Bildungsinitiative in Bremen-Gröpelingen

Armut verhindert Bildung. Oder etwa nicht? Im sozial schwachen Bremen-Gröpelingen beweisen zwei Schulen, dass das kein Naturgesetz ist.




Sie kommen morgens um kurz nach sieben, 13 Schülerinnen, die vier Arbeitsgruppen bilden. Eine Gruppe stellt die Einkaufsliste zusammen und macht sich auf den Weg zu den umliegenden Supermärkten. Eine beschriftet die Aufsteller und Preisschilder. Eine kümmert sich um Planung und Kalkulation eines bevorstehenden Catering-Auftrags. Der Rest belegt Brötchen, richtet Teigröllchen mit Spinat und Käse an, steckt Mozzarella und Tomaten auf Spieße. Alle drei Wochen tauschen sie ihre Jobs, auch die Gruppenchefs wechseln.

Gröpelingen, Ortsteil Oslebshausen. Die Essklasse ist eine Initiative der Oberschule im Park, lauschig gelegen zwischen hohen Bäumen und kleinen Teichen, vor den Fenstern taumelt das Herbstlaub. Nichts Besonderes heute Morgen. Nach dem Verkauf räumen die Schüler die Cafeteria auf, das Geschäft lief wie üblich: ausverkauft. Kim Niklas sagt: „Verkaufen und Geld-Einnehmen macht am meisten Spaß.“ Ihre Klassenkameradin Jasmin Betke ergänzt: „Ich finde auch toll, dass man dabei so viel lernt.“ Beispielsweise, dass Nahrungsmittel im Großhandel mitunter teurer sind als beim Discounter, wie sie bei einer Preisstudie feststellten. Einig sind sich die Mädchen bei der Frage nach der größten Herausforderung. Ganz klar, sagt Kim: „Rechtzeitig fertig werden.“

Während die Schülerinnen das Sortiment für den nächsten Tag planen, sagt die betreuende Lehrerin: „Was mich immer wieder wundert: Sie machen das sehr selbstständig. Sie identifizieren sich mit dem Projekt, arbeiten immer konstruktiv zusammen und haben den Laden auch wirtschaftlich voll im Griff.“ Ein schönes Lob. Für die Mädchen. Für die Initiative, die sich im vergangenen Jahr auf der Verleihung des Schülerfirmen Awards 2012 in der Bremer Botanika präsentieren durfte. Und für die Schule, an der das alles möglich ist.

Armut und Migranten statt Multikulti

Gröpelingen, der bevölkerungsreichste Stadtteil im Bremer Westen, ist arm – und so werden hier auch die Kinder oft automatisch als Verlierer abgestempelt. Früher war der klassische Arbeiterbezirk von der AG Weser geprägt, die Werft gab dem Stadtteil Arbeit und bescheidenen Wohlstand. Damals war die zentrale Lindenhofstraße eine schmucke Einkaufsstraße mit Kinos, Kaufhäusern, Restaurants. Doch seit der Schließung der AG Weser 1983 hat sich Gröpelingen verändert. Die deutschen Facharbeiter sind neuen Arbeitsplätzen hinterhergezogen, zurück blieben Migranten und ihre Kinder, überwiegend Türken, später kamen Libanesen, Osteuropäer und afrikanische Asylbewerber. Heute bestimmen Kebaphäuser und türkische Läden das Bild der Lindenhofstraße, gelesen wird Hürriyet, Plakate werben für Discoabende mit türkischen DJs. Ein Hauch von Orient zwischen Einfamilien- und Mietshäusern aus Backstein.

Doch Gröpelingen ist keine mittelständische Multikulti-Oase, sondern ein Ort, für den die Behördensprache den Begriff „sozialer Brennpunkt“ erfunden hat. Die Arbeitslosigkeit liegt bei mehr als 20 Prozent, fast die Hälfte der Betroffenen sind Langzeitarbeitslose. Jeder vierte Einwohner bezieht Grundsicherung, fast 43 Prozent haben einen Migrationshintergrund, der Anteil von Kindern und Jugendlichen ist mit gut 18 Prozent überdurchschnittlich hoch. „Und das alles“, sagt Christel Bothmann, „wirkt sich auf die Schulsituation aus. Dass Erwerbslosigkeit, Armut und Bildungsferne die größten Herausforderungen sind, muss man heutzutage wohl niemandem mehr erklären.“

Christel Bothmann ist Direktorin der Oberschule im Park. Sie wurde 1975 als junge Pädagogin gegen ihren Willen nach Gröpelingen versetzt, und anfangs, sagt sie, habe sie ganz entschieden versucht, wieder wegzukommen. Damals war die Schule ein Förderzentrum, in dem Kinder und Jugendliche mit Lerndefiziten unterrichtet wurden. Was sie mitbrachten: ein geringes Selbstwertgefühl und eine ausgeprägte Misserfolgserwartung, nicht selten gepaart mit aggressivem Verhalten. Nicht leicht für eine junge Lehrkraft. Doch die Pädagogin kam nicht mehr weg. Knapp zehn Jahre nach ihrem Start wurde sie stellvertretende Schulleiterin, seit 1988 leitet sie die Oberschule als Direktorin. „Ich sagte mir: Egal, wie schwierig die Situation ist, du musst etwas tun.“

Bothmann sitzt in ihrem Büro im ersten Stock. Mit ihr am Tisch: die didaktische Leiterin, Ilka Töpfer, eine Sonderpädagogin, die in Bremen zehn Jahre lang in der Lehrerausbildung tätig war. Es gibt Kaffee und belegte Brötchen von der Essklasse. Ilka Töpfer sagt: „Wer eine derartige Situation als Manko empfindet, kann hier nicht arbeiten.“ Wenig später wird sie die Voraussetzung für jedes Mitglied im Kollegium noch einmal ähnlich formulieren: „Wer mit Herausforderungen nichts anfangen kann, ist hier verkehrt.“

Umgekehrt gilt aber offenbar auch: Wer bleibt und sich auf die Kinder einlässt, tut das mit großem Engagement und Erfolg. In den vergangenen Jahren hat die Einrichtung jedenfalls diverse Preise gewonnen, darunter die „Goldene Göre“ des Deutschen Kinderhilfswerks und den Deichmann-Förderpreis für die Initiative „Arbeits-, Berufs- und Lebenswegplanung – das bin ich!“, mit der Jugendliche auf den Einstieg ins Arbeitsleben vorbereitet werden. Auch das Qualitätssiegel „Schule mit vorbildlicher Berufsorientierung“ trägt die Oberschule heute mit Stolz.

2009 stand die Einrichtung dennoch vor dem Aus. Damals wurde das Bremer Schulgesetz novelliert. Es verpflichtete fortan alle Schulen zur Inklusion, also zur Zusammenführung von sogenannten Regel- und Förderschülern in gemeinsamen Einrichtungen. Die Förderzentren sollten nach und nach aufgelöst werden – auch das in Gröpelingen. Da war nur ein Problem: Es gab zu wenige Alternativen im kinderreichen Bremer Westen – ohne die Oberschule im Park hätten viele Schüler kilometerweit fahren müssen.

Inklusion umgekehrt

Also entwickelten Bothmann und Töpfer ihre Idee. Schließlich stand nirgends geschrieben, dass eine Regelschule die bessere Schule sei. Warum die Inklusion nicht einfach umdrehen? Warum öffnen wir unsere Förderschule nicht für Schüler ohne besonderen Förderbedarf, um unsere Einrichtung zu erhalten? Bildungssenatorin Renate Jürgens-Pieper, die Ende November vergangenen Jahres überraschend ihr Amt niederlegte, erkannte die Vorteile schnell: Ein teurer Neubau war nicht nötig, und die hohe Kompetenz des Kollegiums würde auch den Regelschülern helfen.

Heute werden in der Oberschule im Park 196 Schüler in 14 Klassen der Jahrgänge 5 bis 10 unterrichtet. Die höheren Jahrgänge sind noch mit Schülern des einstigen Förderzentrums besetzt, die Jahrgänge 5 und 6 aber sind inzwischen bereits gut durchmischt. Die Schule steht noch am Anfang, es fehlt ein Gebäude für sechs dringend benötigte Klassenzimmer und das System müsse sich erst einspielen, sagt Christel Bothmann. Aber schon jetzt bietet die Oberschule alle Abschlüsse bis zum Abitur – und schon jetzt reisen Schulleiter und Pädagogen aus ganz Deutschland an, um sich in Gröpelingen zu informieren. Die staatliche Oberschule im Park ist einmalig im Land. Wieder einmal. Wenn auch diesmal ohne offizielle Auszeichnung.

10.00 Uhr, Raum 22, Klasse 6 a. Englisch mit Frau Müller und Herrn Meyer. 18 Schüler. Es geht um Adjektive und ihre Steigerung. Old, older, the oldest. Simpel. Boring, more boring, the most boring. Schon schwieriger. Doch die Schüler, Regel- und Förderkinder gemischt, kommen gut voran. Lehrer Meyer hat vorher am Gymnasium in Lilienthal unterrichtet. Er wollte nach Gröpelingen. Und er ist stolz auf seine Schüler: „Alle Lernziele werden wir nicht hinkriegen, das ist klar. Aber ich freue mich für jeden, der es hier trotz seiner sonstigen Umstände schafft.“

Fordern und fördern. Und jeder, wie er kann

10.45 Uhr, Raum 25, Klasse 5 c. Deutsch/Lernen an Stationen mit Frau Inekli und Frau Müller. Gruppenarbeit. Mitdenkkrimis. Sprachübungen mit Leseschablonen. Leseschachteln. Suche die Geschichte zum Bild. Der Schwierigkeitsgrad der Materialien ist mit Sternchen gekennzeichnet. Frau Müller sagt: „Es gibt ziemlich große Spannbreiten zwischen den Schülern, wir haben Leseanfänger bis sehr gute Leser.“ Die Ideen für die Spiele haben sie und die Kollegin im Internet und in Büchern gefunden, einige haben sie sich selbst ausgedacht. Warum arbeitet Frau Müller gerade in Gröpelingen? „Wenn man als Pädagoge Lust auf Kreativität hat, findet man hier seine Herausforderung.“

Das Kollegium umfasst heute 34 Lehrkräfte, drei Erzieherinnen, eine Sozialarbeiterin und zwei Studentinnen. Für jede Klasse wird der Regelsatz von 31 Lehrerwochenstunden gewährleistet, für jedes Förderkind bewilligt die Bildungsbehörde drei Wochenstunden mehr. Das bedeutet bei im Schnitt acht Förderkindern pro Klasse zusätzlich 24 Lehrerwochenstunden – und erlaubt fast durchgängig zwei Lehrkräfte pro Klasse plus eine intensive Betreuung am Nachmittag.

Insgesamt 17 Lernwerkstätten bieten die Lehrkräfte ihren Schülern zurzeit an. Sie heißen „Leseclub“ oder „Kreatives Schreiben“, „Auf dem Weg zum Mathe-Ass“, „PC-Führerschein“ oder „Englisch intensiv“. Ilka Töpfer sagt: „Wir machen das hier nach dem Motto: fordern und fördern. Und jeder, wie er kann.“

Birgit Holle ist froh, dass es ihre Zwillinge Jantje und Fenja über die Warteliste doch noch zusammen in die Schule im Park geschafft haben. Das war keineswegs sicher, denn in Bremen werden die Plätze für die weiterführende Schule nach einer ganzen Reihe von Kriterien zugeteilt, vom Härtefall bis zum Losverfahren. Oft können die Eltern nur Präferenzen nennen. Kommt die Erstwahl nicht zum Zuge, weil alle Plätze belegt sind, wird auf die Zweitwahl übergegangen, zur Not auf die Drittwahl. Die Oberschule im Park wird überdurchschnittlich oft als erste Wahl angegeben: Auf jeden freien Platz kamen zuletzt anderthalb Bewerber.

Birgit Holle hat sich diverse Schulen angeschaut und Gröpelingen mit Bedacht gewählt. Die sozialpädagogische Fachkraft schätzt das Bildungsangebot, vor allem aber die behutsame Herangehensweise der Lehrer. Hier lerne jeder nach seinem eigenen Tempo, das sei ganz wichtig, auch für ihre Töchter, die in der Grundschule häufig krank gewesen und deshalb mit dem Lernen etwas zurückgefallen seien.

Astrid Priewe hat ebenfalls zwei Töchter. Virginia-Laura besucht die Klasse 6 b der Oberschule im Park, ihre 13-jährige Schwester geht in Bremen-Nord zur Schule. „Die haben 1100 Schüler, und meine Tochter ist häufiger zu Hause als im Unterricht, weil Lehrer fehlen“, erzählt die Mutter. „Ich kann zusehen, wie sie leistungsmäßig von Woche zu Woche weiter abrutscht. Dort hilft ihr niemand. Virginia-Laura dagegen hat hier Ganztagesbetreuung, bekommt Nachhilfe und entwickelt sich ganz anders, weil sie lernt, sich auf unterschiedliche Kulturen, Mentalitäten und Persönlichkeiten einzustellen.“

Jetzt sitzt die Tochter mit drei Klassenkameradinnen in der Lernwerkstatt „Kreatives Schreiben“, die Betty Kolodzy leitet, eine Schriftstellerin, die auch einen Lehrauftrag an der Universität Bremen hat. Kolodzy ist eine lebhafte, engagierte Person, die es versteht, sich den Mädchen zu nähern und ihnen das Schreiben nahezubringen. „Seht es doch mal so“, sagt sie, „Wut, Traurigkeit und Verzweiflung sind die besten Gründe, um zu schreiben. Wenn ich mich mal wieder richtig ärgere, dann erlebt meine Ich-Erzählerin vielleicht ganz absurde Sachen.“ Die Mädchen hat das offenbar erreicht. Ganze Pausen haben sie schon durchgeschrieben, einmal sogar drei Stunden an ihren erfundenen Geschichten gesessen. „Über dieses Medium können sie preisgeben, was sie sonst nicht rauslassen können: Frust, Probleme, negative Gefühle“, sagt Kolodzy.

Virginia-Laura hat diesmal einen Albtraum zu Papier gebracht, in dem ein Junge sterben will und sich ins Feuer stürzt. In den Texten der anderen geht es um ein Pärchen, das verfolgt wird, ein Mädchen, das von einem Fremden im Wohnzimmer ermordet wird, um Stalker in der Straßenbahn oder um die Angst abends im Park.

Es sind die Gedanken junger Heranwachsender, wie es sie überall in Deutschland gibt. In jeder größeren Stadt, in jedem schwierigen Viertel – überall da, wo wirtschaftliche Not, Ungewissheit, Furcht vor der Zukunft und Perspektivlosigkeit aufeinandertreffen. Die Schule ist der Ort, an dem sich die Gedanken zeigen. Und das gilt auch und vor allem für die ganz Kleinen, deren Befindlichkeit schon in der Grundschule sichtbar wird.

„Ich hatte mir das Ausmaß und vor allem die Folgen der sozialen Probleme im Stadtteil nicht so groß vorgestellt“, sagt Frauke Hannse, Psychologin und Schulsozialarbeiterin in ihrem Büro in der Grundschule am Pastorenweg. Hannse ist seit Februar 2012 hier, eingestellt über den Arbeiter-Samariter-Bund mit einem bis Ende 2013 befristeten Vertrag, der vom Senat finanziert wird. Sie ist unter anderem für die psychologische Betreuung der Kleinen zuständig.

Auf den ersten Blick könne man meinen, es handele sich um eine ganz normale Schule, sagt die Psychologin, aber so sei es nicht. Und dann spricht sie von dem, was ihr die Kinder erzählen. Sie berichtet von alkoholkranken Vätern und überforderten Müttern, die allein für ihre Kinder sorgen müssen. Von Sechsjährigen, die sich mit aggressiven Computerspielen die Zeit vertreiben; von einem Siebenjährigen, der seine Klassenkameraden mit dem Messer bedroht; von einem Neunjährigen, der sich um seine depressive Mutter kümmern muss, die nicht mehr einkaufen kann. Frauke Hannse sagt: „Etliche Kinder erleben hier aus den unterschiedlichsten Gründen viel Leid.“

Die Kinder sehen ihr erstes Buch in der Schule

Die Grundschule am Pastorenweg ist zu Fuß etwa eine halbe Stunde von der Oberschule im Park entfernt. Hier ist Gröpelingen noch ärmer, auf der Bremer „Brennpunkt-Rangliste“ steht dieser Teil der Stadt noch schlechter da. Drei von vier Kindern kommen aus Migrantenfamilien, jedes zweite lebt in einem Hartz-IV-Haushalt. Die Folgen des sozialen Elends bringen die Kinder jeden Tag mit. „Viele haben den Kopf nicht frei für die Schule“, sagt Hannse. „Dass sie trotzdem neugierig und wissbegierig sind, ist an sich schon eine Leistung.“

Erwerbslosigkeit, Bildungsferne und Armut gelten als die größten Hindernisse schulischer Leistung. Bremen hat in dieser Hinsicht im Bundesländervergleich die schlechtesten Ausgangsbedingungen: Jedes vierte Kind wächst in einem Elternhaus auf, in dem weder die Mutter noch der Vater Abitur oder eine Berufsausbildung haben, fast jedes dritte Kind ist von Armut betroffen.

Die Ergebnisse des Ländervergleichs der Grundschulen, die das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) im Oktober 2012 vorgelegt hat, fallen dementsprechend aus: Unter allen Bundesländern belegt Bremen in den Kompetenzen Lesen und Zuhören den schlechtesten Platz, in Mathematik schneidet nur Berlin noch schlechter ab. Das Ergebnis entspricht in Lesen und Zuhören einem Kompetenzunterschied von neun Monaten gegenüber dem Spitzenreiter Bayern, in Mathematik ist es etwas weniger als ein Jahr. Den Mindeststandard in Mathematik verfehlen in Bremen 25 Prozent aller Schüler (Bayern: etwa zehn Prozent). Den Höchststandard in diesem Bereich erreichen hier weniger als zehn Prozent (Bayern: rund 21 Prozent).

Ein zentrales Handicap, das viele Kinder zur Einschulung am Pastorenweg mitbringen, ist ihr Sprachdefizit – und das gilt nicht nur für Migranten, auch deutsche Kinder können sich oft nur unzureichend artikulieren. Aber das ist nur ein Defizit von vielen. Viele Erstklässler kennen weder Buchstaben noch Zahlen, ihrem ersten Buch begegnen sie in der Schule. Sie kommen ohne Frühstück, können sich nicht die Zähne putzen, sind übergewichtig und motorisch unterentwickelt, sie fallen vom Roller, schaffen es nicht, rückwärts zu laufen oder Seil zu springen. Sie kennen keine Regeln, es fällt ihnen schwer, sich zu konzentrieren, längere Zeit still zu sitzen und selbstständig zu spielen. Was das für den Alltag der Kinder bedeutet, ist kaum zu ermessen. Was es für den Unterricht heißt, liegt auf der Hand: „Es schafft enorme Probleme für die Kolleginnen und Kollegen“, sagt die Schulleiterin Birgit Busch.

Die 240 Schüler am Pastorenweg sind in Klassenfamilien aufgeteilt, die größeren Kinder fungieren als Paten der Kleinen. Das hilft, Lerndefizite auszugleichen und fördert die soziale Verantwortung. Gearbeitet wird an Stationen, mit Lehrmaterial unterschiedlicher Niveaus. Jede Klassenfamilie ist in der Regel mit zwei Lehrkräften besetzt, die personelle Ausstattung ermöglicht neben dem regulären Unterricht eine Reihe von Fördermaßnahmen. Es gibt Arbeitsgruppen für Lese- und Rechtschreibschwache, eine Schülerbibliothek, einen Leseclub, einen Schulchor, einen Singkreis und eine Sambagruppe; es gibt Yoga, Hausaufgabenhilfe, Gesundheitskurse und Projekte wie „Gewaltfrei lernen“, in denen mit Rollenspielen das Verhalten bei Konflikten geschult wird. Mit den Bremer Philharmonikern besteht eine Kooperation, eine türkische Konsularlehrerin unterrichtet Türkisch, Kultur und Geografie. Die Lehrerin heißt Ülkücan Sahinkaya und sagt: „Natürlich versuche ich, den türkischen Kindern auch zu vermitteln, Deutschland zu lieben und Vorurteile abzubauen.“

Morgens treffen sich die Eltern im Elterncafé. Ein Dutzend Mütter ist heute gekommen, fast alle Türkinnen. Es gibt Sesamringe, Schokoladenkuchen und Kaffee. Eine Mutter sagt: „Mein Kind ist hier, weil es Deutsch lernen soll.“ Eine andere findet gut, dass sie lernen, Verantwortung zu übernehmen. Wieder eine andere lobt die „Streitschlichter AG“. Dabei lernen ausgewählte Dritt- und Viertklässler, bei Konflikten auf dem Pausenhof zu vermitteln und zu helfen, gewaltfreie Lösungen zu finden. „Wenn man Interesse zeigt“, sagt eine, „dann hat man guten Kontakt zu den Lehrern.“ Es werden verschiedene Namen genannt, und mehr als einmal fällt an diesem Morgen der Name Murken. Der Herr Murken sei „immer da“, er sei „24 Stunden erreichbar“, dem hätten sie auch eine „Fußballtorte“ gebacken.

Thomas Murken ist ein schlanker Mann mit einer sanften Stimme. Er war 31 und arbeitete als Bankkaufmann, als er sich entschied, Lehrer zu werden. Seinen Zivildienst hatte er in einem Kindergarten geleistet. Das Abitur erwarb er an der Abendschule, während seines Studiums arbeitete er in Teilzeit in der Bank. Murken kam als Referendar nach Gröpelingen und stand irgendwann im Büro von Schulleiterin Birgit Busch. Er bat um eine Festanstellung – drei Tage später übernahm er am Pastorenweg seine erste Klassenfamilie.

Fußball schafft Freundschaften

Birgit Busch sagt, sie achte sehr darauf, dass die Kollegen in die Schule passten: „Man spürt sehr schnell, ob jemand bei uns richtig ist.“ Thomas Murken sagt, er habe sich „diesen Beruf und diese Schule sehr bewusst ausgesucht“. Zu Hause in Worpswede komme er nicht in Kontakt mit fremden Kulturen. Natürlich könne er nicht alle Eltern überzeugen, ihre Töchter am Schwimmunterricht oder an Klassenfahrten teilnehmen zu lassen. „Es ist ein langer Weg“, sagt Murken, „in allen Familien ein Bildungsbewusstsein zu schaffen, auf dessen Grundlage sich die Kinder gut entwickeln können. Doch man muss das Positive sehen und daran arbeiten.“

Was er damit meint, ist am Nachmittag zu erleben. Es ist drei Uhr, in der Turnhalle knallen Fußbälle gegen die Wand, Gummisohlen quietschen auf PVC. Ein Dutzend Mädchen ist gekommen, außerdem Denise Depken, 18, die bei Werder Bremen spielt und das Training leitet. „Kicking Girls“ nennt sich das Projekt, das von der Universität Oldenburg entwickelt und in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) in sozial benachteiligten Stadtteilen Bremens durchgeführt wird. Das Ziel: Mädchen aus Migrantenfamilien mit Fußball körperlich fit zu machen und besser zu integrieren. Geleitet wird das Projekt am Pastorenweg von Thomas Murken. Er sagt: „Wer in der Schule Probleme hat, kann hier Erfolge erleben. Außerdem soll den Mädchen spielerisch Gleichwertigkeit gegenüber Jungen vermittelt werden.“

Tatsächlich kommt so manches Mädchen über ein Fußballturnier zum ersten Mal aus Gröpelingen heraus. Der Sport sorgt für Freude und Bewegung unter Gleichaltrigen, besondere Leistungen werden mit Medaillen oder Urkunden gekürt, was vor allem für Mädchen aus muslimischen Familien eine völlig neue Erfahrung sein kann. Und er schweißt zusammen. Bei Siegen spendiert Thomas Murken Pommes oder Eiscreme. Bei Niederlagen? Gibt es Pommes oder Eiscreme. Auf dem Heimweg singen sie Lieder, die Mitglieder der Mannschaft, die sonst nur mit Mädchen derselben Nationalität Kontakt haben.

Der Fußball schafft echte Freundschaften. Zwischen Türkinnen und Deutschen, zwischen Muslimas und Christinnen, zwischen Mädchen, die sich sonst kaum näher kennengelernt hätten. Auch das ist sicherlich ein Ansporn. Denise Depken, die Trainerin, sagt: „Die Girls sind immer pünktlich und motiviert, haben zu allem Lust, selbst zu den langweiligsten Übungen. Kicken macht ihnen einfach Spaß.“

Im Februar 2012 erhielt die Grundschule am Pastorenweg für ihre Kicking Girls den Integrationspreis des DFB. Vor der Preisverleihung in Berlin kam Boris Becker nach Gröpelingen, die ehemalige Fußball-Nationalspielerin Steffi Jones begleitete ihn. Becker ist Botschafter der „Laureus Sport for Good Foundation“, die das Projekt sponsert und hinter der unter anderem Mercedes-Benz steht. Zur Preisübergabe im Berliner Hotel Intercontinental kam sogar Angela Merkel. Natürlich, sagt Birgit Busch, hätten sie sich über den Transporter von Mercedes sehr gefreut, den es als Preis gab. „Doch noch wichtiger: Es waren alle stolz.“ Die Kinder. Die Eltern. Und nicht zuletzt die Lehrer. „Hier wird unheimlich viel geleistet, doch berichtet wird immer nur über schlechte Testergebnisse. Die Anerkennung hat uns gutgetan.“

Ob diese Kinder später Abitur machen oder im Leben erfolgreich sein werden, das entscheidet sich nicht beim Fußball, durch eine Streitschlichter AG oder in einem Chor. Aber diese Schule gibt ihren Kindern etwas mit auf den Weg, das sich ihnen so leicht nicht mehr nehmen lässt. Ob das reicht? Auch mit Blick auf messbare Ergebnisse? Thomas Murken winkt ab. „Wir müssen ihnen frühzeitig helfen, in ihrem Leben positive Veränderungen herbeizuführen, indem wir ihnen über die Schule ein Gefühl von Normalität und Selbstwert vermitteln. Das ist die Hilfe, die wir geben können, und die wir ihnen schuldig sind.“

Christel Bothmann von der Oberschule im Park hat auf die Frage nach den Resultaten von Bildungsstudien ganz ähnlich reagiert. Sie warnt vor dem zunehmenden „Ergebniswahn“. Nicht nur, weil Pisa & Co. unterschiedliche Ausgangsbedingungen wie in Bremen allgemein und speziell in Gröpelingen unberücksichtigt ließen. Nein, der Direktorin der vielfach ausgezeichneten Bildungseinrichtung im Park geht es um nicht weniger als um einen neuen Bildungsbegriff. Schon möglich, dass es merkwürdig klinge, wenn ausgerechnet eine Bremer Schulleiterin das Leistungssystem kritisiere, sagt sie. Und trotzdem: Die Frage, die sich Bildung stellen müsse, sei doch: „Was ist mir wichtiger – statistische Ergebnisse oder die Unterstützung Jugendlicher auf ihrem Weg zu selbstständigen, handlungsfähigen Menschen?“---