DocMorris für die Dritte Welt

Erst haben sie Medikamentenspenden für arme Länder gesammelt. Dann die Generikaherstellung in Deutschland erfunden. Heute fördern sie die Produktion von Arzneimitteln in Afrika. Die kleine Hilfsorganisation Action Medeor ist der Pharmaindustrie seit Jahren immer einen Schritt voraus.




Ernst Boekels liebt die Konfrontation. Mitten im Gespräch überfällt der Gründer der Hilfsorganisation Action Medeor den Besucher mit der Frage, ob die jungen Menschen heute eigentlich zu dumm seien, um Latein zu lernen. Ja, ob sie überhaupt lesen könnten. "Medeor kommt vom lateinischen ,mederi', heilen, und bedeutet, ich heile", doziert der 80-jährige Mediziner mit erhobenem Zeigefinger. Die Pressesprecherin sitzt daneben und zuckt entschuldigend mit den Schultern. "So ist er nun mal. Da kann man nichts machen."

Boekels, der Landarzt aus Tönisvorst bei Krefeld, hat sich nie darum geschert, wenn er mit seinen Worten angeeckt ist. Und schon gar nicht, wenn seine Ideen belächelt wurden. Widerworte und Bedenken haben ihn eher angestachelt. Wie bei dem Husarenstück, von dem nur noch wenige wissen: Boekels ließ in den sechziger Jahren als Erster in Deutschland Generika produzieren, Nachahmerarzneien, die billiger als das Original sind, aber ebenso wirksam.

Der Coup war die Grundlage der Initiative Action Medeor, die Boekels zum größten Medikamentenhilfswerk Europas aufgebaut hat. Allein ihr 4000-Quadratmeter-Lager ist fast doppelt so groß wie das Magazin der Internet-Versandapotheke DocMorris. Von dort aus werden täglich etwa eine Tonne Arzneimittel und medizinische Ausrüstung in Katastrophengebiete und Armutsregionen verschickt. Und seit Generika in China oder Indien günstiger hergestellt werden, hat sich der gemeinnützige Arzneigroßhändler zu einer pharmazeutischen Wissensorganisation entwickelt, die Gesundheitssysteme in Afrika fördert. Dabei folgen die Tönisvorster bis heute der Trial-and-Error-Methode ihres Gründers ­ erweist sich ein Weg als Sackgasse, schlagen sie einen anderen ein. Nur das Ziel ist seit mehr als 40 Jahren dasselbe: den Ärmsten Zugang zu Medikamenten sichern.

Es begann 1963 mit einer schlichten Altkleidersammlung für eine Missionsstation in Indonesien, die der bekennende Katholik Boekels in Vorst organisierte. Getrieben vom Gedanken der Nächsten-liebe. Und aus der Erfahrung, was Not bedeutet: Als Boekels elf Jahre alt ist, stirbt seine Patentante und hinterlässt neun minderjährige Kinder.

Bei der Altkleidersammlung kommen 30 große Kisten mit 1500 Kilogramm Kleidung zusammen. Boekels ist so begeistert, dass er gleich eine deutschlandweite Initiative plant und dafür ein 100000 Mark teures Zentrallager in Vorst bauen lassen will. Er schreibt dringliche Briefe an kirchliche Stellen, um das Geld aufzutreiben. "Es drängt sich geradezu die Frage auf, ob nicht durch Ausdehnung dieser Aktion auf ganz Deutschland und alle Missionsgebiete enorme geldliche Reserven für die Missionen erschlossen werden könnten", heißt es in einem seiner Gesuche, die wie kleine Businesspläne aufgebaut sind. Boekels hat alles genau durchgerechnet: Der Transport eines gebrauchten Anzugs nach Indonesien kostet eine Mark, die Missionare vor Ort können ihn für 10 bis 15 Mark verkaufen.

Unbeirrbare Aktivisten

Doch der Eifer des Doktors geht den Geistlichen deutlich zu weit. "Wir müssen Sie dringend bitten, keine Maßnahmen zu treffen, die in das Bistum Essen hineinwirken", antwortet etwa das Bischöfliche Generalvikariat Essen kühl. Pater Adam Nottebaum von der Steyler Missionsgesellschaft in Sankt Augustin schreibt: "Als Arzt sollten Sie sich schämen, alte Klamotten zu sammeln." Der Mann ist sauer, weil Boekels ihm die 1500 Kilo Altkleider vor die Tür gestellt hatte ­ ohne zu bedenken, dass der Versand nach Indonesien die Kirche gut 2000 Mark kosten würde. Heute amüsiert sich Boekels über seine Naivität. Auch weil sie ihm eine Lehre war: Niedrige Transportkosten sind später eine Stärke von Medeor.

Boekels gründet die Initiative 1964 nach der misslungenen Altkleideraktion. Von ein paar unfreundlichen Briefen lässt er sich nicht abschrecken ­ und da Kleidung offensichtlich nicht gewünscht ist, verlegt er sich auf Medikamente. Er und seine Mitstreiter beginnen, kostenlose Ärztemuster zu sammeln. Sie geben sich nicht mit ein paar Packungen zufrieden, sondern häufen so viel an, dass erst ein Jugendheim, dann der Tanzsaal in der Vorster Kuhstraße und schließlich eine Schule damit gefüllt werden. Hunderte von Freiwilligen sind notwendig, um sie alphabetisch zu sortieren. Medeor stellt ein Schild am Eingang auf: "Sechs Stunden Arbeit retten ein Menschenleben." Ganze Vereine rücken an, um zu helfen.

Leider erweist sich auch diese Aktion als gut gemeint, aber letztlich wenig hilfreich. Die Arzneimuster, die Ärzte aus ganz Deutschland nach Tönisvorst schicken, werden in Indonesien schlicht nicht gebraucht. Hustensaft statt Leprapillen. "Die Hälfte war Abfall", sagt Boekels heute ­ triumphierend, denn auch aus dieser Niederlage lernt er.

Fortan lässt der Hilfsverein die Medikamente, die wirklich benötigt werden, bei deutschen Herstellern per Lohnauftrag produzieren. Keine Markenware, sondern Nachahmerprodukte, sogenannte Generika. Man schreibt das Jahr 1967, lange bevor die Pharmaindustrie erkennt, dass sich damit Milliarden verdienen lassen.

Eigentlich gilt Adolf Merckle als der Generika-Pionier in Deutschland, der 1973 das Unternehmen Ratiopharm gründete und das Aspirin-Imitat ASS-Ratiopharm auf den Markt brachte. Bis heute ist der Name Medeor beim Branchenverband Pro Generika nicht bekannt. Geschäftsführer Peter Schmidt sagt: "Soweit ich weiß, kam die Generika-Idee weltweit Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre auf." Boekels hat sich die Idee bei zwei russischen Ärztinnen abgeschaut, die in Indonesien Arzneimittel in Eigenproduktion herstellten.

Seine Initiative kauft die Medikamente Ende der Sechziger zu einem Bruchteil dessen, was die Originalpräparate in der Apotheke kosten; Boekels spricht von einem Hundertstel. Das ist möglich, weil in Indonesien und anderen Drittweltländern zu jener Zeit kaum Patentschutz gilt. Zudem lässt Medeor in der Regel Arzneien produzieren, deren Patentschutz in Deutschland schon abgelaufen ist. Außerdem ist es damals üblich, dass Lizenzinhaber zwar Wirkstoffe, nicht aber Tabletten selbst produzieren. Dafür vergeben sie Aufträge an Dritte ­ und diese Firmen sind gern bereit, Medeor zu beliefern.

Zur Freude der Missionsgesellschaften, deren Krankenstationen dringend Medikamente brauchen. Sie sind sofort bereit, Boekels die lang ersehnte Lagerhalle vorzufinanzieren. Darüber hinaus übernehmen sie die Kosten für die Produktion der Arzneien. 85 Prozent der Medikamente werden verkauft, nur 15 Prozent gespendet ­ noch bis weit in die achtziger Jahre spielen Spenden bei Medeor nur eine untergeordnete Rolle.

Auch Gehaltskosten fallen bei der Organisation in jener Zeit kaum an, weil die Vereinsmitglieder ­ Ärzte, Apotheker, Juristen und Verwaltungsbeamte ­ ihre Arbeit und ihr Wissen unentgeltlich einbringen. Bis 1991 arbeitet selbst der Medeor-Chef-Apotheker ohne Lohn. Seitdem ist die Organisation stetig gewachsen, und die Behörden verlangten eine Professionalisierung. Medeor wird nun rechtlich als Hersteller eingestuft ­ mit entsprechend höheren Auflagen, die nur mit hauptamtlichem Personal zu erfüllen sind.

Noch bis 1986 führte Boekels selbst den Verein neben seiner Hausarztpraxis ehrenamtlich. Wohlgemerkt: ehrenamtlich, nicht amateurhaft. Davon zeugt auch seine Idee eines Systems, das die Kosten für den Transport der Arzneien in die Dritte Welt reduziert. Anstelle der Originalverpackungen lässt Medeor eigene Kunststoffbehälter für jeweils 500 bis 10000 Pillen herstellen, um Volumen zu sparen. Auf diese Weise verbilligt sich nicht nur die Verschiffung, auch der Absatz in den Zielländern wird vereinfacht: Die Armen können ihre Tabletten je nach Bedarf einzeln kaufen.

Rund 300000 der braunen Pillenboxen stehen heute in den Lagerhallen von Medeor säuberlich aufgeschichtet in den Regalen, nach Wirkstoffen sortiert und mit Strichcodes gekennzeichnet. 10000 Gesundheitsstationen in 140 Ländern werden mit diesen Tabletten beliefert. Oft sind es nur kleine Sendungen im Wert von 1000 oder 2000 Euro ­ un-attraktiv für einen kommerziellen Anbieter, aber in Summe ein enormes Geschäft für Medeor.

Viele der Abnehmer werden von Hilfsorganisationen, Pfarreien oder kleinen Spendenvereinen finanziell unterstützt, sodass sie bei Medeor einkaufen können. Aber auch Medeor selbst gibt inzwischen rund die Hälfte seiner Medikamente kostenlos ab ­ finanziert aus eigenen Spendeneinnahmen von mehr als fünf Millionen Euro im Jahr.

Im Auftrag großer Organisationen wie den Johannitern, den Maltesern oder Care leistet Medeor heute zudem Katastrophenhilfe. Innerhalb nur eines Tages können lebenswichtige Arzneien von Tönisvorst aus Notstandsgebiete überall auf der Welt erreichen.

Seit der Gründung der Initiative hat sich so manches verändert. Generika etwa sind mittlerweile ein gewaltiger Markt. Seit gut 15 Jahren beliefern indische und chinesische Hersteller die Länder Afrikas im großen Stil und zu Preisen, bei denen Medeor kaum noch mithalten kann. Manche Drittweltstaaten und Schwellenländer wie Brasilien haben inzwischen die Hürden für Importe durch Schutzzölle und Zulassungsbeschränkungen erhöht, um die eigene Pharmaindustrie zu schützen. Die Folge: Medeor hat viele Partner in den Zielländern verloren, die sich nun direkt vor Ort versorgen.

Die Verschiebung hat das Geschäftsfeld massiv eingeschränkt ­ und die erfahrenen Niederrheiner zugleich vor ganz neue Fragen gestellt: Was, wenn die Gesundheitsbehörden vor Ort gar nicht überprüfen können, ob die Arzneien tatsächlich die Wirkstoffe enthalten, die die Verpackung verspricht? Was, wenn es an Labors fehlt, um beispielsweise die Virusbelastung von Aids-Patienten zu bestimmen, die für die korrekte Dosierung des Behandlungs-Cocktails notwendig ist? Was, wenn die Krankenhäuser vor Ort nicht sicherstellen können, dass die Medikamente richtig gelagert und regelmäßig geliefert werden? Zusammengefasst: Den einstigen Zielländern fehlt die lokale Infrastruktur.

Die Hilfsorganisation wäre nicht geworden, was sie ist, wenn ihr dazu nicht auch etwas eingefallen wäre: Wenn es in den meisten Ländern keine pharmazeutische Kompetenz gibt, bildet die Organisation sie eben selbst aus ­ und sorgt so dafür, dass die staatlichen Qualitätssicherungs- und Verteilersysteme verbessert werden.

Vor fünf Jahren begann Medeor außerdem mit der Unterstützung lokaler Arzneimittelhersteller in afrikanischen Ländern wie Kongo und Tansania, um sie langfristig von Importen unabhängig zu machen. Gefertigt werden Malaria- und Aidsmedikamente. Damit stößt Medeor einmal mehr in eine Lücke. Über die Produktion vor Ort wird zwar viel diskutiert, doch Organisationen, die Kompetenz für die Umsetzung mitbringen, sind rar. Action Medeor hat sie.

Die professionelle Förderung des Gesundheitswesens in der Dritten Welt ist das Kerngeschäft der gewandelten Unternehmung ­ "ein Schritt, der für uns so bedeutsam war wie einst die Entwicklung der Generika", sagt Bernd Pastors. Der 52-jährige Vorstand der Geschäftsführung verkörpert wie kein Zweiter den neuen Anspruch der Initiative. Während Gründer Ernst Boekels noch von "Gotteslohn" spricht, redet Pastors über die Zivilgesellschaft und davon, "den Finger in die Wunden der staatlichen Entwicklungshilfe zu legen".

In diesem Bemühen seien die wirksamsten Instrumente von Medeor "Dialog" und "Pressure", sagt Pastors. Das heißt, er sitzt nicht nur mit am Tisch, wenn die kirchlichen Hilfswerke mit der Pharmaindustrie in Dialog treten. Pastors ist auch dabei, wenn der kritische Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) eine Kampagne plant, um die Konzerne zu Preissenkungen zu zwingen.

Unter Pastors, dem ehemaligen Banker und Öffentlichkeitsarbeiter, ist die Organisation politischer geworden. Und größer, Medeor hat heute rund 50 feste Mitarbeiter. Das Fundament, das Boekels gebaut hat, ist dabei noch immer deutlich zu erkennen: die Fähigkeit, bei allem Tun nicht das Ziel aus den Augen zu verlieren ­ und das Tun nicht für das Ziel zu halten. Mit der gleichen Kompromisslosigkeit, mit der der Landarzt einst Ärztemuster aussortierte, stellen sich die Tönisvorster heute selbst auf den Prüfstand: Ist es langfristig eigentlich noch sinnvoll, Medikamente vom Niederrhein nach Afrika zu schicken?

Für solche Fragen ist Heinz Gommans zuständig, der Leiter des ehrenamtlichen Präsidiums von Medeor, das die Geschäftsführung bei der strategischen Ausrichtung berät. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Volksbank Krefeld unterscheidet da nicht: "Trends rechtzeitig zu erkennen ist die wichtigste Aufgabe jedes Unternehmens." Gommans geht es um die Kernkompetenzen von Medeor, die Gefahr, in die Zweitklassigkeit abzurutschen, und die Bedeutung einer starken zweiten Führungsebene. Darauf konzentriert er sich ­ zusammen mit rund 60 anderen ehrenamtlichen Kollegen.

Hoch qualifizierte Ehrenamtliche

Action Medeor gehören Ärzte, Juristen, Pharmazeuten, Verwaltungsbeamte und Entwicklungshilfeexperten an. In ihnen lebt Boekels' Geist des bürgerlichen Aufstands weiter. Sie sind wichtig für die lokale Verankerung der Initiative und als Gegengewicht zu den Hauptamtlichen, damit das Tun nicht zum Selbstzweck wird. Über die Jahre hat Medeor so einen Kreis hoch qualifizierter Berater um sich geschart.

Was bringt den Ehrenamtlichen das Engagement? "Ich fand es immer sehr befruchtend, von einer Vorstandssitzung in diese ganz andere Welt mit ihrer eigenen Denkweise zu kommen", sagt Gommans und wiegelt dann ab: "Wir wollen mal nicht zu tiefsinnig werden. Das hat sicher auch mit Eitelkeit zu tun." Wichtiger ist ihm ohnehin das Geschäftliche bei Medeor: "Wir müssen uns so aufstellen, dass wir auch in zehn Jahren noch bestehen können."

Wie die Zukunft aussehen könnte, lässt sich schon heute in Tansania besichtigen. Dort leitet Chef-Pharmazeut Christoph Bonsmann seit 2005 einen lokalen Medikamentengroßhandel mit eigenem Lager in der Hauptstadt Daressalam. Rund 60 Prozent ihrer Arzneimittel kauft die Tochtergesellschaft auf regionalen Märkten, vor allem in Kenia. Der Rest kommt aus Indien und Europa. Lokale Strukturen stärken, heißt die Devise. Bonsmann will neue Standards setzen und den tansanischen Großhändlern vormachen, wie sie ihre Logistik verbessern und die Qualität bei den Zulieferern kontrollieren können.

Dass er dabei möglicherweise andere Anbieter ausbootet, fürchtet er nicht. "Das ist wie bei Aldi und Edeka", sagt Bonsmann. "Der Markt wird durch die Konkurrenz belebt." Verdrängt wird seiner Meinung nach nur, wer schlechte Qualität bietet oder gar kriminelle Absichten hegt. Gefälschte Medikamente sind in vielen afrikanischen Ländern eine große Gefahr. Bei einer Untersuchung in Nigeria stellten Wissenschaftler fest, dass 36 Prozent der untersuchten Pillen gar keinen Wirkstoff enthielten.

Christoph Bonsmann kann sich vorstellen, dass es bald auch in Sambia oder Malawi Medeor-Tochtergesellschaften geben wird. Aus Staaten, die schon jetzt funktionierende Systeme haben, wollen sich die Niederrheiner aber fernhalten. Außerdem hat Bonsmann sich vorgenommen, mehr für Forschung und Entwicklung an afrikanischen Universitäten zu tun. Wenn es nach ihm ginge, könnte die Zukunft schon morgen beginnen. "Wenn wir nur Paracetamol produzieren, dann haben wir irgendwann unsere Aufgabe verloren. Das können andere bald besser."

Wie und wo auch immer sich Action Medeor künftig engagieren mag, das Ziel wird der Organisation so schnell nicht abhanden kommen. Allein an Malaria sterben jedes Jahr noch immer mehr als eine Million Menschen weltweit, rund drei Viertel davon sind Kinder in Afrika. Ein paar Tabletten am richtigen Ort zum richtigen Preis könnten ihnen das Leben retten. Action Medeor arbeitet daran.