Die Letzten ihrer Art

Krefeld ist Deutschlands Krawattenhochburg. Doch fast alle Firmen haben die Produktion ins günstigere Ausland verlegt ­ bis auf Ascot. Das Familienunternehmen hat ein einfaches Überlebenskonzept: Handarbeit.




Man muss es in den Fingern haben, das Gefühl für gute Seide. In Daumen und Zeigefinger. Um die Spannung der Ober- fläche zu spüren, die Elastizität. "Der Stoff", sagt Jan Moese und greift noch einmal hinein, beiläufig, wie es alle Leute tun, die mit Textilien arbeiten: "Der Stoff hat Griff. Er ist in Bewegung." Moese lächelt, als er das sagt.

Jan Moese, 45 Jahre alt, leitet mit seiner Schwester Barbara Pauen, 46, in vierter Generation die Krawattenmanufaktur Ascot in Krefeld, der in Deutschland unangefochtenen Hochburg für dieses Textilstück. In den besten Zeiten, Anfang der siebziger Jahre, wurden hier jedes Jahr bis zu 33 Millionen Krawatten hergestellt; 80 Prozent des deutschen Marktes werden noch immer von hier aus bedient. Von den einst gut 200 Unternehmen, die es vor 15 Jahren in Krefeld noch gab, existieren inzwischen allerdings nur noch zehn, von denen lediglich zwei in der Stadt produzieren, die anderen sind textile Logistikzentralen. Ende 2008 wird Ascot mit einem Jahresumsatz von sechs Millionen Euro das letzte vor Ort produzierende Krawattenunternehmen sein. Mehr noch: In Deutschland ist Ascot so ziemlich das letzte seiner Art.

In den Fluren der Manufaktur fällt das Tageslicht hell durch die Oberlichter. Die Schritte auf dem schwarz-weiß marmorierten Linoleum klingen gedämpft, große Rollen mit bauschigem Füllstoff schlucken den Schall. Auf den Maschinen hängen schmale Stoffbahnen, an den Ständern baumeln Krawatten in allen Fertigungsstufen. Die Akustik ist nicht der einzige Grund für die hier herrschende Ruhe, es ist auch die Konzentration, die nur dann und wann von einem Wortwechsel unterbrochen wird. Und die überschaubare Zahl der Mitarbeiter: Von einstmals mehr als 200 sind 45 geblieben, davon acht im kaufmännischen Bereich.

500 Krawatten pro Tag, bis zu 500 Varianten pro Saison: Ascot ist neben Laco in Hamburg und Edsor Kronen in Berlin eine von drei deutschen Krawattenmanufakturen, die für das exklusive Segment produzieren, zu Handelspreisen zwischen 60 und 90 Euro pro Stück. Barbara Pauen schätzt, dass der Premium-Bereich weniger als fünf Prozent der etwa elf Millionen Krawatten ausmacht, die derzeit pro Jahr in Deutschland verkauft werden.

Durch mindestens zehn Hände geht eine Krawatte bei Ascot im Laufe der Produktion. Hände, die Schablonen auf die aus Norditalien gelieferte Jacquard-Seide legen, im Winkel von 45 Grad zur Webrichtung, wegen der Elastizität. Hände, die den Stoff unter das flink sausende Bandmesser legen, bis zu 30 Lagen dick. Hände, die die drei Teile des Oberstoffes mit dem Futter und dem Füllstoff verbinden. Hände die bügeln, zweimal, und zwar ­ besonders wichtig ­ nicht zu heiß. Das Eisen sollte im Dampf über dem Stoff schweben, sagt Jan Moese. Denn die Bügelkante einer guten Krawatte sollte zwar präzise sein, aber immer noch ein wenig rund. So entsteht ein leichter Kisseneffekt.

Gewiss, die Fertigung in Deutschland ist teurer als in Asien oder Osteuropa. Aber sie hat den Vorteil, dass Kundenwünsche, auch in kleiner Auflage, sehr schnell erfüllt werden können, ohne lange Transportwege. Das Konzept funktioniert bei Ascot nicht nur im Premium-Markt: Neben der Edel-Linie, die allein das Unternehmen nicht tragen würde, gibt es zwei preiswertere Kollektionen, "Hemley" und "Ken Tolby". Auch sie werden zu großen Teilen in Deutschland genäht, um die heimische Produktion permanent auszulasten. Erst wenn die Kapazitäten dafür nicht mehr reichen, werden Aufträge ins Ausland vergeben. Wohin auch viele Binder später wieder gehen: 60 Prozent aller Ascot-Krawatten werden exportiert.

Schmaler, breiter, länger, kürzer. Krawatten sind ein Fashion-Produkt, in den vergangenen Jahren häufig zum Leidwesen der Manufakturen. Schon die 68er und ihre Kinder gingen ohne Binder. In der Phase der New Economy weitete sich der Casual Friday, der krawattenfreie Freitag, auf die Woche aus. Die Generation Google kommt gleich ganz ohne Anzug zur Arbeit. Heute scheinen nur noch Nachrichtensprecher und Vorstandsvorsitzende an klassische Kleidungsvorschriften gebunden zu sein. Der Binder stirbt aus, auch wenn das Deutsche Krawatteninstitut in Krefeld noch immer jedes Jahr tapfer einen "Krawattenmann des Jahres" kürt.

Im Grunde, sagt Seniorchef Wolfgang Moese mit einer charmanten Sprachmelodie, in der Ironie und fröhlicher Pragmatismus mitschwingen, im Grunde sei Giorgio Armani an allem schuld. Der habe Anfang der achtziger Jahre damit begonnen, zum Jackett nur noch ein T-Shirt zu tragen. Moese, 68 Jahre alt, die gleichen klaren Augen wie sein Sohn, hockt mit einem Mitarbeiter vor dem geöffneten Bauch einer Strickmaschine. An dem komplexen mechanischen Apparat wird das Strickmuster mittels unendlich vieler kleiner Stellschräubchen programmiert, zum Beispiel für Strickkrawatten der französischen Edelmarke Hermès, die Ascot als Lizenznehmer genauso herstellt wie die Seidenbinder für René Lezard.

Sprich mit mir, sagt der Elefant

Nur in den neunziger Jahren wurde die Zeit der "Bindungsangst" durch einen kurzen Zwischen-Boom unterbrochen, besonders bei den Motivkrawatten. Oder wie es auf Englisch heißt: "conversational ties". Krawatten mit Aufdrucken, die man als textile Aufforderung verstehen kann, den Träger anzusprechen. Die Musterbücher jener Zeit ähneln Bilderbüchern für Kleinkinder. Etwa die Kollektion von 1995: Pferde, Elefanten, Lampenschirme, Gänseblümchen, Schmetterlinge, sogar Kronkorken. Kein Freudenfest für die Augen der Menschheit, für die Krawattenhersteller allerdings schon: So ein Stück schaut man sich dreimal an, dann muss etwas Neues her. "Man muss das alles mitmachen", sagt Jan Moese mit einem Blick, der ausdrückt, dass eben jeder nach seiner Fasson selig werden soll.

Wolfgang Moese erzählt von seinem Großvater, der als Vertreter eines Krawattenherstellers durch die Lande zog, bevor er die Firma 1908 gründete. Das war die Zeit, in der man in Krefeld die Namen der Seidenbarone noch mit einem Raunen aussprach. 20, 30 Familien, die immensen Reichtum für sich und die Stadt erwirtschaftet hatten. Begründet wurde der Wohlstand durch die Familie von der Leyen, Mennoniten, die als Glaubensflüchtlinge Mitte des 17. Jahrhunderts in die liberale Stadt gekommen waren und die erste Seidenweberei betrieben.

Mit der Gewährung der Monopolrechte durch Friedrich II. begann der Aufstieg Krefelds zur "Samt- und Seidenstadt". Heute fällt im Straßenbild weder ein Übermaß an Samt und Seide noch an edlen Krawatten auf. Sports- und Streetwear, auch bei Menschen weit jenseits der 40. Wie überall. Oder wie Wolfgang Moese formuliert: "Der Rest ist Adidas." Aber er weiß: Das kann sich auch wieder ändern. Je schlechter die Konjunktur, desto mehr Leute tragen Krawatte ­ aus Furcht, beim Chef durch schlechte Kleidung aufzufallen.

Wolfgang Moese arbeitete schon mit zwölf Jahren zum ersten Mal nach der Schule in der Fabrik, angeleitet von seinem Vater, der sich vom britischen Pferderennen in Ascot zum heutigen Markennamen inspirieren ließ. In Moeses Generation wurde man nicht nach Berufswünschen gefragt. Aber er wollte auch gar nichts anderes: Mit 21 trat er in die elterliche Firma ein. Seinen Kindern Jan und Barbara allerdings hat der Seniorchef die Entscheidung freigestellt.

Während sie aufwuchsen, musste er die familieneigene Weberei schließen, er hat miterlebt, wie die Fertigung der meisten Firmen im Laufe der Jahre erst nach Italien, dann in die Türkei, nach Indien und schließlich nach China wanderte. "Dort laufen heute die alten Maschinen, die früher einmal hier standen."

Das Wissen jedoch, wie man den "fließenden Griff" einer echten Ascot hinbekommt, ist in Krefeld geblieben. Hier werden Krawatten noch ernst genommen. So ernst, dass selbst bei den rheinischen Karnevalsritualen am Altweiberdonnerstag keine einzige abgeschnitten wird. Das bringt in Krefeld einfach niemand übers Herz.