Der Kiosk der Nation

Was die Lebensmittel vom Niederrhein über den Niederrhein verraten.




"'Ne Mettwurst", sagt Kolja Kleeberg und schmatzt, "'ne schöne Mettwurst, mit Schwarzbrot. Oder, nee ...", der Sternekoch hebt die Hand, produziert mit seiner Zungenspitze wieder dieses feine, forschende Geräusch, dann korrigiert er sich, ruft "Sardinen!", und alle am Tisch nicken. Sardinen zum Altbier, gute Idee.

Kleeberg greift in den Haufen Süßkram, zieht ein Mars raus, "wir sind doch jetzt bei den süßen Sachen, oder?", und packt den Riegel aus, ohne auf eine Antwort zu warten. Die Meute folgt ihrem kulinarischen Leitwolf, macht sich über die Twixe, Balistos, Prinzen Rollen und Katjes her, reißt Packungen auf und isst sich mit Genuss, Getöse und Sachverstand durch die essbaren Exportartikel aus Viersen, Emmerich und Kempen.

Es ist vier Uhr nachmittags, lautlos decken die Kellner in Kolja Kleebergs Restaurant "Vau" die Tische für den Abend ein, 110 Euro kostet hier das Sechs-Gänge-Menü. Wir sitzen im hinteren Bereich, in einer gemütlichen Nische gegenüber der Bar. Der Tisch sieht aus wie beim Teenager-Geburtstag: Saft-Tüten, Altbierflaschen, Knabbergebäck, bunte Schokoware und schrille Innovationen aus dem Süßwaren-Regal. Auf dem Nebentisch steht eine Torte, die wollen wir später essen, als Dessert. Aber vielleicht kommt sie früher dran als geplant, der Speiseplan gerät gerade ziemlich durcheinander.

Mit Ordnung war ohnehin nicht zu rechnen. Denn egal, aus welcher Perspektive man den Niederrhein betrachtet: Je näher man kommt, desto größer wird das Durcheinander. Nicht mal die Einheimischen selbst bringen sich auf den Punkt. Den Niederrheiner gebe es gar nicht, sagt Ronald Pofalla, CDU- Generalsekretär und Bundestagsabgeordneter, Wahlkreis Kleve: "Man wird in dieser wunderschönen Region wahrscheinlich niemanden finden, der sich analog zu einem Schwaben oder Friesen selbst als Niederrheiner bezeichnet. Denn der Niederrhein ist weder historisch, kulturell, geografisch noch politisch eine klar umrissene Einheit. Grob gesagt, liegt der Niederrhein zwischen der holländischen Grenze bei Venlo, Westfalen, dem westlichen Ruhrgebiet und oberhalb von Düsseldorf."

Grob gesagt, liegt der Niederrhein also irgendwo zwischen, westlich und oberhalb von. Industriell herrscht dort Pluralismus. Es gibt nichts Großes und nichts Ganzes. Andere Regionen haben Wahrzeichen. Der Niederrhein hat alles Mögliche. Mittelgroße Industrien, mittelgroße Städte, mittelschönes Wetter. Es gibt eine gesunde Stahlindustrie, und die Aluminiumbranche ist geballt vertreten, weil sie hier die enormen Mengen an Strom bekommt, die sie braucht; rund um Grevenbroich graben riesige Braunkohlebagger die Erde um, Wasser- dampf und Qualm verdunkeln da den Himmel. Ein bisschen Textil und Mode gibt es noch, jede Menge Landwirtschaft, ein wenig Chemie und Logistik. Im Nordwesten, bei Weeze, mausert sich ein alter Militärflughafen zum Mekka für Pauschaltouristen. Am Rhein, bei Kalkar, stand mal ein Atomkraftwerk, da steckt nun aber ein Vergnügungspark drin. Auf Wiesen, Auen und Inseln sieht man viel Vieh und noch mehr Gebäude von atemberaubender Schönheit, innen befindet sich oft Kunst von Weltrang. Da pilgern die Besucher in Scharen hin, genau wie nach Kevelaer, dem offiziellen Wallfahrtsort nahe der niederländischen Grenze.

Das alles ist schön und gut. Aber das ist doch keine Gegend! Eine Region, die mehr Ausflugsziele als Standorte hat. Jede Kirmes ist homogener als dieser Mischmasch aus Industrien, Kirchen, Museen und Wasserstraßen. Der Nie-derrhein ist ein mäanderndes, unsortiertes Flussdelta, voller Exkurse, unterhaltsam, grenzenlos, ausufernd ­ wie die Schachtelsatz-Ranken von Hanns Dieter Hüsch, diesem Herren-Rapper an der Philicorda-Orgel.

Kraut und Rüben

"Wenn es eine Jury gäbe, die über die Aufnahme von Landschaften in das Repertoire klassischer Regionen zu entscheiden hätte, so erhielte der Niederrhein sicherlich eine gepfefferte Mängelliste", schreibt der Historiker Eckehart Stöve. Zu viel von allem hatten sie hier ­ Herrscher, Sprachen, Religionen ­, um sich auf einen Nenner bringen zu lassen.

Das Einzige, das sich kaum veränderte, ist die Landschaft. Nasse Wiesen, fette Böden, hier wurden immer schon Gemüse, Obst, Nutzpflanzen angebaut; und seit der Industrialisierung wurden die Feldfrüchte nicht nur geerntet, sondern massenweise verarbeitet, konserviert, raffiniert, verfeinert, verpackt und über den Rhein ins Ruhrgebiet gekarrt, wo Hunderttausende Stahl- und Bergarbeiter ständig Kohldampf schoben.

Bis heute finden sich hier überall Anlagen, deren Output sich in Kalorien messen lässt. Denn über Jahrhunderte ist die Lebensmittelbranche des Niederrheins zu einem mächtigen, milliardenschweren Wirtschaftsfaktor gewachsen ­ tief verwurzelt von Nord bis Süd.

Die Besitzverhältnisse dieser großen, alten Marken, Fabriken und Raffinerien sind kompliziert. Es gibt Familiendynastien, Weltkonzerne und Start-ups. Marken wie Underberg, Katjes oder Diebels blicken auf rund hundert, teilweise hundertfünfzig Jahre Geschichte zurück. Andere sind noch älter. Die Privatbrauerei Bolten produzierte in Korschenbroich schon Altbier, da war Napoleon Bonaparte noch lange nicht geboren, jener Korse und Franzosenkaiser, der Anfang des 19. Jahrhunderts Ordnungsmaßnahmen verhängen sollte, die in zahlreichen Rheinbundstaaten eingeführt wurden und die den Landstrich bis heute prägen.

Es war eine perfekte Arbeitsteilung. Links des Rheins hatten sie fette Erde, rechts davon Hunger. Linksrheinisch wurde produziert, rechtsrheinisch verschoben und verteilt. Noch heute sitzen die großen Handelskonzerne auf der anderen Rheinseite, quasi in Rübenwurfweite. Metro in Düsseldorf, Tengelmann in Mühlheim an der Ruhr, genau wie die Zentrale von Aldi-Süd.

Die Lebensmittelindustrie hat Wohlstand und Wachstum in die Region gepumpt, und das tut sie noch heute. Daher diese Verkostung. Sie ist eine Abkürzung. Denn während wir die komplexe Wirtschaftsgeschichte durchgehen ­ Napoleon, Rohstoffkriege, Zucker, EU und Globalisierung ­ eine Geschichte, in der Multikulti und Kirche vorkommen, Konsum und Industrie, Kraut und Rüben; während wir also die ganze Historie durchkauen, können wir uns gleichzeitig dem Genuss hingeben und uns die Produkte dieser Industrie in bekömmlichen Einzelportionen auf der Zunge zergehen lassen.

Wir, das sind Kolja Kleeberg, Sternekoch aus Berlin, der sich bei der Kochshow von Johannes B. Kerner regelmäßig als Mann von Weltoffenheit und Geschmack erweist. Und Thomas Platt, Gastro-Kritiker (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Die Zeit) und Drehbuchautor ("Hausmeister Krause", "As-terix in Amerika", "Werner ­ Eiskalt"); ein Mensch also, der schier unverein-bare Extreme in einer Person vereint ­ perfekt für diesen Test. Der Autor dieses Stücks isst natürlich auch mit, klar. Unsere Mission: Gucken, ob man was rausschmeckt ­ wie der Niederrheiner sagen würde. Wer weiß, vielleicht kommen wir mit Geschmack, Allgemeinbildung und Wirtschaftswissen hinter das Geheimnis dieser Region?

Wir haben also eingekauft, was vom Niederrhein stammt: Katjes-Kinder und Yoghurt-Gums von Katjes, Malzbier und Krefelder der Brauerei Feldschlösschen, Apfelsinensaft von Krings, Altbier von Diebels und von Bolten, Kerry-gold-Butter, Onken-Quark, Traubenzucker von Dextro Energy, eine Prinzen Rolle von de Beukelaer, Balisto, Mars und Twix, Chipsfrisch von Funny Frisch, Thomy-Mayonnaise, ein alkoholisches Mischgetränk namens Puffsbrause, ein Päckchen Sauerkraut von Leuchtenberg und zwölf Fläschchen Magenbitter von Underberg.

Torte und Mutproben

Die Grillagetorte auf dem Nebentisch ist selbst gebacken. "Aaah, eine Grillage- torte", rief Kolja Kleeberg, als er sie sah. Genussvoll dehnte er dabei das a, die beiden ll verkürzte er zu einem weichen j, und das klang, als wäre die Torte der süße Höhepunkt eines französischen Grillfestes. Tatsächlich heißt es Grillaschtorte, mit Betonung auf dem i, die Leckerei ist Niederrhein pur. Sie besteht aus einem Baiserboden (Eiweiß, Zu-cker, Haselnussmehl), einer halbgefrorenen Stracciatella-Sahneschicht in der Mitte und einer dicken Lage frischen Krokants (in Zucker geröstete, anschließend zerstoßene Mandeln), Zutaten, die jede Küche bei der Zubereitung nach Kirmes duften lassen.

Früher gab es die Grillaschtorte vor Ort in jeder Bäckerei, heute ist es um die Kalorienbombe ruhig geworden. Interessanterweise gibt es sie nur am Niederrhein, woanders ist sie völlig unbekannt. Und interessanterweise deckt sich ihr Verbreitungsgebiet mit dem des Altbiers, diesem mit dunklem Malz versetzten Bier, das sie hauptsächlich am Niederrhein brauen. Das ist historisch bedingt: Hier war das Land sumpfig, sie hatten keine richtigen Keller, schon gar keine Felskeller. Die braucht man aber, um im Winter Eis zu ernten ­ das es hier auch so gut wie nie gab ­, darin einzulagern und damit untergäriges, helles und länger haltbares Pils zu brauen. Kein Eis, kein Exportbier (daher auch der Name), aber egal, wir schweifen ab, zurück zum Niederrhein.

Die Grillagetorte wollen wir stellvertretend für rustikale, vom Aussterben bedrohte Spezialitäten verkosten, etwa Himmel und Erde (Kartoffelbrei mit Apfelmus) oder Panhas, das sind Scheiben einer aus Schlachtabfällen und Buchweizenmehl bestehenden Blutwurst, in den Niederlanden auch als Balkenbrij bekannt.

Wir brauchen keinen Balkenbrei. Der Niederrhein stellt uns auch so vor eine kulinarische Mutprobe. Er hat uns eine kalorienreiche Tafel gedeckt. Alles ist süß, fett, salzig, enthält Alkohol oder kombiniert ­ wie der Alkopop aus Krefeld oder die Chipsfrisch aus Wevelinghoven ­ gleich mehrere Attribute. Die Kornkammer Deutschlands muss woanders sein. Bier, Butter, Sauerkraut, Quark, Mayonnaise, Chips, Knabberzeug und Schokolade führt auch jede gut sortierte Stehbierhalle. Der Niederrhein ist eher der Kiosk der Nation.

Kleeberg hat sich rausgepickt, was ihm am nahrhaftesten erschien, eine kleine Tüte Sauerkraut, Marke Leuchtenberg. "Hmmm", machte er, zog die Augenbrauen hoch, "sehr mild", schmatzte, was bei ihm feiner klingt als bei anderen Menschen, dann tat er sein Ergebnis kund: "Guter Biss, wenig Säure, kein Schwefel, sehr gut. Dazu 'ne Mettwurst, Kassler oder Speck", sprach er und erkundigte sich nach dem Preis.

69 Cent kostet die Portion, Leuchtenberg sitzt in Neuss, Europa-Marktführer sind sie, für Sauerkraut und Rotkohl in Tüten. "Ach!", sagt Kleeberg, als Thomas Platt, Badener und daher von Geburts wegen Fachmann für saures Kraut, sich einschaltet und widerspricht. Und zwar vehement. Er fühle sich an Tütensuppe erinnert, das sei ihm zu Fünf-Minuten-Terrinen-artig, sagt Platt, während Kleeberg eine Flasche Diebels öffnet und allen von Deutschlands Altbier Nummer eins einschenkt. Diebels wurde 2001 von Interbrew aufgekauft (dem größten Braukonzern der Welt, der sich seit 2005 InBev nennt), weswegen sie, nebenbei bemerkt, in Issum auch schon mal die eine oder andere Flasche Beck's abfüllen. Dann kommt Kleeberg auf "Mettwurst" ­ "nein, Sardine!" und erklärt das süße Büfett für eröffnet. Worauf das Chaos losbricht. Mars, Twix, Balisto, Katjes-Kinder, Yoghurt-Gums und Prinzen Rolle, Onken, Mayonnaise, Torte ­ wir essen alles durcheinander. Aber durcheinander stimmt nicht. Kreativ ist richtig.

Der Underberg zum Beispiel passt ausgezeichnet zu den Lakritz-Katzen, findet Kleeberg, der gerade eines der kleinen Fläschchen geöffnet hat und nun an einem Lakritzkätzchen lutscht. Tatsächlich: Das würzige Lakritz, das sich im herben, bitteren Kräuteraroma des Digestif in leichten Anisnoten auflöst: herrlich!

Dann rennt Kleeberg zur Bar, holt ein Fläschchen Angostura und träufelt daraus etwas in seine Handfläche, in die er vorher ein Tütchen Ahoj-Brause (gehört zu Katjes, kommt aber aus Remshalden nahe Stuttgart) geleert hat. "Hm, interessant", sagt er. Platt hält dagegen, indem er einen Kartoffelchip mit Angos-tura tränkt und in der Runde kreisen lässt. Auch interessant, aber nicht ganz so "hm" wie die Brausekombi.

Katjes und Underberg liegen übrigens auch geografisch nah beieinander. Zwischen dem Werk von Katjes Fassin in Emmerich und dem Sitz von Underberg in Rheinberg liegt bei Wesel ein Hügel, namens Onderberg. Da kam Hubert Underberg her. Heute brauen seine Nachfahren ein paar Kilometer südlich davon, auf der anderen Rheinseite, den Magenbitter. Unter der Adresse Hubert-Underberg-Allee 1, 47495 Rheinberg residiert auch eine "Sportfit Fruchtsaft GmbH und Co. KG", deren Marken Dr. Siemer und Wolfra wir nicht testen, da sie woanders produziert werden.

Diese Verklumpungen aus Mischbesitz, Fusionen und Beteiligungen sind hier überall. Einerseits gibt es echte Food-Kraken, die ihre Tentakel von hier aus in alle Richtungen strecken (Katjes, Bofrost, Underberg). Andererseits finden sich hier viele Sortiments-Ergänzungsmittel wie zum Beispiel Onken (cremig, angenehme Textur), die im Moerser Gewerbegebiet Hülsdonk-Nord sitzen und seit 2004 zu Dr. Oetker gehören, weil der Bielefelder Konzern seine "Präsenz im Kühlregal stärken" wollte, wie es bei solchen Anlässen immer so schön heißt.

Lakritz-Katzen und Allianzen

Gastro-Kritiker Platt hält mittlerweile einen Vortrag über die Vorteile der Süßrahmbutter (frisch) und Omega-Drei-Fettsäuren (gesund), während er einen Schnitz Kerrygold probiert. "Für eine Industriebutter gar nicht übel", sagt er, beäugt aber misstrauisch das goldgrüne Päckchen. Die Erklärung: Kerrygold ist die Dachmarke des irischen Molkereiverbandes IDB (Irish Dairy Board), 1961 gegründet, um den Absatz irischer Milch im Ausland anzukurbeln. 1973, als Irland der Europäischen Union (damals noch EWG) beitrat, fanden sie in der Vereinigung Rheinischer Molkereien (VRM) einen idealen Partner, um ihre Butter erst ins Ruhrgebiet, dann ins übrige Deutschland zu exportieren. 1998 schluckten die Iren die VRM, benennen sie später in IDB Deutschland um. Heute ist Kerrygold die mit Abstand meistverkaufte Butter in Deutschland, 35000 Tonnen Butter und Käse werden jedes Jahr von der grünen Insel nach Neukirchen-Vluyn geschifft und in goldige Portionen verpackt.

Ja, so ist er, der Niederrheiner. Öffnet Tür und Tor, gießt Lakritz in Katzenförmchen und lässt sich fremde Butter aufs Brot schmieren. Während die DDR und die BRD noch Spiel ohne Grenzen gucken, die einen heimlich, die anderen aus didaktischen Gründen, lässt er die eigenen Kühe ungemolken auf der Weide stehen und schmiedet hinterrücks bilaterale Handelsallianzen mit Insel-Europäern.

Die Butterfreundschaft mit Irland war natürlich sinnvoll. Milch war nie das große Geschäft am Niederrhein. Aber es bedarf für eine solche Kooperation (es war die Zeit der Butterberge) auch einer gehörigen Portion an Vaterlandsblindheit. Patrioten sind sie nicht.

Der Niederrheiner ist ein Mündungsdeutscher; hier floss von allem was durch. Die Römer waren hier, aber auch Spanier und Niederländer, die sich in einem Achtzigjährigen Krieg gegenseitig die Köpfe einschlugen ­ am Niederrhein tankten sie auf. Die Wittelsbacher waren auch mal da, große Fürstenhäuser, und nur ein kleines bisschen Preußen und natürlich Napoleon: Der große Franzose führte Verwaltung ein, seine Offiziere die berühmten "Fisimatenten" und gerade, befestigte Straßen.

"Napoleon brachte auch das Kraut an den Niederrhein. Und die Rübe", ergänzt Thomas Platt den Exkurs und ruft: "Das hat doch mit der Kontinentalsperre zu tun!" Der Hausmeister-Krause-Autor hat recht: Napoleon, kurz nachdem er bei Trafalgar gegen die Seemacht England verloren hatte, verfügte ein Handelsembargo gegen die Insel. Statt aber die Engländer wirklich abzuschneiden, begünstigte die Sperre lediglich den Schmuggel (über die Niederlande) ­ und schnitt Europa von wichtigen Waren ab, unter anderem von Tuch und dem hoch begehrten Zucker, damals noch aus Zuckerrohr. Zum Glück hatte aber ein deutscher Wissenschaftler zur selben Zeit herausgefunden, dass sich der begehrte Stoff auch aus Rüben kochen lässt. Das war der Segen für den Niederrhein.

Die Sperre brachte die Textilindustrie nach Mönchengladbach, Krefeld und Düsseldorf (wegen der Schifffahrtswege und der Nähe zur Kohle). Nach der Niederlage von Waterloo holte die Konkurrenz aus Manchester wieder auf. Doch von Seide, Krawatten und Mode verstehen sie hier bis heute was.

Die Sperre brachte auch die Rübe, wegen der fetten Böden. Und die Zuckerrübe blieb. Sie wurde zum Treibstoff der industriellen Revolution. Die Maschinen liefen mit Steinkohle und Braunkohle. Aber auch die Industriearbeiter brauchten Energie: Bier und gesüßte, konzentrierte, industriell gefertigte Nahrungsmittel. Deutscher Zucker wurde zum Exportschlager. "Die innovationsfreudige Zuckerbranche war vor dem ersten Weltkrieg die wichtigste Exportindus-trie des Deutschen Reichs, wichtiger als der Kohlebergbau oder die Maschinenindustrie", schreibt der Schweizer Wirtschaftshistoriker Christoph Maria Merki.

Misch und Masch

Für Innovationen braucht es Durcheinander, Misch und Masch, kurze Wege, kleine Schranken. Und all das hatte der Niederrhein schon immer. Richtig Ordnung herrschte hier nie, sogar die hochdeutsche Sprache kam zu spät an. Weil hier jeder von woanders herkam, plapperten sie ein herrliches Durcheinander, eine Art Wechselsprech, wie es eben passte. Bis ins 18. Jahrhundert hatte "jede Institution, ja jede Person, nicht nur ihren Stil, sondern auch ihre Sprache, besser, ihre Sprachen", schrieb der Literaturwissenschaftler und Mediävist Helmut Tervooren: "Welche sie verwendete, hing von der Kommunikationssituation ab, hing davon ab, ob sie sprach oder schrieb." Ständig wechselnde Nationalitäten bei Gesprächspartnern, Vorgesetzten, Fürsten und Kirchenoberen machten jeden Einheimischen zum linguistischen Multitalent.

Auch weltanschaulich bot der Niederrhein eine kompottartige Konsistenz. Mit jedem Herrscher, Händler, Flüchtling kam eine neue Konfession. Im merkantilen Geflecht trafen die Glaubensbekenntnisse enger und unmittelbarer als anderswo aufeinander: Katholiken trafen auf Reformierte, Calvinisten, Juden, Pietisten, Täufer, Mennoniten, Papisten und Sakramentierer.

Diese Buntheit ließ sie in den Augen anderer lange unscharf bleiben. Aber sie hatte natürlich auch Vorteile: Der gemeine Niederrheiner ist bis heute ein Meister des Durchwurstelns. Die Verkehrsregel fürs Chaos, eine Art gesellschaftliche Rechts-vor-links-Regel, die für Ruhe, Ordnung und eine bis heute nachweisbare übergroße Menge an Toleranz und Zuversicht sorgen sollte, diese Formel für das allgemeine Zusammenfließen aller fanden sie Anfang des 17. Jahrhunderts.

Mitte des 16. Jahrhunderts herrschten Mord, Totschlag und Intrigen im vordeutschen Reich. Es ging um Erbfolgen, Konflikte zwischen Kirche und Ständen und um die Rolle der reicher werdenden Städte und ihrer Bürger. Der Augsburger Frieden ­ eigentlich war er ein Waffenstillstand ­ regelte ab 1555 das Miteinander der Religionen, um dem Hauen und Stechen ein Ende zu bereiten; und um den Bewohnern der florierenden Städte endlich Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten.

Am Niederrhein brauchte man keinen Waffenstillstand. Die Vielfalt der Religionen hatte längst Verhältnisse geschaffen. Diesen bunten Strukturen wollte man eine Form geben. Und so ersannen die Bewohner der Region im Jahre 1609 einen wunderschönen, einfachen Satz für das friedliche Zusammenleben der Konfessionen: "Niemanden in seinem Gewissen zu turbiren, zu molestieren noch zu betrueben." Heute würde man sagen: "Jeder Jeck ist anders." Soll doch jeder machen, was er will!

Die Raffinesse, Innovation und Kraft dieser sogenannten Gewissensformel kann nicht überbetont werden. Mehr als 150 Jahre später erklärten die Vereinigten Staaten von Amerika in ihrer Declaration of Independence das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück zu unveräußerlichen Rechten. Leider kann die direkte Vorfahrenschaft der niederrheinischen Formel in Bezug auf die Moderne, ja, die Aufklärung, nicht direkt nachgewiesen werden. Fest steht: Hier haben sie große Koalitionen, Toleranz und Strukturwandel deutlich früher eingeübt als sonstwo in Europa.

Krümel und Giganten

Ihrem Sprach- und Gesinnungspluralismus, den sie kollektiv prima fanden und natürlich gut fürs Geschäft, gaben sie eine geniale gesetzliche Form. Diese Anti-Molestierungsformel haben sie immer mitgeschleppt, die tragen sie in sich. So machen sie aus Durcheinander ein Nebeneinander. Und so ist der Niederrheiner geworden, was er ist: ein gemütvoller Flachwurzler, der den Mischmasch zur Tugend erhebt. Einer, der ein Kernkraftwerk zum Vergnügungspark umbauen lässt und eine Raketenstation zu einem Kunst-Areal. Hanns Dieter Hüsch würde das Dialektik nennen. Kraut und Rüben. Underberg mit Katjes. Chips mit Angostura.

Das macht die Unternehmen vom Niederrhein so anpassungsfähig. Ist doch wurscht, wem der Laden gehört. Hauptsache, er läuft. Dextro Energy, Thomy, Krings sind alle in Konzerngeflechten eingebunden. Auch die Funny-Frisch-Fabrik in Wevelinghoven, kurz vor Gre-venbroich, ist nur ein Krümel in der Tüte von Intersnack (Deutschlands Marktführer im Bereich salzige Knabbereien), der seinerseits wiederum nur ein kleiner Pom-Bär im großen Wirtschaftszirkus des Kölner Zuckergiganten Pfeifer & Langen ist.

Wir essen gerade Schokoriegel, Mars, Twix, Balisto, die in Viersen ­ "10000 Snacks pro Minute, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 58000 Tonnen im Jahr" ­ vom Band der Mars Deutschland GmbH (Whiskas, Kitekat, Chappi, Pedigree, Uncle Ben's, Ebly) laufen.

"Wahrlich eine moderne industrielle Erfindung", wie Thomas Platt uns belehrt. Mit dem Industriekonfekt, Toffifee zum Beispiel (1973 von Storck erfunden, damals noch in Westfalen), sagt Platt, "kamen zum ersten Mal so unterschiedliche Texturen wie Schokolade, Karamell, Nuss-Nougat-Creme und eine Haselnuss in einem Produkt zusammen, was für völlig neue Esserlebnisse sorgte." Es folgte die Schokolade-mit-Karamell-und-Keks-Phase, die uns Twix bescherte, kurz darauf die Schokolade-mit-Keks-und-Früchten-Phase: Balisto. Aber dem Balisto-Esserlebnis wollen wir nicht mehr folgen. Zu laut, zu viel Marketing und theatralisches Geschmacksdesign, um Gaumen zu überzeugen, die in den sechziger und siebziger Jahren konditioniert wurden.

Auch schaumige Innovationen à la Yoghurt-Gums, Fred Ferkel oder Happy Hörnies aus dem Hause Katjes Fassin schieben die Tester beiseite, ebenso die Little Harmonies, "unsere Women Range für die Naschkatze in Dir!", wie der Hersteller auf der Web-Seite textet, "kleine Köstlichkeiten aus besonders hochwertigen Zutaten im schlanken Beutel". Kleeberg schüttelt den Kopf. "Da lobe ich mir die Katjes-Kinder. Die gaukeln nichts vor. Die sind, was sie sind", sagt er, nimmt sich noch eine Lakritz-Katze, dazu einen Tropfen Underberg.

"Wollen wir nicht mal die Grillagetorte probieren?", fragt der Sternekoch jetzt, holt ein Messer, teilt die Krokant- Stracciatella-Kreation in kleine Stückchen und verteilt. Kleeberg nimmt eine Gabel voll, die malzige Krokantschicht, die nach gebrannten Mandeln schmeckt, er schmatzt und schmeckt die Zartbitter-Schokolade, die Madagaskar-Vanille vielleicht, und ruft: "Ein Altbier! Dazu passt ein Altbier."

So bringt er intuitiv zusammen, was verbreitungstechnisch tatsächlich zusammengehört. Kolja Kleeberg steht auf, lässt den Plopp-Verschluss eines Boltens-Ur-Alt ploppen, schenkt allen ein und beschert uns zum Abschluss ein Niederrhein-Erlebnis der perfekten Art. Zwei Scheingegensätze vereinen sich. In diesem Fall: Torte und Bier. Der Geschmack: herb, malzig, Wahnsinn! Bloß keine Sardinen jetzt.