Werder Bremen

Andere sind reicher, lauter, glamouröser. Werder ist wie Bremen: zäh, erfolgreich, beständig – und bescheiden.




I. SPUREN

Die Suche nach den Insignien des Fans beginnt an der Tür. Eine Werder-Klingel? Ein Fanzine im Briefkasten? Ein Gartenzwerg in Grün-Weiß? Nichts davon taucht auf, über zwei Etagen des Bremer Hauses hinweg nicht. Erst ganz oben unterm Dach hängt eine Flagge: Deutscher Meister 2004. Deutscher Pokalsieger 2004. Das schnörkelige „W“ trägt sie mitten im Herz.

„Die musste mal sein“, sagt Volker und lächelt fast entschuldigend in seinen Vollbart. Er sei sonst nicht so. Klar, da sind auch noch vier „Tipp-Kick“-Figuren in Werder-Lackierung, die Jahrbücher aus zwei Jahrzehnten und einige DVDs und Bücher. Aber er ist kein solcher Verrückter wie dieser Arnd Zeigler, der in der nächsten Querstraße hier im Viertel eine Fernsehsendung über die „wunderbare Welt des Fußballs“ ausstrahlt, live aus dem eigenen Wohnzimmer. Dieser Zeigler zieht, angestrahlt von zwei Miniaturausgaben der Flutlichtmasten im Weser-Stadion, immer neue alte Devotionalien aus den Regalen. Lebenslänglich grün-weiß: Im Zweitberuf ist der Mann Stadionsprecher des SV Werder Bremen.

Eine Dauerkarte fürs Stadion hat Volker natürlich auch. Seit dreißig Jahren. Derzeit Oberrang in der Nordgeraden, Block 3, Reihe 12, Platz 13. Die Karte kostet 400 Euro pro Saison. Damit darf Volker auch umsonst die Amateure sehen, wenn er will. Und natürlich will er. Es ist Mittwochabend, gleich spielt Werder Bremen II gegen Goslar 08. Sportlehrer Volker Schorstein-Reiche greift sich eine grüne Windjacke und zieht die Haustür zu.

Es ist nicht leicht, das Verhältnis von Werder und Bremen oder die Bedeutung des Vereins für die Stadt aufzuzeigen. Natürlich gibt es nüchterne Fakten – über ein mittelständisches Unternehmen namens SV Werder Bremen GmbH & Co. Kommanditgesellschaft auf Aktien. Der Betrieb der Profis existiert seit 2003, hat 139 Mitarbeiter und setzte zuletzt 95,6 Millionen Euro um. Alleiniger Aktieninhaber: der Sport-Verein Werder von 1899 e. V. Das Weser-Stadion gehört je zur Hälfte der Stadt und dem Verein. So weit, so einfach.

Aber Werder ist nun mal kein normaler Betrieb. Werder ist Liebe und Wut, Held und Heiliger, Imageträger und Wirtschaftsfaktor. Der Verein strahlt weit aus in die Stadt – und ist überall präsent: im Kopf, im Bauch, im Herzen, im Geldbeutel. Natürlich gibt es auch in Hamburg Tipp-Kick-Figuren (blau-weiß gerautet), auch in Hannover Fahnen („Rote Kurve – 96 Supporters Club“) und auch in Dortmund Fan-Schrebergärten (mit original Rasenstücken aus dem Westfalenstadion). Doch an die Werder-Story reicht das alles nicht heran.

Weshalb sich die Frage aufdrängt: Was ist das Geheimnis dieses Vereins? Was macht ihn aus, was macht ihn besonders, und was hat das mit Bremen zu tun? Oder anders gefragt: Wie konnte aus dem Fußballclub einer verschuldeten Großstadt die Nummer 2 der Ewigen Bundesliga-Tabelle werden? „Durch Ruhe, egal, wo die Mannschaft gerade stand“, sagt Volker Schorstein-Reiche, Fan.

„Mit seriösem Handeln“, sagt Thomas Schaaf, Trainer.

„Durch Augenmaß. Weil Werder ein Stück cleverer war und weniger Fehler gemacht hat als Mitbewerber“, sagt Marco Bode, Ex-Stürmer.

II. WAHRNEHMUNGEN

Fünf Fußminuten von zu Hause legt Volker den ersten Stopp ein: eine Bratwurst am Steintor im Stehen, ein Blick ins Schaufenster des Fanshops. Dort ist die Welt grün-weiß: Bälle, Kissen, Tassen. Ein Trikot aber sticht heraus, es ist rot-weiß gestreift. So liefen doch die Bayern in den 70er-Jahren herum? „Nein, nein“, sagt Volker halb lachend, halb entrüstet, „das ist das Speckflaggen-Trikot von 1971.“ Damals erließ die Stadt Werder 750.000 D-Mark Steuerschulden und beteiligte den Verein an den Eintrittsgeldern fürs Weser-Stadion; dafür trugen die Profis zwei Jahre lang den Bremer Schlüssel auf der Brust und auf dem Rücken den Schriftzug „Bremen“.

Die Stadt war der erste Sponsor – und das zwei Jahre bevor der Deutsche Fußball-Bund Trikotwerbung erlaubte. Werder musste schon damals findig sein. Aber lebenslang rot-weiß? So klamm war der Verein dann doch nicht. Nach zwei Jahren war das städtische Intermezzo beendet, seitdem gab es nur zwei weitere Abweichungen: Zwischen 1976 und 1978 liefen die Spieler ein Jahr in Knallblau und ein zweites in Knallrot auf den Platz, damals bewarben sie Fischkonserven von Norda. Seitdem gilt Grün-Weiß. Als die Mannschaft 2003 mit orangefarbenen Ärmeln auflief, hagelte es von den Fans Proteste. Vom Ausverkauf Werders war die Rede, vom „Papageientrikot“, aber das Genörgel verstummte schnell. Denn was das von Johan „Le Chef“ Micoud dirigierte Ensemble aufführte, verzauberte das Publikum bundesweit – mit dem Höhepunkt eines souveränen 3 zu 1 in München. Und nicht bloß dass, sondern wie Werder erstmals in einer Saison Meisterschale und DFB-Pokal gewann, avancierte zum Top-Seller-Argument für das Trikot.

Zwischen Vechta und Bremerhaven gibt es eine Handvoll offizieller Werder-Fanshops. Der hier am Steintor ist eher klein, Umsatz jährlich etwa 200 000 bis 300 000 Euro, die Hälfte davon mit Klamotten. Fast 140 Euro kosten in dieser Saison Stutzen, Hose und Trikot, beflockt mit „14“ und „Hunt“. 100 Euro sind es für den gleichen Satz in Kindergröße. Wie läuft das Speckflaggentrikot? „Geht überraschend gut“, sagt Dietmar Ertelt. 100.000 Trikots hat Werder in guten Jahren verkauft. Und das jetzige? Ertelt zieht die Mundwinkel runter: „Bislang eher mau. Vielleicht liegt's am Ärger um den Sponsor Wiesenhof, aber vielleicht haben die Leute auch nicht so viel im Portemonnaie.“ Er zuckt mit den Schultern. „Es verkauft sich natürlich besser, wenn Werder gewinnt.“

Erfolg hat viele Väter und Fans. Werder hat 40.000 Mitglieder. Dortmund 75 000, Bayern München 188 000. Die Umsatzrelationen sind ähnlich: 95,6 versus 215 versus 373 Millionen Euro. Mitglied ist Volker nicht. Er hat schon überlegt, in Werders „60plus“ zu gehen, die machten tolle Sachen. Aber irgendwie fühlt sich der 63-Jährige dafür noch zu jung. Sportlehrer halt. Er hält sich mit Laufen fit. Freitags vor den Heimspielen joggt er am Weser-Stadion vorbei und kauft sich für 1,50 Euro das neue Werder-Magazin. „Sich damit am Samstagmorgen vorzubereiten auf das Spiel, das gehört einfach dazu.“ Für ihn und für gut 40 000 andere.

Die Zuschauer sind ein Wirtschaftsfaktor, sie sorgen vor allem für den „Bratwursteffekt“: 250 000 Besucher kommen jährlich von außerhalb zu Heimspielen und tragen nicht bloß ihr Ticket fürs Stadion in der Tasche – sie lassen im Schnitt auch jeweils rund 100 Euro in der Stadt, hat die Bremer Touristik-Zentrale ausgerechnet. Der Taxi-Ruf Bremen rechnet an solchen Tagen mit 300 zusätzlichen Fahrten. Manche Dönerbude macht bei einem Heimspiel mehr Umsatz als sonst in zwei Wochen, vom Werder-Kiosk auf dem Osterdeich gar nicht zu sprechen.

Bundesliga-Fußball hat in der deutschen Öffentlichkeit enorm an Präsenz gewonnen. Alles wächst, die Besucherzahlen in den Stadien, das Public Viewing wichtiger Spiele, die Mitgliederzahlen der Top-Vereine und die Lizenzgebühren, die TV-Sender für die Übertragungsrechte bezahlen. Das ist überall ähnlich. Worin sich allerdings Bremens Vorzeige-Club unterscheidet: Seit dem Wiederaufstieg in die 1. Bundesliga 1981 wurde Werder neunmal entweder Meister oder Vizemeister; dazu kommen fünf Pokalsiege und der Europapokal der Pokalsieger. Werder hat sich in den vergangenen 31 Jahren am Saisonende 19-mal unter den besten sechs platziert und spielte dann jeweils im Folgejahr im europäischen Konzert mit – und zwar ohne dass dem Verein ein Konzern wie VW in Wolfsburg oder Bayer in Leverkusen, Mäzene wie in Hoffenheim oder Hannover oder ein Großinvestor wie bei Schalke die Kriegskasse auffüllte. Die Grün-Weißen schafften es ganz allein von Platz 10 auf Platz 2 der Ewigen Bundesliga-Tabelle. Erst mit dem Image des sympathischen Underdogs, später mit nicht minder sympathischem Understatement. Immer clever, immer leise. Der SVW spielte häufig spektakulären Fußball, manche Jahre sogar den schönsten.

Vor allem auch deshalb sind sie in Bremen wohl unübersehbar, die symbolischen und käuflichen Zeichen der Liebe. Grün-weiße Fan-Statements allerorten, vom Aufkleber bis zur Zahnbürste. Fahne, Fahrrad und Friseur, Bettwäsche, Kneipe und Straßenbahn – wer einmal auf die Werder-Insignien geeicht ist, sieht kaum noch anderes in der Stadt.

Die allgegenwärtige Zuneigung lässt sich auch messen, teilweise zumindest. Der Lehrstuhl für Dienstleistungsmanagement der TU Braunschweig bestimmt seit Jahren den Markenwert der 25 wichtigsten deutschen Fußball-Clubs. Fast 2800 Bundesbürger stellen Werder jedes Jahr Bestnoten aus, so auch 2012: In den Punkten „sympathisch“, „attraktiv“ und „gut“ liegt der Verein weit vorn, nur Dortmund und Bayern waren zuletzt wieder besser. Die Grün-Weißen, so die Studie, konnten sich „ein solides Vereinsmarkenfundament aufbauen, das sich weitgehend unabhängig von der momentanen sportlichen Durststrecke zeigt“, loben die Autoren und kürten den Club „zu einem der Spitzenvereine in der Vereinsmarkenwahrnehmung“.

Volker nennt es Kribbeln, und das beginnt bei ihm regelmäßig „Auf dem Peterswerder“, dem Kopfsteinpflastergässchen, das zum alten backsteinernen Tunnel führt, der unter dem Osterdeich verläuft. „Wenn ich hier hinuntergehe“, sagt er, „dann beginnt das Werder-Gefühl.“ Im rechteckigen Ausschnitt am Tunnelende ist schon die Westkurve des Stadions zu sehen. Die Außenhaut mit Tausenden von Solarzellen schimmert wie der Schuppenpanzer einer Schlange. Volker nimmt aber nicht immer den Tunnel: „Mal unten, mal oben. Ich bin abergläubisch. Wenn sie verloren haben, dann wechsle ich das nächste Mal den Weg.“ Seit drei Jahren muss er häufig wechseln zwischen unten und oben. Seitdem spielt die Mannschaft launisch statt europäisch.

Davor aber stand sie sechsmal hintereinander in der Champions League und der Europa League: Sie fegte Anderlecht und Athen mit jeweils 5 zu 1 aus dem Weser-Stadion, besiegte Chelsea, Real Madrid, Inter Mailand, bot Barcelona und dem AC Mailand Paroli, erreichte 2009 das UEFA-Cup-Finale. Sind dank dieser Zeit die Erwartungen der Bremer an Werder gestiegen?
Ja, sagt Thomas Schaaf.

III. ÜBERZEUGUNGEN

Er ist im Trainingsanzug in den „Volkswagen-Club“ des Weser-Stadions gekommen, in die Großraumloge in der Ostkurve mit dunklem Parkett und hellen Barhockern. Es ist Mittag, niemand sonst ist hier. Nur ab und an streicht eine Gruppe Neugieriger draußen an den Glastüren vorüber, die sich das umgebaute Stadion zeigen lässt.

Werders Cheftrainer hat einen Gang wie ein Boxer. Es gibt ein Foto von Werders D-Jugend aus dem Frühjahr 1973, da steht der 11-jährige Thomas auch schon so da: gerade und stolz. Ein Dutzend Jungs mit Prinz-Eisenherz-Frisuren schaut in die Kamera, und er ist ihr Kapitän. „Man braucht ein breites Kreuz, wenn man seinen einmal eingeschlagenen Weg verteidigen will“, sagt der 51-jährige Thomas. „Und man muss neue Wege finden – gerade Bremen, das nicht beseelt ist mit dem großen Kapital.“

Zu Anfang ist er noch so muffelig, wie man das aus den Fernseh-Interviews vom Spielfeldrand kennt. Dass er zum Lachen in den Keller geht, ist natürlich ein Klischee. Interviews gehören zu seiner Arbeit, doch obwohl das hier kein Keller ist, sondern eine Bar, lacht er zweimal. Kurz nur. Aber echt.

„Ja“, sagt Schaaf auf die Frage nach den Erwartungen der Bremer, „ja, sie sind gestiegen.“ Sind sie zu hoch? „Weiß ich nicht. Europapokal ist eine tolle Sache, wir haben attraktiven Fußball gespielt mit ganz besonderen Spielern in unseren Reihen.“ Er deutet auf den Innenraum des Stadions, auf grüne und weiße Schalensitze um ein wahrhaft englisches Rasengeviert. Das Pathos der Champions-League-Hymne – „die Meister, die Besten.“ – hat das Weser-Stadion zuletzt im Dezember 2008 erfüllt. „Da war die Bude hier voll. Wenn man das erlebt hat, dann möchte man das natürlich wieder – als Trainer, als Team und auch als Zuschauer. Das ist unser Ziel.“

Schaaf hält kurz inne. Die „Bude“ ist zwar auch jetzt fast immer voll. Die Champions-Hymnen allerdings fehlen – und wohl noch mehr die Erfolgsprämien aus den UEFA-Töpfen: Von 2011 auf 2012 sank der Umsatz deswegen um gut 24 Millionen Euro – und Werder machte erstmals nach sieben Jahren Verlust. „Es war nicht die Norm, dass Werder all die Jahre immer oben dabei war. Das war außergewöhnlich, gerade angesichts der Bedingungen hier. Viele Dinge haben einfach unglaublich gut funktioniert. Normalität aber ist, dass Dinge auch mal nicht funktionieren. Das ist den Leuten schwer zu vermitteln.“

Thomas Schaaf ist seit mehr als 40 Jahren bei Werder, fast 14 davon als Cheftrainer. Sportreporter nutzen an dieser Stelle stets das Bild vom „Bremer Urgestein“. Er würde das öffentlich nie sagen, aber er hat den Betrieb in den vergangenen drei Jahren ganz sicher zwischendurch auch mal sattgehabt: den Rummel um die für 15,3 Millionen Euro eingekauften Brasilianer Carlos Alberto und Wesley, die dann auf dem Platz kaum auffielen; die Lücke, die Mittelfeld-Ass Özil nach seinem Verkauf hinterließ; das fehlende Geld für einen Verteidiger, als Werder die Schießbude der Liga war; und überhaupt all die Nörgelei am mediokren Spiel seiner Mannschaft. Die Dinge funktionierten eben auch mal nicht.

Es sind unruhige Jahre für Werder gewesen. Platz 13 am Ende der vorvergangenen Saison, Platz 9 in der vergangenen: Die Fans maulten, Schaaf und Sportchef Klaus Allofs standen in der Kritik. Beim HSV und beim VfL Wolfsburg gaben sich die Trainer die Klinke in die Hand, Schaaf stand stoisch an der Seitenlinie.

Schon das Gespann Rehhagel/Lemke brachte es auf 14 gemeinsame Jahre. Thomas Schaaf und Klaus Allofs hatten 13 Jahre zusammen, als sich der Sportchef Ende 2012 vom reichen Ligakonkurrenten Wolfsburg abwerben ließ. Nicht wenige befürchteten eine unruhige Zeit wie nach dem Abgang Rehhagels 1995. Die dauerte vier Jahre, Werder schrammte nur knapp am Abstieg in die 2. Bundesliga vorbei.

Und Schaaf? Schaute seinem Freund, Partner und Chef kurz bedröppelt nach, schüttelte sich – und blieb. „Thomas Schaaf, du bist der beste Mann!“, sangen die Bremer Fans beim nächsten Auswärtsspiel in Wolfsburg. Den gebürtigen Mannheimer interessiert der Rekord nicht besonders, doch wenn alles normal verläuft, wird Schaaf im August Otto Rehhagel als Werder-Coach mit der längsten Amtszeit ablösen. In der Bundesliga-Historie war nur Volker Finke in Freiburg länger am Ruder.

Ist Kontinuität also der Schlüssel zum Erfolg? „Das ist was Hanseatisches, glaube ich: Man ist weltoffen, lernt viele neue Dinge kennen und entscheidet, ob man sie braucht“, sagt Schaaf und wischt mit dem Ärmel über den Tisch. Er sagt häufig „man“, wenn er sich selbst meint, ganz klar ist das aber nicht. „Und falls man sie braucht, überlegt man sich die Dinge gut, bereitet sie gut vor und setzt sie dann gut um. Man geht also mit der Zeit, ohne dass man zwangsläufig Personen verändern muss. Und man tut das mit einer gewissen Ruhe und Entspanntheit. Darin sind sich Werder und Bremen ähnlich, glaube ich.“

Immerhin hat der Weggang von Allofs nach vielen Jahren eine Personaldiskussion ausgelöst – doch der Verein beendete sie denkbar unaufgeregt. Mit Thomas Eichin, vor Kurzem vom Eishockey-Club Kölner Haie gekommen, mit Werders Ex-Kapitän Frank Baumann und Ex-Adidas-Manager Klaus Filbry formte der Aufsichtsrat ein neues Gespann aus internen und externen Kräften, das mit Neugier begrüßt wurde – vielleicht abgesehen von den notorischen Nörglern im Online-Forum der Syker Kreiszeitung.

Das meint Schaaf mit „seriösem Handeln“. In Ruhe überlegen. Sich entscheiden. Dazu stehen. Sich nicht drängen lassen von der Tagesaktualität, die jede Woche eine neue Sau durchs Dorf treiben will. Und geduldig arbeiten, um das Glück auch wieder auf seine Seite zu zwingen. „Glück brauchen wir, das gehört dazu“, sagt Schaaf. „Bei allem, nicht bloß bei Transfers – Entscheidungen über den Kader, Sie müssen den richtigen Spieler einwechseln, auf der richtigen Position einsetzen und so weiter. Aber wer gut arbeitet, wird irgendwann auch belohnt werden. Auf welche Art auch immer.“

IV. ERFAHRUNGEN

Auf Platz 11 hat das Spiel Werder II – Goslar bereits begonnen. Volker Schorstein-Reiche stellt sich in Höhe der Mittellinie hin, fünf Steinstufen müssen reichen für den Überblick. Er sieht die U23 recht forsch beginnen, doch noch trifft sie das Tor nicht.

Werders Reserve-Fußballer sind zwischen 19 und 23 Jahre alt und sollen hier ans Bundesliga-Niveau herangeführt werden. Sie alle hoffen, dass die Regionalliga Nord das Sprungbrett ist. Doch nur gelegentlich schafft einer den Aufstieg. Auch hier zählt: geduldige Arbeit, ein Quäntchen Glück. Und den Ball flach halten – sonst giltst du als überheblich.

Über die kleine Tribüne von Platz 11 hinweg leuchtet magisch das Weser-Stadion. Wenn Werder spielt, kommen im Schnitt fast 41 000 Zuschauer. Hier auf Platz 11 schauen 1000 Leute zu, wenn die Amateure gegen den FC Oberneuland oder den VfB Oldenburg antreten – Derbys ziehen immer, egal, ob Regional- oder Kreisliga. Heute tönt es irgendwann aus den Lautsprechern: „Werder Bremen bedankt sich bei 446 Zuschauern.“

Anders als im Stadion tragen nur wenige Werder-Trikots, die meisten sind D-Jugendliche. Im Gästeblock schwenken neun Fans aus Goslar ihre Fahnen. Volker freut sich über einen bärenstarken Ballverteiler Felix Kroos, einen schnellen Onel Hernandez auf dem Flügel – und einen Niclas Füllkrug, der am Ende drei Tore zum 4-zu-2-Sieg beisteuert.

Es ist nicht leicht, sich hier auszuzeichnen. Vor allem für einen wie Füllkrug, der schon zum Bundesliga-Kader gehört. Trifft er, sagen die Leute: Na ja, ist ja nur Regionalliga. Trifft er nicht, hagelt es Fragen nach seiner Form.

„Ich habe hier früher schon Marco Bode oder Paul Stalteri kicken sehen“, sagt Volker und zieht die Stirn kraus. „Das Problem ist: Die fallen hier gar nicht groß auf – wenn sie aber bei den Profis spielen, können sie dort gut mithalten. Es ist nur total schwer, hier so zu spielen, dass Schaaf nicht an ihnen vorbeikommt.“ Profis brauchen: Talent, Ehrgeiz, Dusel und ein Selbstvertrauen, das auch nach Monaten des Stillstandes nicht erodiert. Bodenständigkeit hilft da.

„In meinen ersten Spielen bei den Amateuren“, wird Marco Bode später sagen, „habe ich gleich einige Tore gemacht, das ist aufgefallen – mein Trainer Kalli Kamp war ja zugleich Co-Trainer bei Rehhagel. Da hat Otto mich bald eingeladen.“

Tore sind immer ein Argument. Die U23-Truppe führt jetzt 2 zu 0, und Trainer Thomas Wolter schaut sich das Spiel recht ruhig an. Kamp und Wolter sind beides Ex-Werderaner, beides seinerzeit Mitspieler von Thomas Schaaf. „Heute ist er nicht da, aber Schaaf guckt auch öfter zu“, sagt Volker und nickt in Richtung Vereinsheim, „der Vorstand auch, ehemalige Spieler, auch manche aktuellen mit ihren Freundinnen. Das finde ich nett. Familiär irgendwie.“

Doch man sollte sich nicht täuschen. Die U23 ist Werders „Reserve“ – und das ist so wörtlich gemeint wie bei einem Auto. Es muss schon ein anderes Rad platt sein, damit gewechselt wird. Füllkrug wird am Samstag drüben im Stadion wieder auf der Bank sitzen. Wenn es schlecht läuft für ihn, bleibt er dort sitzen. Wenn es gut läuft, wird Thomas Schaaf ihn als Joker bringen, als einen noch frischen und dem Gegner fast unbekannten Stürmer. Eine unberechenbare Einheit im System. Das war schon oft so in dieser Saison.

Die meisten U23-Spieler kommen da nicht hin – und bleiben dann nicht mehr lange bei Werder II. „Wenn die Jungs das hier zwei, drei Jahre machen und es nicht in den Profi-Kader geschafft haben, dann sind sie wieder weg“, sagt Volker. Das Team ist ein Durchlauferhitzer. Einige Spieler werden woanders erfolgreich – wie Simon Rolfes, der nach dreieinhalb Jahren U23-Stammkraft und Bankdrücken bei Thomas Schaaf den Verein wechselte und später in Leverkusen Nationalspieler wurde. Glück gehabt.

V. HALTUNGEN

„Wenn du um die Deutsche Meisterschaft mitspielst und dann wirklich Meister wirst, ist das toll“, sagt Marco Bode. „Aber wenn du wochenlang etwas fürchtest und es tritt nicht ein – das ist so erleichternd! Das Gefühl ist viel intensiver! Und genau das war es, als wir 1999 den Nichtabstieg klargemacht hatten.“ Marco Bode sagt „Tschüss“ in Richtung Empfang, bereit zum Spaziergang in Hamburg, quer durch die Sträßchen des Stadtteils Ottensen.

Dass die Marketing-Agentur Deepblue auch Sport im Portfolio hat und in der Schützenstraße sitzt, passt natürlich ziemlich gut zu einem Torschützen wie ihn. Dabei, sagt Bode und hebt den Zeigefinger, sei er vorwiegend im Mittelfeld aufgestellt worden und nicht als Stürmer wie oft angenommen. Jetzt ist er als Geschäftsführer in Hamburg aufgestellt, aber in Teilzeit. Er wohnt mit Frau und Kind weiterhin in Bremen, zweimal die Woche nimmt er mit seinem A6 die A1 nach Hamburg.

Das mit dem Meistergefühl und der Abstiegsangst muss Marco Bode wissen, er hat den Vergleich: Europameister (1996), Vizeweltmeister (2002), WM-Torschütze (1), Europapokal der Pokalsieger-Gewinner (1), Deutscher Meister (1), DFB-Pokalgewinner (3), Werder-Rekordtorschütze (101) – und Nichtabgestiegener.

Er trägt Kapuzenpulli und Jeans, und er ist größer als gedacht. „Otto Rehhagel hat immer gesagt: ,Einsneunzich kann man nicht lernen!'“, sagt er und lacht. Ein freundlicher Typ ohne Allüren, gut verankert im Leben. Kein Wunder, dass ihn die Bremer verehren. Rekordtorschütze und mit dem Fahrrad zum Training – hanseatisch-bescheidener geht es kaum.

Seit November ist Bode Mitglied im Werder-Aufsichtsrat. Eigentlich sollte er die Einnahmen und vor allem die Ausgaben von Klaus Allofs kontrollieren. Der war wenige Tage nach der Hauptversammlung plötzlich weg, Bode kontrolliert trotzdem. Er mag Zahlen. Er hat sie sogar einige Jahre recht erfolgreich studiert: Mathematik und Wirtschaftswissenschaften an der Fern-Universität Hagen. Doch dann bat Otto Rehhagel ihn, den Zivi im Altenheim und Werder-Amateur, am Training der Profis teilzunehmen. Mit 1500 D-Mark Monatslohn stieg er ein – und verhandelte bald nach. „Ist ja nicht so, dass ich nicht clever war“, sagt Bode und lacht. Als das Training zunahm und die Zeit für Bücher ab, als die Bundesliga-Spiele hinzukamen, der Europapokal und ab 1995 noch die Nationalmannschaft – da schmiss er das Studium. Vor einem Vierteljahrhundert ist Marco Bode von der Söse an die Weser gezogen: Wechsel vom VfR Osterode zu Werder II. Einen „Bremer mit Harzer Wurzeln“ nennt er sich.

„Die Erfolge der 80er- oder 90er-Jahre hat Werder nicht erkauft, das konnte der Verein ja gar nicht“, sagt er. „Werder hat immer sein Geld zusammengehalten, hanseatisch solide, langsames Wachstum. Aber viel war da nicht: Bremen hat eben nicht die Wirtschaftskraft einer Metropolregion wie Hamburg, Frankfurt, Stuttgart oder München. Das macht sich bei der Größe des Stadions bemerkbar, den Zuschauerzahlen, beim Sponsoring, bei der ganzen Infrastruktur.“

Aber dieses strukturelle Manko habe Werder stets mit Einfallsreichtum ausgeglichen, sagt Bode. „Der Verein hat zum Beispiel immer wieder junge Spieler gefunden, die sich zu Stars entwickelt haben, wie Völler, Pizarro oder Özil. Oder er hat Spieler geholt, die in anderen Vereinen nicht funktioniert haben, wie Micoud, Diego und Ismaël. In Bremen hat es dann geklappt, weil sie sich in der 'Werder-Familie' und der Stadt wohlgefühlt haben, weil das System passte, weil sie es noch mal allen beweisen wollten – warum auch immer.“

Die Kontinuität sei natürlich ein großes Plus Bremens, vor allem beim Trainer, sagt Bode: „Da hilft die norddeutsche Mentalität. Man sieht die Dinge langfristig, nimmt auch Schwankungen in Kauf.“ Kein Karnevalsverein, kein FC Hollywood, kein Boulevard, auf dem jede Verfehlung breitgetrampelt wird. Und auch wenn sich ein Großteil der Stadt mit Werder identifiziert – die Bremer sehen die Profis von Grün-Weiß als das, was sie sind: Fußballer. Keine Glamourboys.

2005 verglichen Forscher der Universität Innsbruck Etats und Erfolge der europäischen Clubs – und attestierten den Bremern einen enorm effizienten Umgang mit ihrem Budget. „Keiner holt so viel sportlichen Erfolg pro eingesetztem Euro rein“, freute sich Werders damaliger Vereinsboss Jürgen Born. Doch zugleich warnte er: „Wir haben auch hochklassige Spieler, die gute Gehälter verdienen, und unsere Einnahmen reichen nur dann aus, wenn wir regelmäßig im internationalen Geschäft dabei sind.“

Das war 2006. Werder sammelte emsig Punkte in der Champions League und kletterte in der Fünfjahreswertung aller Clubs in Europa bis auf Rang 9, direkt hinter den Bayern. Mittlerweile ist Werder im dritten Jahr out of Europe und auf irgendeinen Platz zwischen 30 und 40 der UEFA-Vereinsrangliste abgefallen, kommendes Jahr wird es weiter bergab gehen. Denn dann werden auch noch jene (vielen) Punkte aus der Wertung gestrichen, die Werder 2009 ergatterte, als sich die Grün-Weißen bis ins UEFA-Cup-Finale durchspielten.

2009 war, bei allem Krampf in der Bundesliga, ein gutes Jahr für die Bremer. Nur elf Tage nach dem verlorenen Finale gegen Donezk ließ sich die Mannschaft am Roland von Zehntausenden feiern: Schaaf und Allofs stemmten den DFB- Pokal, Arnd Zeigler stimmte „Lebenslang grün-weiß“ an, und auf dem Rathausbalkon sangen Wiese, Naldo, Boenisch, Mertesacker, Pasanen, Frings, Baumann, Özil, Diego, Vranjes, Jensen, Rosenberg, Almeida, Pizarro. Gut drei Jahre später sind aus dem Team nur noch Hunt, Fritz und Prödl in Bremen. Schaaf ist auch noch da. Und Zeigler natürlich. Zu beiden passt das Bonmot des englischen Autors Nick Hornby: „Man sucht sich keinen Verein aus. Der Verein wird einem gegeben.“ Lebenslänglich grün-weiß.

VI. MENSCHEN

Es ist ein kurzer Rückweg vom Spiel der Amateure ins Viertel. Volker ist zufrieden, er hat sechs Tore gesehen und einen wunderschönen Fallrückzieher, auch wenn der leider nicht im Tor landete. Am Schaufenster des „Bauernstübchens“ macht er kurz halt – studiert den bedruckten Streifen, angebracht für die Ewigkeit:

1993 Werder Bremen – RSC Anderlecht 5:3

1989 Werder Bremen – SSC Neapel 5:1

1987 Werder Bremen – Spartak Moskau 6:2

1988 Werder Bremen – Dynamo Ost-Berlin 5:0

Und noch mehr Siege. Noch mehr Titel. Volker war bei allen Spielen im Stadion, bei der Partie gegen Moskau sogar mit seiner hochschwangeren Frau. Die „Wunder von der Weser“, wie sie bald getauft wurden, waren deshalb so wunderbar, weil Werder entweder wie vom anderen Stern spielte oder einem Rückstand von drei Toren hinterherlaufen musste – zumeist beides.

„Da konnten die Bayern aus München auch noch so siegen, wie sie wollten, gegen diese typische Bremer Mischung aus Stümperei und Weserwundern, aus Genie und Wahnsinn kamen sie nie an, denn die Werderaner aus Bremen hatten immer etwas Lebendigeres, ja Menschlicheres“, schreibt der Dramatiker Moritz Rinke. „Und das hieß auch, sie hatten nie Geld. Das Geld, das die Bayern besaßen, um ihre Millionenkäufe auf die Reservebank zu setzen, damit sie nicht woanders spielen konnten, so etwas gab es in Bremen nie. Da waren sich der besonnene Bremer Kaufmannsgeist und Werder immer sehr nah.“

Einige Tage später, Werder gegen Borussia Mönchengladbach. Von außen mutet das flutlichterleuchtete Stadion an wie ein Fußballtempel. Drinnen gespannte Erwartung. Im Oberrang klönt Volker angeregt mit seinen Nachbarn Alfred und Thomas, Berufsschullehrer der eine, Chef einer Metallbaufirma der andere. Unten wärmen sich die Spieler auf, oben filmt „Werder TV“ Zuschauer, die in die Kamera winken. Und kurz bevor es losgeht, stehen die Bremer auf, halten ihre Schals hoch und singen „Lebenslang grün-weiß“.

Als der Fußball-Verein Werder am 10. September 1899 sein erstes Wettkampfspiel bestritt, schauten exakt 18 Zuschauer zu. Vielleicht lag das an der Tageszeit, der Ball rollte morgens um acht Uhr; wahrscheinlicher ist, dass sich die neue Freizeitbeschäftigung Fußball erst unter den Bremern herumsprechen musste. Je zwei Holzstangen waren damals in den Wiesengrund des Neuenlander Felds getrieben, zwischen ihnen gespannt eine Leine. Die Werderaner trugen schwarze Strümpfe, weiße Klamotten und grüne Käppis, die Mützen der Privatschule von C. W. Debbe. Grün-Weiß war geboren. Heute bilden 42.100 Fans ein zweifarbiges Meer.

Volker ist aufgesprungen, Werder spielt schnell nach vorn. Arnautovic zu Hunt, der hat die gegnerische Hälfte frei vor sich. Ein Blinder hätte den Ball jetzt nach vorn getrieben. Und was macht Hunt? Spielt einen 20-Meter-Pass. Arnautovic sprintet zwischen zwei Verteidigern hindurch, wenn er den Ball verpasst, läuft er ins Abseits. Doch Hunt passt perfekt, Arnautovic muss nicht abbremsen, behält den einen Meter Vorsprung, den er braucht, und löffelt den Ball über den Gladbacher Torwart. Ein Tor wie ein Schweizer Uhrwerk.

Es fällt kurz vor der Pause. Der Stadionsprecher ruft: „Tor für Werder …“ – „… Bremen!“, vollenden mehrere Zehntausend in der Ostkurve und auf den grün-weißen Sitzen. Der Sprecher wird lauter: „Werder …“ – „… Bremen!!“ Und noch lauter: „Werder …“ – „… Bremen!!!“ Volker brüllt mit.

„Alles andere“, heißt es im Fachblatt für Fußballkultur 11 Freunde, „wird in diesem Augenblick nebensächlich, all die Millionentransfers, die hundert Kameras um das Spielfeld, die grinsenden Manager in den VIP-Logen, die riesigen Werbebanden, die funktionierende Profimaschinerie, das ganze große Geschäft. Fußball ist gerade jetzt, in diesem Moment, ein Spiel. Naiv, archaisch, frei.“

Halbzeitpause. Unten am Spielfeldrand kommentiert Arnd Zeigler noch mal das 2 zu 0, auf den Videoleinwänden wird es mehrfach gezeigt, eingefangen natürlich von diversen Kameras aus jedem Blickwinkel. Die Kommentare gehen aaaah! und ooooh!, Zeigler ist in seinem Element. Im zwölften Jahr Stadionsprecher, routiniert und begeistert zugleich. Ein Fußballverrückter mit Grips.

In der zweiten Halbzeit bringt Trainer Schaaf seinen Nachwuchsspieler Niclas Füllkrug. Es steht noch immer 2 zu 0, Werder beherrscht das Spiel, die Gladbacher holen hier heute keinen Blumentopf.

Danach leert sich das Stadion wie immer mit verblüffender Geschwindigkeit. Drei älteren Damen, den Werder-Schal um den Hals, ist das Lächeln noch ins Gesicht graviert. Volker gibt Pfandbecher zurück; am Ausschank registrieren die Kassen die letzten Biere auf der elektronischen „Werder Card“ der Besucher. Niclas Füllkrug hat sich bewährt, 3 zu 0, er hat sein zweites Bundesliga-Tor erzielt. Die Partie endet schließlich 4 zu 0.

In der Zeit, die Thomas Schaaf jetzt Werder coacht, hat die Borussia zehn Trainer verschlissen.---