Die Stille vor dem Buch

Im Europäischen Übersetzer-Kollegium Straelen suchen Menschen aus aller Welt nach Worten. Dabei geht es um Literatur, persönlichen Austausch ­ und wenig Geld.




Die Stille ist der Ort, an dem sich alle treffen. Sie durchzieht das Europäische Übersetzer-Kollegium (EÜK) in Straelen wie eine schwere Textur, die sich bereits wenige Minuten nach der Ankunft über jeden Gast legt und bis zur Abfahrt bei ihm bleibt. Straelen, eine sehr überschaubare, strikt durchklinkerte Kleinstadt nordöstlich von Venlo, ist an diesem Wochentag im Spätsommer ebenfalls still, die Straßen sind leer, auch in der Fußgängerzone sind nur vereinzelte Menschen unterwegs.

Doch in dem aus fünf historischen Gebäuden bestehenden Übersetzer-Kollegium mit seinen zahllosen Gängen, Treppchen und Nischen, den vielen Regalen voller alter und neuer, großer und kleiner, unscheinbarer und prächtiger Bücher und dem hellen, südeuropäisch anmutenden Innenhof herrscht eine andere Art der Stille. Sie erinnert an Kirchen oder Klöster, an Orte des Glaubens, der Arbeit und der Kultur. Und tatsächlich geht es im EÜK genau darum: um das Ringen um das richtige Wort, die Arbeit am Text und die Literatur. Seit 30 Jahren kommen Menschen aus aller Welt in dieses Haus fern der Welt, um Bücher zu übersetzen. Was dazu führte, dass in einer Kleinstadt mit knapp 16000 Einwohnern rund 19000 Bücher entstanden ­ in aller Stille.

Harte Arbeit, gering geachtet

Letztere ist für Übersetzer allerdings auch ein Problem. Denn das Übersetzen findet nicht nur im Stillen statt, es wird auch wenig darüber geredet. Für den Beruf des Übersetzers braucht es keine offizielle Ausbildung, jeder mit nur vagen Fremdsprachenkenntnissen darf sich so nennen, entsprechend gering ist das Ansehen der Profession. Wie immens groß jedoch die Qualitätsunterschiede zwischen der Arbeit eines Könners und eines Laien sind, versteht man spätestens dann, wenn man das erste Mal mit einer krude eingedeutschten Gebrauchsanweisung kämpft. Doch um solche Ärgernisse des Alltags geht es im EÜK nicht. Hier wird Literatur von einer Sprache in die andere befördert, was noch komplizierter ist als das fernöstliche Technokratendeutsch. Der selten benutzte Begriff Nachdichtung sagt es am besten: Literaturübersetzer suchen nicht nur passende Worte, sondern ringen wie ihre Autoren um Gefühle und Wahrheit, um Rhythmus, Klang und Sinn. Trotzdem ist auch in der Buchwelt nur ernsthaften Literaturliebhabern wirklich bewusst, dass ein Großteil ihrer Lektüre nach dem Autor von einem weiteren Menschen ein weiteres Mal geschrieben wurde.

Als das Straelener Übersetzerzentrum im Januar 1978 in einem kleinen Haus mit fünf Zimmern eröffnet wurde, war das nicht anders. Den bis heute bestehenden Trägerverein gründeten Klaus Birkenhauer und Elmar Tophoven, zwei Übersetzer, die die Probleme und Interessen ihrer Profession kannten und durchaus ein Eigeninteresse an deren Unterstützung hatten. Auf der Suche nach Förderung für ihr Projekt stießen sie über persönliche Kontakte bei der Landesregierung Nordrhein-Westfalen und in Tophovens Geburtsort Straelen auf Beistand. Damals war das Haus weltweit einmalig, inzwischen gibt es ähnliche Institutionen in Großbritannien, der Schweiz, Frankreich, Griechenland und anderen Ländern.

Die Gründer sind inzwischen verstorben, doch das Land Nordrhein-Westfalen unterstützt das Kollegium bis heute mit 200000 Euro jährlich, was alle laufenden Kosten abdeckt. Hinzu kommen Stipendien diverser Stiftungen sowie eine kleine Förderung der Stadt Straelen, die es dank des Zentrums weltweit in die Medien geschafft hat.

In den 30 Apartments des Kollegiums arbeiten und wohnen pro Jahr etwa 500 Übersetzer, von denen rund die Hälfte für den deutschsprachigen Buchmarkt arbeitet ­ der Rest übersetzt zumeist deutsche Literatur in andere Sprachen. Daneben werden im EÜK Seminare veranstaltet, einmal jährlich der mit 25000 Euro dotierte Übersetzerpreis der Kunst-stiftung NRW vergeben und Autoren mit ihren Übersetzern zusammengebracht. Zuletzt traf dort im Rahmen eines solchen Atriumgesprächs die Berlinerin Julia Franck 18 ihrer Nachdichter aus aller Welt. Eine Begegnung inmitten von Literatur. Das Kollegium beherbergt auch die mit 110000 Bänden größte Übersetzerbibliothek der Welt: In jedem Raum und jedem Flur stehen Bücher.

Wie sprechen Prostituierte?

Regina Peeters ist die Bibliothekarin des Hauses. Angefangen hat sie im EÜK 1981 als Schulpraktikantin. Die inzwischen promovierte Bibliothekswissenschaftlerin hat den Aufbau des Bestandes entscheidend geprägt. Dabei hat sich die 44-Jährige intensiv mit den Bedürfnissen ihrer Gäste beschäftigt: "Jedes Werk stellt Übersetzer vor neue Herausforderungen. Deshalb brauchen sie einerseits Informationen aus ganz unterschiedlichen Bereichen, andererseits aber auch sehr spezielles Wissen. Ideal ist eine Universalbibliothek, die gleichzeitig tief ins Detail geht." In Straelen stehen folgerichtig neben zahllosen Wörterbüchern Bände zur Sprache der Prostitution, der Ghettos und des Knasts, zur Heraldik, Numismatik, Ethnologie und Chemie, zu Naheliegendem und Abwegigem, und das in 275 Sprachen und Dialekten. Eine Sammlung, die sich keiner leisten kann, schon gar nicht Übersetzer ­ dafür verdienen sie zu wenig.

"Wir vergeben auch selbst Stipendien", erzählt Peeters, "weil manche Übersetzer, vor allem aus kleinen Ländern, buchstäblich gar nichts haben. Einer hat mal angerufen, nachdem er 47 Stunden mit dem Bus gefahren war. Da stand er nun in Duisburg und sagte, dass er nicht weiterwüsste, weil er kein Geld für eine weitere Fahrkarte habe. Das Handy für den Anruf hatte er sich nur geliehen. Den haben wir natürlich abgeholt."

Der Aufenthalt im Übersetzer-Kollegium ist generell kostenlos, und obwohl das Haus nicht opulent eingerichtet ist, ist es für viele Gäste ein echter Luxus: In jedem der Zimmer, die wie das Haus meist ein wenig verwinkelt sind, gibt es einen modernen Arbeitsplatz, und abgesehen vom Essen, für das alle selbst sorgen, muss sich keiner um etwas kümmern. Das genießen die zumeist schlecht bezahlten Textarbeiter.

Auch in Deutschland wird man mit dem Übersetzen von Literatur nicht reich. Der Anteil der übersetzten Bücher an allen Erstauflagen betrug laut Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2007 nur 7,2 Prozent, davon stammten 67 Prozent aus dem Englischen und knapp 10 Prozent aus dem Französischen, der Rest kleckerte sich aus den anderen 6500 weltweit existierenden Sprachen zusammen. Der Markt ist also überschaubar, so wie die Honorare. Wer gut im Geschäft ist, kann pro Manuskriptseite um die 20 Euro brutto verlangen, was solide klingt ­ bis man es in einen Stundenlohn umrechnet.

Übersetzen ist eine langwierige Angelegenheit, die sich grob in drei Teile gliedert: Zuerst liest der Übersetzer das Buch intensiv, um ein Gefühl dafür zu bekommen, dann erstellt er eine Rohfassung, die er überarbeitet. Für das Überarbeiten ist das einzige Limit der Abgabetermin, der ­ fragt man den Übersetzer ­ natürlich immer zu früh liegt, aber tatsächlich sind mindestens zwei bis drei Durchgänge in der Regel nötig. Auch die Rohfassung kostet viel Zeit: Bei leichter Unterhaltung schafft ein guter Übersetzer zehn Seiten pro Tag, für ernste Literatur jedoch sind bereits drei Seiten ein stattliches Ergebnis. Wobei ausgerechnet in diesem Bereich die Auflagen eher klein sind und die Honorare entsprechend knapp, weswegen Übersetzungen häufig über Stipendien, Förderungen oder eben Arbeitsaufenthalte finanziert werden.

Literaturförderung ist, wie die meiste Kulturförderung, auch Wirtschaftsförderung. Verlage mit anspruchsvollen Programmen für kleine Lesergruppen könnten aus eigener Kraft oft kaum überleben. Sie sind auf EU-Gelder angewiesen, auf Stipendien und Zuschüsse aus Kulturaustausch-Programmen.

Doch selbst bei großen Verlagen sind die Honorare karg, was meist mit niedrigen Auflagen begründet wird, sodass viele Übersetzer nur mit einem Zweitjob überleben. Einige Profis, die sich mit schneller Ware wie Thriller oder Romanzen beschäftigen, erzielen gute Einkommen, aber auch dieser Bereich ist unsicher. Die potenziell lukrative Wegwerfliteratur für den Bahnhofsbuchhandel, die tatsächlich zügig zu erledigen wäre, wird häufig an jüngere, manchmal auch minderbegabte Kollegen vergeben, die für zwölf Euro die Seite schuften. Die Verlage glauben, der Leser merke den Unterschied nicht, und die Verkaufszahlen liefern keine Gegenargumente.

Im EÜK wird auch Unterhaltungsliteratur übersetzt, sogar "Asterix" wurde hier schon ins Ruhrpott-Deutsch übertragen. Mitte September 2008 ist das allerdings kein Thema. Das Haus ist nur dünn besetzt, weil in den folgenden Wochen Seminare für Literaturübersetzungs-Studenten stattfinden, die Zimmer brauchen. Die wenigen Anwesenden beschäftigen sich mit schwerer Kost: Der Slowene Slavo Serc übersetzt Robert Walsers "Der Räuber", die Italienerin Margherita Carbonaro Thomas Manns "Lotte in Weimar" und die Polin Slawa Lisiecka "Die Bibliothek der verlorenen Bücher" von Alexander Pechmann. Das riecht nach Hochkulturverbreitung, vielleicht betreibt hier auch Exportweltmeister Deutschland eine Manufaktur, um den literarischen Handelsüberschuss sicherzustellen, aber daneben geschieht noch etwas nicht ganz so Offensichtliches: In Straelen wird der Ruf des Standortes Deutschland poliert.

Die Lust an der Langsamkeit

"Im Ausland kennt doch keiner Dieter Bohlen. Dort denkt man bei Deutschland an Thomas Mann, Günter Grass oder Goethe", sagt Henning Vangsgaard und lacht. Der Däne, der gerade "LTI ­ Notizbuch eines Philologen" von Viktor Klemperer übersetzt, wirkt wie ein flotter Witwentröster, ist aber ein Mann für philosophische Schwergewichte, der unter anderem den Großdenker Jürgen Habermas ins Dänische übertragen hat. Die Monate, wenn nicht Jahre dauernde Arbeit an solchen langen, komplizierten Werken ist für ihn jedoch keine Last, sondern ein Vorteil seines Berufs. "In einer Welt, in der alles schneller wird, bin ich dankbar, dass ich so lange konzentriert an einer einzigen Sache arbeiten kann."

Die Kollegen stimmen zu, ja, das sei eine der Freuden ihrer Arbeit. Es ist Dienstagabend, die Übersetzer sitzen bei ihrem wöchentlichen Stammtisch in einem Steakhaus. Die Stimmung ist gut, für einen Abend ist die Stille übertönt, und das ist wichtig: Übersetzen ist ein einsamer Job ­ für viele Textarbeiter sind die meist vier- bis sechswöchigen Aufenthalte in Straelen ein enormes Geschenk. Zwar sagen alle, dass sie in dieser Zeit viel mehr schaffen als zu Hause, weil sie konzentrierter sind und in der ereignisarmen Stadt weniger abgelenkt. Doch gleichzeitig sind sie froh über den Austausch mit ihren Kollegen, die ähnliche Themen bewegen.

Im Verlauf des Abends wird immer deutlicher, was die Anwesenden eint. Henning Vangsgaard beschreibt seinen Beruf so: "Es ist, als würde man in eine eigene Welt abtauchen, die von allem getrennt ist." Und: "Das hat auch mit Dienen zu tun. Man nimmt sich ganz zurück und dient nur dem Werk." Das Wort, das dabei nicht fällt, heißt: Hingabe. Doch es schwebt über dem Tisch wie die Stille, in die der eine oder andere immer mal wieder abtaucht, wenn sein Blick ins Leere geht, weil ihm wohl gerade ein Satz seines aktuellen Buchs durch den Kopf geht.

Diese Hingabe ist auch hörbar, als der Georgier Dato Barbakadse eine Zeile aus einem Gedicht von Ernst Meister zitiert, die ihm Probleme macht. Es gibt da ein "mit", das Verschiedenes bedeuten kann, was im Georgischen unterschiedliche grammatikalische Folgen hätte. Auf den meisten Partys wäre das kein gutes Thema, aber am Tisch erhebt sich ein reges Gespräch, und schon ist man mitten drin in der großen Welt der kleinen Worte.

Lyrik ist die Königsdisziplin für Übersetzer, allerdings so gut wie unverkäuflich und deshalb trotz des enormen Aufwands schlechter bezahlt als Prosa. "Ein Gedicht zu übersetzen ist eine ganz andere Art der Arbeit", sagt Maria Przybylowska, die gerade Petra Morsbachs "Gottesdiener" ins Polnische überträgt. "Ich habe eine Freundin gefragt, wie sie Lyrik übersetzt, und sie hat geantwortet: ,Ich gehe am Fluss entlang und denke darüber nach.'"

Wie fast alle Anwesenden ist die kleine, zarte Polin ­ Lieblingsautor Elias Canetti ­ Stammgast in Straelen: Sie war in den vergangenen 19 Jahren neunmal hier, zweimal sogar für drei Monate. Und wie alle am Tisch ist sie ungemein freundlich, zivilisiert und gebildet ­ und zurückhaltend. So, als sei es völlig normal, die gesamte deutsche Literaturgeschichte zu kennen. Während sich ihre multinationalen Kollegen in der Straelener Verkehrssprache Deutsch über das Wort "mit" unterhalten, sagt sie leise: "Man übersetzt nicht für Geld. Sondern für gute Unterhaltung und gute Gesellschaft." Wobei nicht ganz klar ist, ob die Bücher zur Unterhaltung gehören oder zur Gesellschaft.