Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen

Ein weltberühmtes Orchester + eine Schule in einem Problembezirk = Harmonie in der Hochhaussiedlung.




"Wenn man sich mit voller Kraft auf die Musik wirft, färbt das auf alles andere ab." Mark Scheibe, Komponist

Auf dem grünen Hügel an der Neuwieder Straße, ganz im Osten Bremens, standen bis vor wenigen Jahren baufällige Hochhäuser. Sie gehörten zu der Siebzigerjahre-Wohnsiedlung Tenever, in der Menschen aus mehr als 80 Nationen leben, darunter viele, die auf Hilfe vom Staat angewiesen sind. Damals waren viele Wohnungen verwaist: Wer konnte, machte um das Viertel am Rande der Stadt einen weiten Bogen. Heute bedeckt den Hügel eine saftige Wiese, auf der einmal im Jahr ein Zelt von den Ausmaßen eines Mehrfamilienhauses aufgebaut wird. Aus der ganzen Stadt pilgern dann Menschen hierher. Taxis fahren vor, aus der Straßenbahn drängen die Besucher, selbst aus Hamburg oder Hannover reisen Gäste an. Sie alle versammeln sich, um etwas zu sehen, das es wohl nur auf diesem grünen Hügel gibt: eine Stadtteiloper.

Aufgeführt wird sie von Schülern der Gesamtschule Bremen-Ost, kurz GSO, und von Musikern der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Die Ränge im Zelt sind bis auf den letzten Platz besetzt. Hinter der Bühne: Schüler in bunten Kleidern. Rund 300 haben dieses Jahr mit ihren Lehrern Kostüme und Bühnenbild gestaltet, Texte und Musikstücke einstudiert, wochenlang geprobt. Auf der anderen Seite warten Streicher und Bläser auf ihren Einsatz: die Profi-Musiker, die Tschaikowskis Oper "Iolanta" mit den Schülern einstudiert haben.

Es ist kurz vor halb acht, als die Scheinwerfer aufstrahlen und es im Zelt still wird. Albert Schmitt und Franz Jentschke betreten die Bühne. Schmitt ist Geschäftsführer der Kammerphilharmonie, Jentschke Schulleiter an der GSO. "Lassen Sie sich verzaubern", sagt er, "von einem Orchester von Welt und von Ihren Kindern und Enkelkindern."

Viermal schon haben Schmitts Musiker und Jentschkes Schüler zusammen eine Stadtteiloper aufgeführt. Diesmal gibt es gleich zu Beginn den ersten donnernden Applaus. Die Deutsche Kammerphilharmonie hat den Musikpreis "Echo Klassik" erhalten, vermeldet Schmitt, ihren siebten. Das klingt nach Routine. Aber etwas ist anders als sonst: Ausgezeichnet wird dieses Mal nicht eine bestimmte Produktion oder Paavo Järvi, der weltbekannte Dirigent, sondern das Zukunftslabor des Orchesters, in dem die Stadtteiloper entstanden ist. "Der Echo ist also der erste, der nicht unserer ist", sagt Schmitt, macht eine Pause und schaut sich im Publikum um. "Dieser Echo wäre nicht möglich gewesen ohne die GSO, ohne Osterholz-Tenever, ohne Sie alle."

Sie alle: Dahinter verbirgt sich eine einzigartige Symbiose aus Menschen und Musik, die als Provisorium begann - und sich zu einem beispiellosen Projekt entwickelte. Weil die Deutsche Kammerphilharmonie, ein Orchester von Weltrang, dringend einen neuen Konzert- und Probensaal brauchte, zog es 2007 nach Osterholz-Tenever in die Gesamtschule. Dort wurde aus der Notlösung erst eine Kooperation und dann ein Modell, von dem heute alle Beteiligten profitieren und dessen Ziel es ist, die kulturelle Bildung tiefer in der Gesellschaft zu verankern. Und das mitten in einem Problemstadtteil.

"Es ist Hammer, wie Musik Leute verbindet." Ozan Keskin, Tuba, Jahrgangsstufe 13

Ozan Keskin und seine Familie sind vor 16 Jahren hierhergezogen - mit wenig Geld und großen Hoffnungen. Der 19-Jährige trägt eine schwarze Lederjacke über dem T-Shirt und im Gesicht ein breites Grinsen: Heute Vormittag hat er eine Englisch-Klausur geschrieben, sechs Stunden lang; abends dann ein Auftritt mit seiner Band und der Deutschen Kammerphilharmonie. "Ein Hammer-Tag", sagt er.

Ozan war drei Jahre alt, als die Familie aus der Türkei kam, in eine Wohnung in der Neuwieder Straße, dort, wo heute der grüne Hügel liegt. Hochhaus, zehnter Stock, mit Blick auf andere Hochhäuser. "Es gab keine Spielplätze und keine Fußballplätze", erinnert er sich. "Man hat sich mit seiner Clique getroffen, und wenn eine andere Clique kam, dann hat man sich halt geschlagen."

Mit elf Jahren wechselte Ozan auf die GSO. Er kam in eine fünfte Klasse mit Musik-Schwerpunkt, in der jeder Schüler ein Instrument lernt. Er wünschte sich eigentlich Saxofon oder Schlagzeug, aber weil das die meisten wollten, ging er nach ein paar Tagen eben mit einer Tuba nach Hause, goldglänzend und halb so groß wie er selbst. Fortan lernte er ganze von halben Noten zu unterscheiden und die Luft so in das Mundstück zu pressen, dass aus dem großen Trichter Töne kamen.

Seine Schulnoten waren bestenfalls mäßig. Bis die Deutsche Kammerphilharmonie einzog und Ozan Fotos von der ersten Stadtteiloper "Faust II" im Schulflur hängen sah. Er selbst nennt diesen Moment einen Wendepunkt: "Damals habe ich begriffen, dass ich mein Leben in die Hand nehmen muss."

Seine Noten besserten sich, mit den Lehrern kam er besser klar. Derzeit bereitet er sich aufs Abitur vor. Seine Eltern macht das stolz. Der Vater ist Schneidermeister und musste kürzlich nach Duisburg ziehen, weil er dort eine Stelle fand; die Mutter hat lange als Produktionshelferin gearbeitet, dann wurde ihr Betrieb verkauft, jetzt hat sie einen 400-Euro-Job. Ozan macht als Erster in der Familie Abitur, er will Ingenieur werden. Und er will weiter Musik machen: mit der Band Tenever Brass, die seine Musiklehrerin Imke Howie gegründet hat. Außerdem hat er Kontakt zum Jugendsinfonieorchester aufgenommen, das unbedingt eine Tuba braucht.

"Ich habe Selbstvertrauen durch die Musik bekommen, ich bin offener zu den Menschen", sagt er. "Es ist Hammer, wie Musik Leute verbindet."

Vor einigen Jahren hat Ozan Keskin dank seiner Tuba Musiker aus Afrika kennengelernt - sie waren aus Ghana gekommen, um bei der zweiten Stadtteiloper mitzuspielen. Sie hatten Afrika nie zuvor verlassen, er führte sie durch Tenever. Vor dem Haus mit der Nummer fünf in der Neuwieder Straße zählten die Gäste beeindruckt die Stockwerke. "So hohe Häuser hatten die noch nicht gesehen."

"Wenn ich an den Applaus nach dem Beethoven-Zyklus in Yokohama denke und an den Jubel nach der Stadtteiloper 'Faust II' in Tenever, dann rieselt das Glück immer noch durch mich durch." Albert Schmitt, Geschäftsführer Deutsche Kammerphilharmonie

Als die Häuser Ende der Sechzigerjahre gebaut wurden, galten sie als Demonstrativbauvorhaben, das "modernen Menschen in einer mobilen Gesellschaft ein intensives, urbanes Lebensgefühl" geben sollte. Motto: "Urbanität durch Dichte." Das Experiment scheiterte. Als "Getto aus Beton" beschrieb das Handelsblatt die Hochhauskolonie Mitte der Achtzigerjahre. Die Süddeutsche Zeitung nannte Tenever 1994 in einer Reportage einen "Gefahrenort", in dem "zu viele Menschen mit zu großen Problemen" leben.

Auch die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen hatte zu jener Zeit große Sorgen. Ihre Geschichte weist ohnehin erstaunliche Parallelen zu der des schlagzeilenträchtigen Stadtteils auf: Beide kennen Not und Krisen - und beide lösten ihre Probleme, indem sie mit Konventionen brachen und auf ein hohes Maß an Demokratie setzten. Es passt, dass sich Orchester und Tenever in der Gesamtschule begegnet sind, um gemeinsam die Zukunft zu gestalten.

1980 von Musikstudenten gegründet, stand die Deutsche Kammerphilharmonie gleich mehrere Male vor dem Aus. Bis zum Beginn der Neunzigerjahre hatte das Orchester 1,5 Millionen Mark Schulden angehäuft. "Der Laden war klinisch tot", sagt Geschäftsführer Albert Schmitt heute. "So konnte es nicht weitergehen." Also stellte Schmitt seinen Kontrabass in die Ecke und machte sich an die Reanimation. Er verwandelte das Orchester in eine gemeinnützige GmbH, führte ein Controlling ein und suchte neue Geldgeber.

Gefördert wird die Kammerphilharmonie vom Land Bremen noch immer, mit rund 1,8 Millionen Euro pro Jahr, doch die machen inzwischen nur noch 35 Prozent der Einnahmen aus. 25 Prozent kommen von Sponsoren, den Rest erwirtschaftet das Orchester mit Konzerten, CD-Verkäufen, Managementtrainings und Fernsehrechten. Das Ensemble ist inzwischen weltweit so bekannt wie im kleinen Osterholz, und man merkt den Philharmonikern an, dass beides für sie wichtig ist: "Wenn ich an den Applaus nach dem Beethoven-Zyklus in Yokohama denke und an den Jubel nach der Stadtteiloper 'Faust II' in Tenever", sagt Schmitt, "dann rieselt das Glück immer noch durch mich durch."

Als Gesellschafter stimmen die 39 Musiker heute demokratisch darüber ab, was gespielt wird, wer mitspielen darf und was mit den Einnahmen passiert. Sie erhalten kein festes Gehalt, sondern Honorare für Proben und Konzerte. So können sie auch außerhalb der Deutschen Kammerphilharmonie mit anderen Musikern oder als Solisten auftreten. "Ich kann Einfluss darauf nehmen, wohin das Orchester navigiert", sagt der Trompeter Bernhard Ostertag. "Das motiviert doch sehr."

"Heute fühlt sich hier niemand mehr als Gettoratte." Hella Poppe, Stadtplanerin

Genau wie das Orchester demokratisierte sich auch Osterholz-Tenever. Wer sich davon ein Bild machen will, sollte das Büro der Projektgruppe Tenever in einem der Hochhäuser besuchen und mit Hella Poppe sprechen, Stadtplanerin beim Bremer Senator für Umwelt, Bau und Verkehr.

Wenn Hella Poppe zeigen will, wie sehr sich der Stadtteil in den vergangenen Jahren verändert hat, zieht sie ein Luftbild hervor. Tenever vor dem Stadtumbau: eine Hochhauswüste, in der irgendwann die Hälfte der rund 2600 Wohnungen leer stand. Dann rollt sie große, bunte Baupläne auf dem Tisch aus und zeigt auf all jene Gebäude, die seit 2004 abgerissen wurden. Knapp 1000 Wohnungen sind verschwunden, von 2003 bis 2009 wurde Tenever für mehr als 70 Millionen Euro modernisiert. Auf Poppes Plan sind Grünflächen eingezeichnet und rote Punkte: soziale Einrichtungen wie das Mütterzentrum, ein alkoholfreies Jugendcafé, ein Kinderbauernhof, ein Haus der Familie. Poppe sagt: "Heute fühlt sich hier niemand mehr als Gettoratte."

Das liegt auch an einer weiteren Besonderheit des Viertels: Die Bewohner stimmen regelmäßig darüber ab, in welche Stadtteilprojekte sie jährlich rund 330 000 Euro investieren. Aus dem Demonstrativbauvorhaben ist ein Demokratievorhaben geworden: Seit 1999 haben die Bewohner mehrere Hundert Initiativen angeschoben: Alphabetisierungsprojekte, Feste, Bewerbungstrainings, auch die Stadtteiloper wird immer wieder unterstützt. "Die Oper ist ganz wichtig für Tenever", sagt Hella Poppe. "Sie lockt Menschen an und zeigt ihnen, was in diesem Quartier alles passiert."

"Klassische Musik geht gar nicht, dachte ich anfangs. Da musst du erst eine Weile hinhören und sie auf dich wirken lassen, damit du entdeckst, was in ihr steckt." Aaron Dering, Trompete, Jahrgangsstufe 13

Die Stadtteiloper hat auch Simon Pühn hergelockt, weg aus Schwachhausen, einem besser betuchten Stadtteil, in dem die meisten Kinder wohlbehütet aufwachsen. Der 17-Jährige spielt seit zwölf Jahren Geige, er singt, tanzt, bekommt Klavierunterricht und hat nach eigenen Worten "Bühnenerfahrung und gelegentliche musikalische Engagements" - Theater und Fußball spielt er auch.

Simons Eltern spielen Geige, seine beiden Onkel sind Berufsmusiker. Und wenn Simon Pühn gewollt hätte, dann hätte er Jungmusiker in einem Orchester werden können.

Er wollte nicht. Er wollte nach Osterholz-Tenever, an die GSO, zur Deutschen Kammerphilharmonie. Dort sitzt er jetzt in den Proben neben dem Geiger Timofei Bekassov, der ihm hilft, das rasante Tempo in Schostakowitschs Scherzo aus "Zwei Stücke für Streichoktett" mitzugehen. Und die Schule? "An meiner alten Schule gab es viel Neid, da war man der blöde Streber, wenn man gut war. Hier freut man sich für den anderen, wenn der Erfolg hat", sagt Simon. "Hier herrscht ein klasse Klima."

Für diesen Eindruck gibt es handfeste Belege. Forscher von der Bremer Jacobs University haben 2007 und 2010 jeweils etwa die Hälfte der Schüler befragt. Ihre Studie zeigt, dass das Engagement des Orchesters an der GSO das Schulund Klassenklima verbessert hat. Außerdem stellten die Forscher fest, dass vom Miteinander vor allem die Jungen profitieren - sie erzielen bessere Noten, fühlen sich wohler und haben weniger Streit mit ihren Mitschülern.

Simon Pühn ist in Tenever auf Menschen getroffen, denen er sonst nie begegnet wäre. Auf Aaron Dering zum Beispiel. Simon nennt Aaron einen "supercoolen Typen", Aaron nennt Simon grinsend "unseren Stargeiger". Die Biografien der beiden könnten kaum unterschiedlicher sein: Aaron Derings Eltern kamen aus Ghana nach Deutschland und zogen in eines der Hochhäuser, die es heute nicht mehr gibt. Aaron sagt: "Wenn Leute von außerhalb 'sozialer Brennpunkt' sagen, dann sage ich: 'Fahrt doch erst mal hin!' Hier bin ich groß geworden, hier leben meine Freunde, hier hat sich viel getan."

Sein Vater arbeitet in einer Fleischfabrik, seine Mutter ist Hausfrau, beide hören gern Musik und singen in der Kirche. Ein Instrument haben sie nie gespielt. Aaron lernt an der GSO Trompete. Anfangs lieh er sich das Instrument von der Schule, später bekam er eine eigene, gebraucht.

Kann schon sein, dass es ein wenig pathetisch klingt, aber das Engagement der Kammerphilharmoniker verändert Biografien - und nebenbei begeistert es junge Leute für die bis dahin meist fremde Musik. "Klassische Musik geht gar nicht, dachte ich anfangs", sagt Aaron. "Da musst du erst eine Weile hinhören und sie auf dich wirken lassen, damit du entdeckst, was in ihr steckt."

Neulich ist er nach Berlin gefahren, zusammen mit Simon, Albert Schmitt und dem Schulleiter Franz Jentschke, den Echo Klassik abholen. Die Preisverleihung wurde im Fernsehen übertragen. Ein paar Millionen Menschen haben zugesehen, wie Simon Pühn, helle Haut und schwarzes Hemd, und Aaron Dering, dunkle Haut und weißes Hemd, den Preis entgegennahmen und strahlten.

Ein Abend, den beide nicht vergessen werden: Noch Wochen nach der Gala trägt Simon das orangefarbene Plastikband ums Handgelenk, das er am Eingang bekommen hat. Und wenn Aaron in der Schulmensa sitzt, dann ruft schon mal jemand: "Mensch, du bist doch der vom Echo!"

"Ich will, dass das Publikum mit Zauber im Herzen nach Hause geht, weil es junge Menschen sieht, die sich offenbaren, die sich im Schutz der Musik nackt machen." Mark Scheibe, Komponist

In der Mensa. Geschirr scheppert, Besteck klappert. Frauen mit weißen Hauben wuchten in großen Kellen Gemüseauflauf auf die Teller. Dazu gibt es Salat und einen maisgelben cremigen Nachtisch. Wasser bitte selbst zapfen. Kinder schreien, irgendjemand singt.

An einem der Tische sitzen die Bratschistin Friederike Latzko und der Geiger Gunther Schwiddessen gleich neben zwei Jungs, die ihr Matheheft voll schreiben. Pauline Blum aus der zwölften Klasse kommt dazu, heute hat sie mit den Profis für die "Melodie des Lebens" geprobt, eine Show, die im Rahmen des Zukunftslabors entsteht. Zwölfmal haben Schüler und Musiker sie seit 2007 aufgeführt, immer im Saal der Kammerphilharmonie unter dem Dach der Schule, fast immer ausverkauft. "Die Shows sind Kult", sagt Schwiddessen. "Unheimlich beglückend", sagt Latzko.

Häufig sogar beglückender als ein Konzert in Warschau, Paris oder Tokio. Die Bratschistin erinnert sich an den Auftritt einer Schülerin, die in einem Lied das zerrüttete Verhältnis zu ihrem Vater besang. "Unendlich intim" sei das gewesen, sagt die Musikerin, die zu dem Stück Bratsche spielte. "Die Musik hat ihr geholfen, damit umzugehen und in ihrem Leben eigene Schritte zu gehen."

Mark Scheibe setzt sich dazu, auf dem Tablett Kaffee für alle, die schwarze Haartolle hängt ihm ins Gesicht. Scheibe ist der Komponist der Melodie des Leben", mit den Schülern schreibt er die Texte, für die Musiker die Noten. Er erzählt von Kevin, der einen Rap darüber gedichtet hat, dass sein Großvater überfallen und totgeschlagen wurde, als er in Bremen Taxi fuhr. Von Sinan, der so kraftvoll und rhythmisch "Ich kann nicht singen" brüllte, dass daraus ein Song wurde. Und wie er mal in eine sechste Klasse kam, die als schwierig galt. Er musste die Kinder anschreien, damit sie ihm zuhörten. Dann bat er sie, Ereignisse aus ihrem Leben aufzuschreiben, zu den Texten spielte er Klavier. Die Schüler verwandelten sich, aus Schreihälsen wurden Sänger, die immer neue Strophen erfanden.

"Wenn man sich mit voller Kraft in die Musik wirft, färbt das auf alles andere ab", sagt Scheibe, der als Jugendlicher selbst die Musik durch eine Krise für sich entdeckt hat. Einige Schüler, die bei der Melodie des Lebens mitgemacht haben, haben inzwischen Bands gegründet und/oder treten als Solokünstler auf. Als er mit dem Projekt anfing, war Mark Scheibe durchaus skeptisch. "Mir graute vor der Vorstellung, für ein Schulkonzert verantwortlich zu sein", erzählt er.

Die anfänglichen Zweifel sind längst verflogen. Heute hat die Veranstaltung einen festen Platz in seinem Leben. "Ich will, dass das Publikum mit Zauber im Herzen nach Hause geht, weil es junge Menschen sieht, die sich offenbaren, die sich im Schutz der Musik nackt machen."

"Manchmal ist mir so, als hätt' das Leben keinen Sinn - doch mit euch an meiner Seite krieg' ich das schon hin!" So happy, Dream Girls

Mark Scheibe kennt ihre Geschichten hinter den Liedern. Die von Jacqueline, die einen Song über ihren Cousin geschrieben hat, der von den Drogen nicht loskommt. Die von Memuna und Imam, die ihre Freundschaft mit einem Ohrwurm besingen: "Manchmal nervig, aber immer da." Oder die von Souzan, die sich von ihrem Bruder Adem am Klavier begleiten lässt und ihren Traum in den Saal schmettert: "Wir können es schaffen, die Welt neu aufzubauen."

Alex Kotschi singt im Schutz der Musik sogar Liebeslieder. Der 14-Jährige geht in die achte Klasse, spielt Klarinette und formuliert im Gespräch so kurze Sätze, dass man es nicht für möglich hält, was er auf der Bühne kann.

Was bedeutet dir Musik?

Alex: Macht mir Riesenspaß.

Warum spielst du ausgerechnet Klarinette?

Freundschaft.

Gibt es Situationen, in denen du denkst: Jetzt muss ich erst mal Musik machen?

Ja.

Was sind das für Situationen?

Wenn ich eine Mathearbeit versaut habe.

Was macht die Musik dann mit dir?

Ich lass' alles einfach fallen.

Die Klarinette baut dich wieder auf?

Baut mich super wieder auf. Kommt das wirklich in die Zeitung?

Für die Melodie des Lebens hat sich Alex 17 Karten gesichert: Am ersten Abend kommt sein Vater mit Freundin, am zweiten Abend der Rest der Familie. Dann steht Alex ganz vorn auf der Bühne, um den Hals einen gestreiften Schal, schaut in 400 Gesichter, hinter ihm die Kammerphilharmoniker. Er singt über einen jungen Mann, der sich nach einer Enttäuschung neu verliebt hat - so wie er selbst. Zwei Stunden dauert die Show, danach ist das Publikum aufgekratzt und Mark Scheibe heiser. Den letzten Auftritt haben heute Denise, Souzan und Sarah aus der siebten Klasse, die sich Dream Girls nennen. Ihr Song klingt wie eine Hymne auf die Kammerphilharmonie und ihre Musiker: "Manchmal ist mir so, als hätt' das Leben keinen Sinn - doch mit euch an meiner Seite krieg' ich das schon hin!"

"Heute müssen wir die Kinder nicht mehr bitten, mitzuspielen - sie rennen uns die Bühne ein." Hans Utz, Musiklehrer

1350 Schüler werden zurzeit an der GSO unterrichtet, und wenn es mehr Klassen, Plätze und Lehrer gäbe, könnte Schulleiter Franz Jentschke vermutlich sofort einige Hundert weitere Kinder einschulen - so begehrt ist die Gesamtschule Bremen-Ost inzwischen. Jentschke ist seit 1975 hier, er hat die "schwierigen Achtziger" überstanden, die Sanierung von 2002 bis 2007 mitgemacht und von Anfang an die Kooperation mit der Kammerphilharmonie unterstützt. In seinem Büro stapeln sich Zeitungsartikel, in denen von den Projekten der Gesamtschule die Rede ist. Es sind inzwischen so viele, dass Jentschke gar nicht mehr dazu kommt, sie abzuheften. "Das alles klappt nur", sagt er, "weil unsere Lehrer halbe Verrückte sind, so viel Zeit und Arbeit, wie die hier investieren."

Zu den halben Verrückten gehört beispielsweise Kunstlehrer Wolfgang Rußek, der mit seinen Klassen Bühnenbilder für die Stadtteiloper gestaltet. Musiklehrerin Imke Howie, ohne die die gute Gemeinschaft mit dem Orchester kaum vorstellbar wäre und die gelegentlich selbst zum Taktstock greift, um für die Profi-Musiker Schostakowitsch zu dirigieren. Oder Musiklehrer Hans Utz, der die Schüler seit Jahren auf die Melodie des Lebens vorbereitet und selbst in der Lehrerband Hot Päds spielt. "Heute müssen wir die Kinder nicht mehr bitten, mitzuspielen", sagt er, "sie rennen uns die Bühne ein."

Vor fünf Jahren, als die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen gerade in der GSO eingezogen war, war das noch anders. Damals haben Schüler, Lehrer und Musiker durchaus noch ein wenig gefremdelt. Inzwischen sind die Projekte ihres Zukunftslabors fest im Stundenplan verankert. Das Orchester hat eine Musikpädagogin eingestellt, die zwischen Lehrern und Regisseuren, Schülern und Künstlern vermittelt. Sie organisiert Planungs- und Feedbackrunden und sorgt dafür, dass alle an einem Strang ziehen und dass sie in den stressigen Phasen zusammenhalten. Schulleiter Jentschke ist optimistisch, dass die Kooperation "mindestens die nächsten 20 Jahre" weitergehen wird. "Sonst hätten wir gar nicht erst damit angefangen."

Unmittelbar nach der jüngsten Aufführung der Melodie des Lebens wurde an der GSO das erste Jubiläum gefeiert, genauer gesagt: ein Doppeljubiläum. Die Schule wurde 40, die Zusammenarbeit mit der Deutschen Kammerphilharmonie fünf Jahre alt. Alle waren da: Friederike Latzko und die anderen Musiker gaben ein Konzert, Ozan Keskin und Aaron Dering spielten Herbie Hancock, Franz Jentschke kamen kurz die Tränen, Mark Scheibe präsentierte Auszüge aus der Melodie des Lebens, und Albert Schmitt schwärmte von der Zusammenarbeit zwischen Orchester und Schule. "Wenn ich außerhalb Bremens über dieses Projekt spreche, sage ich: Bitte nicht nachmachen, bitte nicht einfach ein Orchester in einen Stadtteil pflanzen. Ohne diese außergewöhnlichen Menschen hier hätten wir nie diesen Erfolg gehabt."

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