinhalbtausend Gesetze mit mehr als hunderttausend Einzelvorschriften das Zusammenleben. Das nennt man Bürokratie. Es geht auch anders. Wenn alle mitziehen. Eine deutsche Region steht Modell dafür.




Die Sache mit der Küche hätte ihn in den Wahnsinn treiben können. Es war eine Gewerbeküche, für Soldaten, es sollte eine Gewerbeküche bleiben, für einen Pizza-Service. Kein Ding, dachte sich Friedrich-Wilhelm Hillbrand ­ bis er bei den Behörden um Genehmigung fragte. Elf Ämter kümmerten sich neun Monate lang intensiv um den Fall. Eines wollte glatte Fliesen, wegen der Hygiene, ein anderes wollte geriffelte, wegen der Rutschgefahr.

Oder die Sache mit den Abfalltanks. Die drei blauen Behälter waren eigentlich stehend geplant. Leider wären sie dann ans Dach gestoßen, weshalb Hillbrand liegende Behälter kaufte. Identische Füllmenge, identische Sicherheitsstandards ­ aber erst genehmigt nach 3,5 Jahren und einem Streit vor dem Verwaltungsgericht.

Friedrich-Wilhelm Hillbrand kann viele solcher Beispiele liefern. Sie stammen alle aus der Zeit, als der Entsorgungs-unternehmer aus Porta Westfalica eine von den Briten verlassene Kaserne in Löhne zu einem Gewerbepark umbaute. Der Unternehmer wollte aus Büroräumen neue Arbeitsplätze machen ­ aber ein Fliesenleger ist kein Steuerberater ist kein Designer ist kein Personal-dienstleister. "Für jeden geplanten Mieter musste ich eine neue Nutzungsänderung beantragen", stöhnt Hillbrand ­ was mitunter monatelang dauerte, weshalb ihm Interessenten absprangen.

Rückblickend war das gesamte Projekt ein Horror. Aber damals, 1998, war Ostwestfalen-Lippe auch noch eine Region, wie es viele gab und gibt in Deutschland: eine bürokratisch bis ins Kleinste geregelte Gegend, in der sich Unternehmer mit der Machete durch den Dschungel schlagen ­ oder drin stecken bleiben.

Allein auf Bundesebene gibt es rund 1800 Gesetze mit 55555 Einzelvorschriften sowie gut 2700 Rechtsverordnungen mit knapp 45000 Einzelvorschriften. Dazu addieren sich zahllose Regeln und Vorschriften der Länder. Unternehmer unterliegen fast 11000 Informationspflichten ­ sie sammeln Daten zum Düngemitteleinsatz, heben Zeitungsinserate auf, melden Krankentage, führen Betriebstagebücher über die Altholzentsorgung. Nur der Aufwand zur Einhaltung der Informationspflichten summiert sich hierzulande auf schätzungsweise 40 Milliarden Euro pro Jahr.

Inzwischen läuft Hillbrand entspannt über seinen windgepeitschten Gewerbepark, auf dem 60 Menschen Arbeit finden, inmitten der Äcker bei Löhne. "OWL ist inzwischen anders als der Rest der Republik", sagt er, und das kann er belegen. Vor dreieinhalb Jahren übernahm Hillbrand seine zweite Kaserne bei Lübbecke, keine Genehmigung dauerte länger als zwei Monate. Den alten Flugzeughangar konnte er sogar innerhalb von zwei Wochen zum Holzhäckselspeicher umnutzen ­ er musste es nur anzeigen beim Amt, das meldete sich innerhalb von 14 Tagen nicht zurück, also galt die Sache als genehmigt. "Ohne den Bürokratieabbau wäre das niemals möglich gewesen", sagt Friedrich-Wilhelm Hillbrand.

Keine Macht ­

aber viele gute Ideen

Was ist passiert in OWL, dem Landstrich, den der Verwaltungsprofessor Hermann Hill aus Speyer als "die Wiege des Bürokratieabbaus" in Deutschland bezeichnet?

Wer die Antwort sucht, muss am Bielefelder Jahnplatz im fünften Stock eines schlachtschiffartigen Hauses aus rotem Backstein anfangen. Dort hatte bis zu seiner Pensionierung Ende 2007 Jürgen Heinrich sein Büro, der Projektkoordinator Modellregion bei der OWL-Marketing GmbH. Seit 1992 gibt es dieses Gemeinschaftsunternehmen, jeweils zur Hälfte getragen von Kreisen und Unternehmen der Region. Wenn OWL die Wiege des Bürokratieabbaus ist, ist Jürgen Heinrich der Geburtshelfer.

"Marketing haben wir zunächst nur als Werbung verstanden", sagt er. Auf Messen gehen, Innovationspreise verleihen, die Region im Landtag vorstellen ­ das gehört zum klassischen Repertoire. Doch Heinrich wollte mehr. "Modernes Marketing bedeutet nicht nur, zu zeigen, was ist, sondern das, was ist, auch zu verbessern." Mehr Verbesserungspotenzial als im diffusen Geflecht aus Vorschriften, Regeln und Verordnungen lässt sich kaum finden, das Thema lag also nahe, Jürgen Heinrich machte es zu seinem Schwerpunkt. Am Anfang noch vorsichtig, "einfach mal probieren", beschreibt er sein Motto. Eigentlich wollten die OWL-Marketer die Expo in die Region holen, was bekanntlich nicht klappte. "Aber den Schwung wollten wir nutzen", sagt Heinrich. Für etwas, das die Region auch über die Zeit einer Weltausstellung hinaus stärkt: weniger Regeln. Und eine schnellere, einfachere Handhabe bestehender Gesetze.

Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Schließlich wird der überwiegende Teil der Gesetze auf Bundesebene und bei der Europäischen Union gemacht. "Eigentlich haben wir keine Macht und sind nicht zuständig", meint Heinrich. Aber was soll's? Man kann ja zumindest mal Vorschläge machen.

Nur welche? Wie viele der zigtausend Vorschriften sind wirklich verzichtbar? Und wie könnte es besser gehen? Jürgen Heinrich und seine Kollegen haben zunächst einmal die gefragt, die es wissen könnten: Rund 2500 Unternehmer und 1500 Verwaltungsmitarbeiter gaben im Jahr 2002 zu Protokoll, was sie gern geändert hätten. Etwa 400 Vorschläge kamen zurück. "Und dann wurde es schrecklich mühsam", erzählt Heinrich. "Alle, auch die Unternehmer, mussten konkret werden. Das übliche Geschwätz haben doch alle längst satt."

Friedrich-Wilhelm Hillbrand nennt das, was dann kam, eine Sisyphos-Arbeit. Er saß von Beginn an in der "Lex OWL", einem Kreis von sieben Personen, die herausfilterten, was wirklich relevant ist. Immer wieder, vier Jahre lang, trafen sich die Unternehmer, Kreisdirektoren und ein Mitglied der Bezirksregierung, um stundenlang zu debattieren und sich auf Vorschläge zu einigen. In dem Gremium waren sämtliche politischen Farben vertreten und auch die kleinen, abseits liegenden Gemeinden. Und doch gab es Fronten, erzählt Hillbrand, "das sah man schon an der Sitzordnung". Die einen sahen im Gegenüber Paragrafenreiter, für die anderen waren die Unternehmer Leute, die sie zum Handlanger degradieren wollten. "Aber wir hatten das Gefühl, wir machen hier etwas Großes", sagt Hillbrand, "deshalb haben wir durchgehalten." Jeder Teilnehmer versah jeden Vorschlag mit seiner Priorität ­ was keine Mehrheit fand, wurde gestrichen, alles andere lange diskutiert. "Und wir haben nur genommen, was wirklich Chancen auf Umsetzung hatte", sagt der Unternehmer.

Keine Reaktion vom Amt?

Genehmigt!

Dreimal haben sie Vorschläge an das Land Nordrhein-Westfalen geliefert ­ das sich bereits 2004 mit dem "Bürokratieabbaugesetz OWL" revanchierte. Ostwestfalen-Lippe wurde zur Modellregion, durfte drei Jahre lang Regeln verändern, die woanders unantastbar waren. Insgesamt 27 kleine, aber nervige Vorschriften wurden vereinfacht: Kein Unternehmer muss sich simple Umnutzungen von Gebäuden genehmigen lassen ­ er zeigt sie nur an. Reagiert das Amt nicht innerhalb von zwei Wochen, ist das eine Genehmigung. Werbefahnen darf man einfach so flattern lassen. Wer einen Betrieb an einer Zufahrtsstraße hat, darf schneller erweitern als bisher. Waldabstandsflächen werden flexibel gehandhabt. Öko-auditierte Unternehmen werden seltener überwacht. OWL wurde zum Treiber für Nordrhein-Westfalen, das Bundesland hat sämtliche Änderungen übernommen, für einen landesweiten Test bis 2010.

Mit dem Bund war es komplizierter. Eigentlich sollten OWL, Bremen und Westmecklenburg schon ab 2003 Testregionen für Regelvereinfachungen in ganz Deutschland werden ­ so wollte es der damalige Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement. Durchsetzen konnte er sich im Geflecht aus Ministerien und Bundesländern allerdings nicht. Das Hauptgegenargument: Die Erleichterungen würden diese Regionen zu Sonderwirtschaftszonen machen, das führe zu Wettbewerbsverzerrungen innerhalb des Landes. Außerdem seien viele Vorschläge nicht mit Bundes- oder Europarecht vereinbar. Clement wählte die Notlösung: Er speckte die Vorschlagsliste ab und setzte den Rest gleich bundesweit um. Ein klägliches Ergebnis. "Wir waren echt sauer", sagt Jürgen Heinrich im Büro der OWL-Marketing GmbH.

Sie haben trotzdem weitergemacht, beim Bund neue Vorschläge eingereicht und gehofft, mit dem Regierungswechsel käme wieder Schwung in ihr Thema. Zu Recht. "Was die Unternehmen drückt, kriegt man in Berlin sonst gar nicht mit", sagt Friedrich Wilhelm Haug, zuständig für Bürokratieabbau im Bundeswirtschaftsministerium. "Durch die Vorschläge aus den Regionen werden wir hier geerdet."

Ministerialrat Haug hat in seiner Laufbahn schon zahllose Hinweise zur Verbesserung bekommen ­ die meisten sind unbrauchbar. Mit Ideen wie "das Steuerrecht vereinfachen" kann auch der gutwilligste Beamte wenig anfangen. Die Ostwestfalen hingegen haben rund 30 Prozent ihrer Ideen durchbekommen, erzählt Haug. "Was die machen, bleibt. Denn sie haben schon vorher nach Kompromissen gesucht, und ihre Vorschläge sind konkret."

Zwei Mittelstandsentlastungsgesetze hat die Bundesregierung verabschiedet, in die auch 19 Vorschläge aus OWL eingeflossen sind: So braucht etwa ein Fitnessstudiobetreiber keine Gaststättenerlaubnis mehr, wenn er alkoholfreie Getränke ausschenken will. Immobilienmakler müssen ihre Inserate nicht mehr archivieren. Baufirmen müssen sich nur noch einmal im Jahr zertifizieren lassen und nicht mehr wie früher bei jeder Ausschreibung Nachweise vorlegen. Das gilt bundesweit.

Das klingt nach Kleinkram, doch allein durch diese umgesetzten Vorschläge sparen die Unternehmen in OWL sechs Millionen Euro im Jahr, zeigt eine Modellrechnung des Bielefelder Beratungsunternehmens NordWest Consult. Die Rechnung ist übrigens die erste direkte Bürokratiekostenmessung in Deutschland über das Standardkostenmodell (SKM). Dabei wird die zur Erfüllung einer Informationspflicht aufgewendete Zeit mit den Lohnkosten multipliziert ­ das Ergebnis ist ein konkreter Geldbetrag. Inzwischen ist SKM auch ein scharfes Schwert der Bundesregierung beim Bürokratieabbau, die mit dem Nationalen Normenkontrollrat im September 2006 ein Gremium geschaffen hat, das jedes neue Gesetzesvorhaben auf damit verbundene bürokratische Kosten prüft. Bis zum Jahr 2011 sollen die Bürokratiekosten im Land um 25 Prozent gesenkt werden. OWL fungiert bei dem Plan als Partnerregion ­ 15 Unternehmen sind direkte Ansprechpartner für den Kontrollrat. Sie werden ihm berichten, wie die Gesetze im Alltag eines Unternehmers wirken.

Komplizierter Bauantrag?

Der Beamte weiß, wie es geht

Aber Gesetze sind nur die eine Seite der Medaille. Was Bürgern und Unternehmern das Leben erschwert, ist vor allem ihre Umsetzung, also das tägliche Verwaltungshandeln. Eine träge Behörde kann aus jedem noch so vernünftigen Gesetz einen Mühlstein schlagen für den Hals des Unternehmers. "Bürokratieabbau misst sich nicht in der Anzahl der Gesetze", meint deshalb auch Entsorgungsunternehmer Hillbrand. "Die echten Schwierigkeiten für Firmen entstehen zu 80 Prozent durch ihre Hand- habung."

Wie aber bringt man Verwaltungen auf Trab? Nun, anders als bei der Sache mit den Gesetzen ­ nämlich dezentral. "Das hat sich alles unabhängig entwickelt", sagt Jürgen Heinrich. "Man darf auf keinen Fall irgendwelche Berater durch die Ämter schicken. Das provoziert nur Widerstand." Lässt man Beamte und Angestellte hingegen ihr eigenes Ding machen, tut sich was ­ in Genehmigungsbehörden, im Finanzamt, vor Gericht. Also überall dort, wo Bürger und Unternehmer nur zu oft die Behäbigkeit der Bürokratie beklagen.

Wer einen Unternehmer nach seinem größtem Problem mit Behörden fragt, bekommt fast immer zur Antwort: Baugenehmigungen. Hans-Dieter Tenhaef aus Vlotho-Exter hingegen winkt beim Stichwort Bauamt lässig ab. "Ich gebe meinen Antrag ab, und dann weiß ich, dass es klappt. Ich kann mich zurücklehnen und mich um mein Geschäft kümmern."

Tenhaef ist Geschäftsführer der Moderne Industrie Technik GmbH (MIT) ­ 51 Fachleute produzieren dort stählerne Armaturen und Systemlösungen für die Nahrungsmittelindustrie, für Wasserverteiler, für Schiffe, für Schweißtechnik, zum Mischen, Durchleiten, zur Temperaturregelung. MIT wächst. Deshalb musste Tenhaef im Jahr 2006 seine Fabrik um 380 Quadratmeter erweitern ­ ein Vorhaben, für das ein Antrag nötig ist, der anderswo nicht selten ein halbes Jahr bearbeitet und am Ende doch abgeschmettert wird.

Tenhaef bekam seine Genehmigung nach sechs Wochen, "und zwar genehmigt wie beantragt". Dabei war sein Fall nicht gerade Standard: Gleich nebenan beginnt ein Wohngebiet. Er plante mit 30 neuen Arbeitsplätzen, für die musste er Autostellplätze nachweisen, dabei war sowieso kaum Platz auf dem Gelände. Auch mit den Abstandsflächen zu den Anrainern wurde es eng.

"Das Vorhaben hätte auch einfach abgelehnt werden können", meint Klaus Goeke, der zuständige Wirtschaftsförderer beim Kreis Herford. "Aber die Verwalter haben nach Wegen gesucht, den Bau trotzdem zu ermöglichen." Statt stur nach Vorschrift zu gehen, gaben sie Tipps, wie sich die Vorgaben erreichen lassen. Etwa, dass der Nachbar die Baulast übernehmen könnte, indem er verspricht, seinerseits bei einem Ausbau Abstand zu halten. Oder dass die für den Flächenfraß notwendigen Ausgleichs-Bäume auch auf dem Nachbargrundstück gepflanzt werden könnten. Das erwies sich am Ende als gar nicht nötig. Entscheidend aber ist: Die Verwaltung hat nicht behindert, sie hat möglich gemacht.

Dabei geholfen hat die entsprechende Haltung. Und "Widufix", das Behördennetzwerk im Kreis Herford, benannt nach dem sächsischen Adeligen Widukind, der im 8. Jahrhundert gegen Karl den Großen focht. Die Grundzüge von Widufix sind schnell skizziert. Die Verwaltung gibt Zeitgarantien für die Bearbeitung einer Anfrage durch ein kleines oder mittleres Unternehmen: Spätestens 48 Stunden nach deren Eingang erfolgt ein Rückruf des Sachbearbeiters. Innerhalb von fünf Tagen treffen sich die Zuständigen der beteiligten Ämter zu einem Vor-Ort-Termin ­ falls nötig. Nach spätestens acht Wochen ist über den Antrag entschieden. "Bei Widufix denke ich immer an die Heinzelmännchen, die arbeiten, ohne dass es jemand mitkriegt", sagt Paul Bischof, der Leitende Kreisrechtsdirektor des Kreises Herford. "Auch unsere Verwaltung soll im Hintergrund wirken." Im Kreis arbeiten 17 Behörden mit den Kommunen still und effektiv zusammen.

So kompliziert ist das gar nicht. Jeder Widufix-Antrag landet zuerst beim Wirt- schaftsförderer des Kreises. Der kennt die Verwaltung genau und leitet den Antrag punktgenau weiter. Schon das spart Zeit. In den Ämtern werden die Anträge nicht linear weitergeleitet, sondern sofort an alle beteiligten Stellen verteilt. Das Wichtigste aber ist: Die Anträge bleiben nicht auf den Schreibtischen liegen. "Die eigentliche Prüfung geht schnell", sagt Bischof, "der Knackpunkt ist die Zeit dazwischen."

Mehr Disziplin ­

weniger Konflikte

Die Nuss geknackt haben sie, weil sie sich zur Einhaltung der Zeitgarantien verpflichtet haben. "Das führt auch zu Selbstdisziplin", sagt Bischof. Aber nicht zu mehr Arbeit: Ob Veterinäre, Wasserrechtler, Arbeitsschützer oder Umweltamtler ­ alle wissen, wann die Zeit abläuft, und handeln entsprechend. Weitgehend selbstständig, indem sie ihren persönlichen Zeitplan umstellen, sich Zeitfenster schaffen und sich auch auf dem kurzen Dienstweg abstimmen, statt den offiziellen zu nehmen. Das geht, seit sie einmal klar herausgefunden haben, wer für was wirklich zuständig ist, wann man tatsächlich ein Gutachten braucht und wann was erledigt sein muss, etwa die Prüfung des Antrags auf Vollständig- keit. "Eine individuelle, abgestimmte Arbeitsorganisation ist das Entscheidende", sagt Paul Bischof. Und erst Widufix macht sie sinnvoll, denn nur in einem System mit festen Zeiten hat ein Sachbearbeiter die Grundlage für seine eigene Planung. Schließlich kann er sich darauf verlassen, dass sein Kollege ihm zu einem bestimmten Zeitpunkt zuarbeiten wird. Statt zu warten, kann er sich darauf einrichten.

Das neue System ist allerdings nicht nur eine Frage des Könnens, sondern auch des Wollens. Denn eine widerwillige Organisationskultur kriegt jede Veränderung klein. Paul Bischof hat seinen Verwaltungsumbau deshalb schlau eingefädelt. "Widufix ist ein soziales Netzwerk", sagt er, "keines mit klein karierten Vorschriften. Widufix funktioniert nur durch Verständnis." Der Kreisrechts- direktor hat intern dafür geworben. Viel erklärt, viel geredet. Darüber, dass ein Kreis ohne die Unternehmer auch keine Verwaltung braucht. Dass die Kinder der Verwalter florierende Firmen brauchen, um einen Ausbildungsplatz zu bekommen. "Wir sind Teil des Produktions- prozesses", sagt Paul Bischof, "und wir bieten Mehrwert."

Bischof hat seine Sachbearbeiter nicht angegriffen, sondern sie an ihrer Fachlichkeit gepackt ­ "denn jeder ist von seiner Arbeit überzeugt". Ganz bewusst hat er Kompetenzen nicht gebündelt nach dem Ein-Ansprechpartner-Prinzip, sondern jedem seine Arbeit gelassen. So blieb der Einzelne wichtig, keiner musste sich ungeliebten Schulungen unterziehen ­ und jeder fühlt sich zu Recht als Treiber der gesamten Region.

Die Vorteile des Umbaus sind längst auch intern spürbar. Glatte Prozesse, weniger Wartezeiten, keine nervenden Unternehmer am Telefon. "Auch Verwaltungsmenschen haben gern Spaß bei der Arbeit", meint Bischof. "Widufix funktioniert aus Selbstinteresse. Das ist der Schmierstoff des Ganzen." Mittlerweile haben vier weitere Kreise in der Region ähnliche Projekte umgesetzt. Kreisrechtsdirektor Bischof möchte Widufix ausdehnen auf private Bauanträge und die Ausländerbehörde.

Der Steuerprüfer kommt ­

wie schön

Sich als Teil des Ganzen begreifen, dem anderen das Leben erleichtern und dabei auch die eigenen Vorteile sehen ­ so lautet die Kurzform des Rezeptes, mit dem es die Verwalter in OWL zu einem Miteinander zwischen Wirtschaft und Behörden gebracht haben. Das gilt sogar bei der Steuerprüfung. Heute gibt es Unternehmer, die sich freuen, wenn der Prüfer ins Haus kommt ­ obwohl er vor Ort neuerdings häufiger klingelt.

Auf den ersten Blick wirkt das Projekt "Zeitnahe Betriebsprüfung" (ZBP) des Bielefelder Finanzamts für Groß- und Konzernbetriebsprüfung eher wie Bürokratieaufbau statt -abbau. Statt wie üblich ein Unternehmen alle vier bis fünf Jahre unter die Lupe zu nehmen, rücken die Betriebprüfer inzwischen jedes Jahr an. Trotzdem sagt Thomas Gössling, der Kaufmännische Leiter des Armaturenherstellers ARI in Schloss Holte-Stukenbrock: "Wir wollen auf keinen Fall wieder zurück ins alte System."

Aus Gösslings Warte macht die häufige Prüferei Sinn. ARI ist groß, mit rund 100 Millionen Euro Umsatz pro Jahr. In einer Betriebsprüfung werden sämtliche Geschäfte durchleuchtet. Je seltener man das macht, desto größer werden die zu prüfenden Zeiträume.

"Früher gab es dann immer Heidenalarm in der Firma", erinnert sich der Kaufmännische Leiter. Bis zu sechs Wochen dauerten die Prüfungen, Gösslings Leute mussten im Archiv mühsam die Unterlagen zusammensuchen, das Klima war angespannt. Vor allem aber trug das Unternehmen ein enormes finanzielles Risiko. Steuerrelevante Aspekte wie Abschreibungen, Pauschalen oder Rückstellungen sind gesetzlich schließlich nicht immer eindeutig geregelt ­ die Folge sind Steuernachzahlungen. "Und wenn man in den Augen des Finanzamts über mehrere Jahre etwas nicht richtig gemacht hat", sagt Gössling, "dann können da existenzbedrohende Summen herauskommen."

Gut ist, was dem Bürger nützt ­

und der Behörde

Die zeitnahe Betriebsprüfung minimiert dieses Risiko, weil sie den zahlungsrelevanten Zeitraum begrenzt. Das ist der Blick zurück. Nicht minder wichtig ist jedoch der Blick nach vorn. Im deutlich entspannteren Klima zwischen Firma und Prüfer können sich beide Seiten über das kommende Geschäftsjahr abstimmen, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden oder steuerlich schlau zu handeln. Da geht es um Abschreibungsdauern ­ wichtig etwa für die Entscheidung, ob man neue Hardware kaufen oder leasen sollte. Oder darum, wie sich die Anlaufverluste von ausländischen Tochterunternehmen steuermindernd in Deutschland ausgleichen lassen ­ beispielsweise über Vertriebskostenzuschüsse. "Wir sind nicht immer einer Meinung, aber wenn wir uns schon vorab mit dem Finanzamt einigen, wissen wir, da kommt nichts nach", meint Gössling.

Das neue Verfahren bedeutet Planungssicherheit. Eine Kuschelprüfung ist die ZBP nicht. Es wird nicht weniger geprüft, nur anders. Und nach etwa drei Wochen ist der Prüfer wieder weg. Mehraufwand für das Unternehmen? "Nein", sagt Gössling, "Kaffee und einen Raum, mehr müssen wir nicht bieten. Dass es diese Form der Betriebsprüfung nicht überall gibt, liegt sicher nicht an den Unternehmen."

Tatsächlich hat auch das Bielefelder Finanzamt mehr Anfragen, als es bewältigen kann. Die Behörde fing 2002 an, zeitnah zu prüfen ­ als erstes Finanzamt in Deutschland. Mittlerweile haben einige andere Ämter nachgezogen, flächendeckend gibt es das System aber noch lange nicht. Für Finanzamtsleiter Kurt Elberg tun sich die Zauderer keinen Gefallen. "Auch wir haben schließlich nur Vorteile", meint Elberg.

Eigentlich logisch. Die Prüfungen gehen schneller, weil der Rechercheaufwand sinkt. "Deshalb können wir insgesamt mehr Firmen prüfen und uns intensiv um die Risikokandidaten kümmern", sagt Elberg. Prüfberichte sind schneller geschrieben ­ denn falls das Finanzamt einen Fehler gemacht hat, muss die Prüfung nur für ein Jahr korrigiert werden. Hat ein Unternehmen Töchter im Ausland, sinkt durch die zeitnahe Betriebsprüfung das Risiko, dass ein ausländisches Finanzamt zuerst zugreift. Und die Stimmung zwischen Unternehmern und Prüfern ist deutlich besser ­ so macht die Arbeit mehr Spaß. Inzwischen arbeitet bereits ein Viertel aller Bielefelder Prüfer nach dem neuen System, in rund 300 Betrieben ab einem Jahresumsatz von 50 Millionen Euro. Nicht mehr lange, dann soll die zeitnahe Betriebsprüfung Routine für alle sein. Mit Widerstand ist nicht zu rechnen, weder intern noch bei den Unternehmen.

Konfliktlösung

bei Kaffee und Keksen

Kooperation statt Krieg ­ eigentlich ist es recht einfach, die Bürokratie auf ein sinnvolles Maß zurechtzustutzen. Und wer sich einmal darauf eingelassen hat, auch das belegen die OWL-Initiativen, der kann mit den alten Spielregeln sogar brechen, wo Streit eigentlich Programm ist: vor Gericht, wo sich Bürger und Unternehmer per definitionem in die Haare kriegen.

In Ostwestfalen-Lippe werden Konflikte seit einiger Zeit mithilfe der Mediation geschlichtet. Die gemeinsame Suche nach einer Lösung im Streitfall mithilfe eines Vermittlers ist nicht neu. Ungewöhnlich vor Ort ist jedoch die Art und Weise der Schlichtung: Der Vermittler ist ein Richter, und die Sanktionsmöglichkeiten der Gesetze spielen keine Rolle.

Insa Menke hat gerade einen typischen Termin hinter sich. Sie ist erschöpft, mehr als zwei Stunden lang saß die Rich- terin bei Kaffee und Keksen zwischen einem Fliesenleger und einem Bauherrn, in einem kleinen Zimmer im ersten Stock des Landgerichtes Paderborn. "Das war ein hartes Stück Arbeit", sagt sie ­ und ein ganz typischer Fall: Der Fliesenleger lieferte nicht die richtigen Badfliesen, der Bauherr verweigerte die Zahlung für bereits erledigte Arbeiten. Der Fliesenleger klagte.

"Vor Gericht hätte sich das ein gutes Jahr hinziehen können", schätzt Menke, "und das nur in erster Instanz." Sie hat zugehört, die Streitenden immer wieder auf die Spur gesetzt, zwischendurch sogar den Abbruch der Mediation angeboten. Am Ende haben sie sich geeinigt: Der Bauherr sucht die Fliesen selbst aus, der Fliesenleger verspricht, vier Wochen später fertig zu sein. Falls einer wortbrüchig wird, haben sie gegenseitig Strafgelder vereinbart. Das ist eine Lösung, die kein Gesetz vorsehen kann. "In der Mediation hat man viel mehr Möglichkeiten", sagt Insa Menke, "und für mich ist es schön, wenn sich die Leute einigen. Denn ich habe meinen Anteil daran."

Die Mediation ist Teil des "Justizmodells in OWL", das die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen im Zuge der "Modellregion OWL" aufsetzte. Grundsätzlich gilt: Bei jeder geeigneten Zivilrechtsklage werden die Kontrahenten vor dem Prozess auf die Alternative Mediation hingewiesen. Stimmen sie zu, wird der Prozess zunächst ausgesetzt. Ist das Verfahren erfolgreich, war's das. Scheitert die Mediation, folgt der Prozess wie üblich.

Prozess war gestern ­

Mediation ist morgen

Am Landgericht Paderborn vermitteln die Richter seit Anfang 2005, auch die Landgerichte Detmold und Bielfeld, das Verwaltungsgericht Minden sowie einige Amtsgerichte machen inzwischen mit. Von allen Zivilrechtsklagen wurden in Paderborn 2005 rund 20 Prozent für die Mediation vorgeschlagen, hauptsächlich Konflikte am Bau, Erbstreitereien, Ärger bei Warenkäufen. In rund 60 Prozent dieser Fälle wählten beide Kontrahenten die Alternative zum Prozess. Drei Viertel aller Mediationen enden mit einer Einigung. In den ersten beiden Jahren des "Justizmodells in OWL" waren das am Landgericht Paderborn 316 gelöste Probleme.

Die Vorteile für die Streitenden sind immens. Sie kommen schneller zum Ziel ­ meist reicht ein einziger Termin, und den bekommt man innerhalb von 14 Tagen. Sie haben ihre Lösung gemeinsam gefunden ­ so können auch zerstrittene Geschäftspartner weiter gemeinsam Aufträge abwickeln. "Und sie können in einem solchen Gespräch ein für alle Mal Missverständnisse und Stolpersteine ausräumen", sagt Gregor Loos, Richter und Mediator am Paderborner Landgericht. "In einem Prozess geht es immer nur um das Vergangene, eine Mediation ist zukunftsgerichtet." Das Modell ist so erfolgreich, dass die Gegner bei Gericht mittlerweile nach einer Mediation fragen, noch bevor überhaupt Klage eingereicht ist. Bald soll es das Angebot in ganz Nordrhein-Westfalen geben.

Und genau wie bei den anderen Reform-Initiativen, gilt die Regel auch hier: Es profitieren beide Seiten, die Öffentlichkeit genau wie die Behörde. Jeder gelöste Mediationsfall ist ein Prozess weniger ­ und die Prozesse mit ihren Terminen, Schriftsätzen, Gutachten und Gegengutachten sind es, die wirklich Zeit binden. Ein Zivilrichter am Paderborner Landgericht ist für knapp 500 Fälle pro Jahr zuständig. Jeder Konflikt, der nicht eskaliert, ist also auch für ihn ein Segen.

Hinzu kommt: Wer sich in einer Mediation einigt, kann nicht mehr die nächsthöhere Instanz anrufen ­ das entlastet den juristischen Apparat insgesamt. Zudem macht das Verfahren nicht nur die Streitenden, sondern auch den Richter zufriedener. "Man lernt viel dabei", sagt Insa Menke. Aktiv zuhören, nachfragen, herausfinden, was die Leute wirklich wollen, den eigenen Vorurteilen nicht erliegen. Dieses Wissen nützt den Juristen auch in Prozessen. "Die Atmosphäre im Gerichtssaal wird besser", meint Menke. "Das ist gut, denn kein Richter hat Spaß an Konfrontationen."

Mit Finanzbeamten, Verwaltungsangestellten, Lokalpolitikern, Bürgern oder Unternehmern ist das nicht anders. Das ist ja das Schöne daran: Der Bürokratieabbau ist endlich mal ein Verfahren, das allen nützt.