Neue Strahlkraft

Was tun mit einem Kernkraftwerk, das keiner mehr will? Am Niederrhein haben ein Niederländer und eine Stadt aus dem Schnellen Brüter einen Freizeitpark gemacht. Heute hat die Region ein Wunderland. Und Kalkar nicht länger ein Image-Problem.




Es ist Abend, als Hennie van der Most vor den Stadtrat tritt, er ist als Letzter dran. Die Männer schauen skeptisch auf den hochgewachsenen Holländer. Sie haben heute schon einiges gehört. Ein Unternehmer hat vorgeschlagen, aus der riesigen Bauruine vor der Stadt eine Dachziegelfabrik zu machen, für Lagerhallen plädierte ein anderer. Immerhin: Es waren professionelle Vorträge mit Overhead-Projektor und Schautafeln. Hennie van der Most hat nichts dabei. Keine Unterlagen, keine Pläne ­ nur eine verrückte Vision.

In seinem kräftigen, kehligen deutsch-niederländischen Singsang entwirft er den Stadtvätern eine bunte Welt voll jauchzender Kinder, Karussells und glücklicher Eltern. Ein Freizeitpark! "Wir nennen ihn Kernwasser-Wunderland!" Die Stadträte sind sprachlos, klopfen zustimmend auf den Tisch. Van der Most kennt die Geste nicht, wertet sie als Missbilligung, schwächt ab: Na gut, man könne es auch einfach Wunderland nennen. Immer noch staunende Gesichter, der Niederländer setzt nach: "Nächste Woche steht ein Bus auf dem Marktplatz. Ich lade Sie alle ein, sich meine Freizeitanlagen anzuschauen." So fährt der Stadtrat von Kalkar Tage später über die Grenze, sieht jauchzende Kinder in einer umgebauten Textilfabrik und glückliche Familien in einem ehemaligen Krankenhaus. Van der Most bekommt den Zuschlag.

Dreizehn Jahre ist das jetzt her. Der Niederländer hat seine Vision wahr gemacht. Wo sich einst Atomkraftgegner und Polizei blutige Schlachten am Bauzaun lieferten, schieben sich heute fröhliche Besucher durch die Gänge. Aus ganz Deutschland und aus den Niederlanden reisen sie an: Familien mit Kindern, Singles, Kegelclubs und Tagungsgäste. Es ist vielleicht nicht der feinste und auch nicht der teuerste Vergnügungspark des Landes geworden. Aber er rechnet sich. Für die Besucher, die Macher und für die Region. Kalkar hat aus einer der spektakulärsten Bauruinen Europas eine Touristenattraktion gemacht.

Von Weitem erinnern nur noch die Umrisse an seine ruhmlose Vergangenheit. Geschützt durch den altertümlich anmutenden Wassergraben und den überwachsenen Bauzaun liegt er da, der Schnelle Brüter, der in den Siebzigern in die deutsche Geschichte einging. Aus der Nähe erkennt man auf dem breiten Kühlturm eine bunte Alpenlandschaft, die Kletterer besteigen können, aus seinem Inneren wächst ein gigantisches Kettenkarussell. In seinem hohlen So-ckel fahren Elektroboote durch Kanäle. Um den Turm schlängeln sich Asphaltwege durch einen Park, vorbei an kleinen Fahrgeschäften. Es gibt eine Wildwasserbahn und eine harmlose Achter-bahn, dazwischen künstliche Seen und Brücken ­ und mittendrin das monumentale Reaktor-Hauptgebäude, ein toter, abgesperrter Betonklotz.

Aus Lautsprechern scheppert Popmusik. Überall gibt es Cola, Pommes und Eis, ab 19,50 Euro Eintritt ist alles inklusive. Hinten können Jugendliche ab 15 Jahre und Erwachsene gegen Aufpreis in lärmenden Dragstern in null Komma nichts von null auf hundert beschleunigen oder ab 16 Jahren eine Off-Road-Strecke mit dem Quad abfahren. Irgendwie passt das alles nicht zusammen und wirkt doch völlig normal. Willkommen in "Kernie's Familienpark".

Han Groot Obbink, blauer Anzug, rote Brille, leuchtend rotweiß gestreifte Krawatte, hat schon viele Besucher durch sein Reich geführt. Der Niederländer ist hier Geschäftsführer, er war von Anfang an dabei, hat den Umbau geleitet. Damals, 1995, schaffte er als Erstes eine Kaffeemaschine an. Dann machten sie nach und nach das Gelände begehbar, sicherten Industriegebäude ab, bauten einen Teilbereich zu einem Brüter-Museum aus (für das sich allerdings heute kaum jemand interessiert) und wandelten die ersten Büros bald in 60 Hotelzimmer um. Kneipen, Kart-Bahn, Fahrgeschäfte kamen dazu. Erst 1999 war der eigentliche Familienpark fertig.

Groot Obbink läuft über das Gelände. Überall sind Bäche, Brücken, Pflanzen. Er weist hierhin, dorthin, damit der Besucher nichts verpasst. "Alles muss gut aussehen. Man darf nicht das Gefühl haben, auf einem Kraftwerksgelände zu sein. Das funktioniert doch, oder?"

Viel erinnert nicht an die Vorgeschichte. Im Familienpark liegt ein rostbraunes Gerippe, einem urzeitlichen Tier ähnlich, gewaltige acht Meter lang, 82 Tonnen schwer. Es ist das "Niederdruckteil eines Läufers der SNR 300 Dampfturbine", wie es auf einer Tafel heißt. Am Eingang stehen zwei mannshohe Blumentöpfe, die ehemaligen Gehäuse der Hauptkühlwasserpumpe. Einige Räume sind nach Physikern benannt: Albert Einstein, Otto Hahn, Marie Curie; andere nach KKW-Standorten: Biblis, Isar, Grohnde, Krümmel.

Als Anfang der Siebziger die Planung des Kernkraftwerks begann, war der Schnelle Brüter für seine Gegner ein "Höllenfeuer". Den Befürwortern galt er als Verheißung: In Kalkar sollte der erste natriumgekühlte Reaktor des Landes entstehen, ein Wunderwerk damaliger Technik, das Deutschland auf Jahrzehnte von Energie-Importen unabhängig machen würde. Es geriet zum Milliardengrab und zum Synonym für Glaubenskriege und blutige Schlachten.

1985 war das Werk endlich fertig. Bürgerinitiativen verhinderten immer wieder die Betriebsgenehmigung. Ein Jahr später schmolz im ukrainischen Tschernobyl der Reaktorkern und damit der letzte Rückhalt für das Vorzeigeprojekt. Am 21. März 1991, rund 18 Jahre nach Baubeginn, verkündete Heinz Riesenhuber, damals Forschungsminister, das endgültige Aus. Der Schnelle Brüter war politisch nicht mehr durchsetzbar.

Am liebsten hätten ihn alle einfach vergessen. Aber da stand er. Mehr als acht Milliarden Mark teuer, groß, nutzlos, mit einem miesen Image, das auf die ganze Region abstrahlte. Den nahe gelegenen Milchwerken war empfohlen worden, den Herkunftsort auf Produkten zu verschweigen. Kunden könnten Angst vor verseuchter Ware bekommen. 75 Millionen Euro hätte der Abriss gekostet. Der Haupteigner des Brüters, die Essener RWE, suchte in Anzeigen einen Käufer für Deutschlands bestbewachte Ruine. Während die Betreibergesellschaft SBK, eine RWE-Tochter, schon Maschinenteile und Natriumkühlmittel verscherbelte, meldeten sich im Rathaus Dutzende von Interessenten. Darunter auch die Unternehmerlegende Hennie van der Most. Seinerzeit betrieb er neben Hähnchenrestaurants riesige Freizeitanlagen. Seine Spezialität bis heute: Er verwandelt alte Industriegelände in Themenparks und hält die Preise für Gäste mit All-inclusive-Paketen erschwinglich. Das Konzept für Kalkar sah genauso aus. Viereinhalb Millionen Mark hat er damals dafür bezahlt.

Vom KKW zum Spaßpark

Die Investition hat sich gelohnt, "Kernie's Familienpark" ist stets gut gefüllt, und er belegt nur einen Teil des "Wunderlands Kalkar", das sich heute über das gesamte Werksgelände erstreckt. Der andere Teil besteht aus einem Kongress- und Partyzentrum in sechs Flachdachgebäuden, vorn zur Straße. Dort, in den früheren Verwaltungs- und Kontrollräumen, sind heute fast 1000 Hotelbetten und 20 Tagungsräume untergebracht. Hinter den Mauern verbirgt sich eine ganz eigene Welt mit Themen- Restaurants, Kneipenstraße, Kegel- und Bowlingbahnen, das komplette Programm ab 57,50 Euro; auch hier gilt: Übernachtung inbegriffen. Nur besondere Angebote, zum Beispiel im Beauty-Salon, kosten extra.

In Spitzenzeiten arbeiten im Wunderland mehr als 500 Menschen ­ für rund 600000 Besucher pro Jahr. Han Groot Obbink ist täglich hier, selbst an den Wochenenden. Vermutlich verbringt weltweit kein Mensch mehr Zeit auf einem Reaktorgelände. Was hält er eigentlich von Kernkraft? "Wenn im Fernsehen Holland gegen Deutschland spielt, will ich, dass genug Strom für den Fernseher da ist und dass er bezahlbar und sauber ist. Alles andere ist mir egal."

Er wundert sich noch immer, wie reibungslos seinerzeit der Start klappte. "Als wir 1999 unser Hotelangebot mit einem Schlag von 60 auf 450 Zimmer erweitert haben, war an jedem Wochenende sofort jedes Bett belegt, ohne Werbung, einfach durch Mundpropaganda!" Mit der Verteilung der Nationalitäten war es schon damals wie heute: Etwas mehr als die Hälfte der Besucher sind Deutsche, 45 Prozent der Gäste stammen aus den Niederlanden. Die Deutschen legten vielleicht mehr Wert auf schnelle und prompte Bedienung als seine Landsleute, formuliert der Geschäftsführer diplomatisch. Die Hiederländer wiederum hörten eher mit dem Trinken auf, wenn ab einer bestimmten Uhrzeit bezahlt werden muss. Alle schauen verstärkt aufs Geld in diesen Zeiten. Pedantische Deutsche, geizige Niederländer, hier sind sie fast gleich.

Groot Obbink will, dass sich das Wunderland anfühlt wie ein großes Dorf. Oder wie das Wohnzimmer von Freunden, wo gemütlich Kaffee getrunken und Kuchen gegessen wird und wo sie abends in geselliger Runde ein Bierchen trinken. Die Leute sollen in kurzer Zeit viel erleben. Es geht nicht um Authentizität, es geht um Intensität.

Von der Ägyptischen Halle geht es runter in die unterirdische Kneipenstraße, vom Westernsaloon in den Weinkeller ­ eine Weltreise durch Pappmaché-Kulissen auf engstem Raum, wie es sie mittlerweile in jedem Ballungsgebiet gibt. Egal, ob in Chinatown im Phantasialand oder beim rustikal dekorierten Italiener in der Fußgängerzone: Das Künstliche ist Teil des Erlebnismehrwerts, die Erlebniskulisse für den realen Kick am Wochenende.

Dann herrscht hier Hochbetrieb, die Betten sind oft ausgebucht. Aus Deutschland kommen Kegelclubs, aus den Niederlanden Junggesellenvereine, aus beiden Ländern treffen sich Fußballmannschaften, Männer-, Frauen- und gemischte Gruppen hier. Hotelgäste sind über grüne All-inclusive-Bändchen zu identifizieren, die Tagesgäste tragen türkisfarbene. Alle wollen Spaß, es wird viel gelacht und getrunken.

2008 wird für das Wunderland ein Rekordjahr, 18 Millionen Euro Umsatz sind geplant. Das ist bescheiden im Vergleich zu den geschätzten 250 Millionen Euro, die der Marktführer Europa-Park Rust umsetzt. Gewinn machen sie in Kalkar nicht dieses Jahr, Zimmer wurden renoviert, neue Geräte gekauft. Allein das 58 Meter hohe Kettenkarussell im Kühlturm kostete eine Million Euro. Für andere Parks ist das ein Klacks, hier ist es eine große Investition. Aber ins Wettrennen um Superlative will Groot Obbink ohnehin nicht einsteigen. Er verdient sein Geld mit Übernachtungen. Als sie das Gelände kauften, war es eine pragmatische Entscheidung: Aus Büroräumen macht man am einfachsten Hotelzimmer. Rückblickend war auch das geradezu visionär.

Der Betrieb von Vergnügungshotel mit Park statt Vergnügungspark mit Hotel ist inzwischen längst Branchentrend. Die Industrie steht unter Druck, die Zahl der Freizeithungrigen stagniert: 64 große deutsche Anlagen kämpfen mittlerweile um rund 22 Millionen Besucher jährlich, deshalb gilt es, neue Kundengruppen als Übernachtungsgäste zu erschließen. Im Phantasialand wurde vor Kurzem ein neues Hotel fertig, das Besucher der Koelnmesse im Visier hat; rund 20 Prozent des Umsatzes stammen schon von außerhalb des Vergnügungsparks, in acht Jahren soll es die Hälfte sein. Der Europa-Park Rust hat mit 4500 Betten inzwischen das größte zusammenhängende Hotelangebot des Landes. Ein dänischer Investor kündigte erst kürzlich an, direkt neben dem bisher mäßig erfolgreichen Tropical Islands in Brandenburg mit 12000 Betten die größte Feriendorfanlage Deutschlands bauen zu wollen.

Auch in Kalkar haben sie große Pläne. Aus den rund 170000 Übernachtungen in diesem Jahr sollen bald 250000 werden. Groot Obbink peilt eine Million Besucher an ­ darunter mehr Tagungsgäste und Senioren. "Wir müssen unabhängiger vom Wetter werden. Wir brauchen ein Schwimmbad und einen Wellness-Bereich, eine Indoor-Spielstätte und Messehallen", sagt er. Acht bis zehn Millionen Euro veranschlagt der Geschäftsführer für die Hallen, zwölf für das Schwimmbad. Noch vor 2010 soll alles fertig sein. Seit Beginn haben sie etwa 55 Millionen Euro investiert, Zulieferbetriebe auf beiden Seiten der Grenze profitieren davon.

Vom Spaß- zum Messegeschäft

Doch all das reicht ihm nicht. Wenn das Wunderland dauerhaft erfolgreich sein soll, braucht er auch die Leute vor dem Bauzaun. Seine Kurzurlauber sollen was erleben. Mindestens zweimal die Woche fährt ein Shuttle Wunderland-Besucher nach Kalkar, in die Stadt mit der berühmten Nicolaikirche und ihren Schnitz-Altären. Groot Obbink ist Mitglied im "Werbering Kalkar aktiv" und im örtlichen Hotel- und Gaststättenverband. Er leitet Gäste an andere Herbergen weiter und hat mit dafür gesorgt, dass es einmal im Monat einen Themenmarkt gibt. Er lobt die Stadt, den Landkreis; so wie auch Bürgermeister Gerhard Fonck in höchsten Tönen vom Park spricht: "Das ist eine sehr fruchtbare und gute Zusammenarbeit. Die Niederländer sind manchmal viel schneller und fixer als die Deutschen, das sind richtige Macher."

Tatsächlich tüftelt Groot Obbink schon wieder die nächsten Pläne aus. Nach dem bewährten All-inclusive-Muster will er nun ins Messegeschäft einsteigen. Verbänden und Firmen im Grenzland hat er die Idee schon schmackhaft gemacht. Weil die Industriehallen auf dem Gelände dafür zu klein sind, sollen auf einem 60000-Quadratmeter-Feld nebenan Messehallen entstehen.

Daneben hat er ganz neue Kundengruppen im Visier ­ immerhin konkurriert er mit Billigfliegern um Gäste, die Urlauber für 20 Euro an Mittelmeerstrände transportieren. Die könnten doch auch Leute ins Grenzland fliegen, findet Groot Obbink, der Flughafen Weeze liegt schließlich vor der Tür. Er träumt von Tausenden ausländischen Besuchern, die Frage treibt ihn um: "Wie kriegen wir die hierher?" Er führt bereits entsprechende Gespräche. Die Engländer, die Norweger, die Iren, sie alle feiern doch gern; auf Ibiza, auf Mallorca, an den türkischen Stränden. Wieso also nicht am Niederrhein?

Han Groot Obbink zerrt am Rand des Familienparks einen Bauzaun auf, geht durch die Lücke, neben ihm ragt das Hauptgebäude empor, dicker Beton, riesige Löcher klaffen in der Außenwand, am Fuße sprießt Unkraut. Er breitet die Arme aus, eine unwirkliche Szenerie: "Herzlich willkommen im Hotel Most Plaza. Hier unten ist eine Ladenstraße, da stehen alte Zug-Waggons, auch Oldtimer, in denen man gemütlich sitzen und etwas trinken kann." Ein Arm weist auf die Löcher im Beton weit oben. "Da sind drei neue Hotels, überall Zimmer auf verschiedenen Etagen, Böden reinziehen, Aufzug und Fenster rein, fertig."

Im Schnellschritt geht es durch den dunklen Bau, durch Staub und Schutt. Ein Riss in der hohen Decke gibt den Blick frei auf die Etage darüber, ein kathedralengleicher Raum. "Dort ist die Skipiste, hier eine Schlittschuhbahn, Curling da hinten." Groot Obbink verschwindet in einem schmalen Gang: "Da sind das Haar- und das Nagelstudio, von hier aus geht man an den Umkleiden vorbei zum Schwimmbad!" So geht das in einem fort. Wenn Han Groot Obbink durch das leere Gebäude stapft, sieht er keinen kahlen, meterdicken Beton, keinen Schmutz und keine technischen Hindernisse. Der Niederländer sieht nur Möglichkeiten.