Vorhang auf

Die Grenzen sind aus dem Alltag der Niederbayern, Südböhmen und Oberösterreicher verschwunden. Nutzen sie die neue Bewegungsfreiheit? Ein Streifzug durch Wirtschaft, Sport, Sitten und Gebräuche.




IM NIEMANDSLAND

Pilzesammeln war mal richtig aufregend im Bayerischen Wald. Regelrecht lebensgefährlich. An den Pilzen lag das nur selten. Schlimmer war es, in der grünen Grauzone zwischen freier Natur und abgeschottetem Ostblock die Orientierung zu verlieren. Stacheldraht und Minengürtel ließen harmlosen Wanderern genug Bewegungsspielraum, um sich zu verirren. Bis sie jemanden trafen, der ihnen unmissverständlich zeigte, wo es langging. Tschechoslowakische Patrouillen verhafteten die Touristen mit vorgehaltener Waffe. Verhör und Logis für eine Nacht inbegriffen.

Minen vor der Haustür, Stacheldraht im Nacken, Kalaschnikow im Anschlag: Heute sind das Geschichten aus der Gruft. In den düsteren Katakomben des österreichischen Schlosses Weitra werden die Erinnerungen an die finstere Gruselgrenze im "Schauplatz Eiserner Vorhang" wachgehalten. Gezeigt wird gebasteltes Fluggerät, mit dem Flüchtlinge die Grenzanlagen überwanden. Seit 18 Jahren können Deutsche, Tschechen und Österreicher einfach zu Fuß gehen. Die tschechischen Sperrzäune wurden ab Dezember 1989 demontiert, im Dezember 2007 auch die Grenzhäuschen. Im Niemandsland lauert heute niemand mehr.

Das Ende des Spuks an den Grenzen hat nicht nur die sozialistischen Länder befreit, sondern auch Niederbayern und Oberösterreich ­ die Randlage war eine Sackgasse. "Das eigentliche Grenzland war bis Ende der sechziger Jahre auch ökonomisch ein Niemandsland", sagt Professor Gerhard Kleinhenz, Regionalwissenschaftler der Universität Passau. "In einem militärischen Brennpunkt investieren nur wenige Firmen." Wer mithilfe üppiger Zonenrandförderung schließlich doch eine Produktionsstätte eröffnete, werkelte mit dem Rücken zur Wand: "Man konnte nur die Hälfte des früheren Marktes bedienen ­ die westliche", sagt Kleinhenz.

Der Standortnachteil der geografischen Lage ­ er hat sich in einen Vorteil verwandelt. "Die neue Zentralität" nennt Kleinhenz das, was Wunder gewirkt hat. Die Arbeitslosenquote wurde deutlich gesenkt, das Pro-Kopf-Einkommen stieg um fast 40 Prozent, der Exportanteil der Industrie erhöhte sich laut IHK von 21 auf rund 50 Prozent. Diese Dynamik erklärt, weshalb Ex-Ministerpräsident Edmund Stoiber auf gelegentlichen Reisen durch Niederbayern von einer "Boom-Region" sprach, wenn auch mit der gern gehörten Übertreibung, Oberbayern von Platz eins verdrängt zu haben.

So euphorisch fällt das Fazit von Kleinhenz nicht aus. Er hat untersucht, was Niederbayern tatsächlich aus seiner neuen Lage macht. Ergebnisse: Ein großer Teil des Aufschwungs rührt aus dem allgemeinen Aufschwung im Land ­ nicht aus regionaler Wirtschaftskooperation. Das Geschäft der ostbayerischen Unternehmen in Tschechien nimmt zu, ist aber noch klein: 98 Prozent der Firmen erlösen weniger als fünf Prozent ihres Umsatzes im Nachbarland.

Österreich ist wichtiger für die Bayern ­ und für die Böhmen. Denn die öster- reichischen Nachbarn, die eine viermal längere Grenze zu Südböhmen haben, sind dort besser im Geschäft. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich die Zahl der Firmen in Oberösterreich laut Wirtschaftskammer von knapp 41000 auf mehr als 70000 erhöht. Das Bundesland nennt sich auch dank exportstarker deutscher Kapitalanlagen wie der BMW-Motorenfabrik in Steyr "Exportkaiser" Österreichs und weist die niedrigste Arbeitslosigkeit der drei Regionen auf. Inzwischen haben die Nachbarn Niederbayern beim Pro-Kopf-Einkommen sogar knapp überholt.

Der Vorsprung der beiden Regionen vor den tschechischen Nachbarn ist kleiner geworden. "In den Jahren nach der Grenz- öffnung gab es hier eins der größten Lohngefälle weltweit", konstatiert Klein- henz. Auch heute kommen die Südböhmen trotz Aufholjagd nur auf rund ein Viertel des Wohlstands ihrer Nachbarn. Zustände wie an der Wohlstandsgrenze von Mexiko zu den USA herrschen hier jedoch nur an wenigen Brennpunkten: den Vietnamesenmärkten und Bordellen im einstigen Niemandsland.

Gegen seriöse Arbeit hat sich Deutschland strenger abgeschottet als gegen Sittenverfall. Die Angst, dass Billiglöhner aus dem Osten die deutsche Grenzregion überschwemmen ­ sie hat in Deutschland Gesetzeskraft. Die Grenze ist zwar für Pilzesucher und Spargelstecher verschwunden, auf dem Arbeitsmarkt aber bis mindestens 2009 noch weitgehend intakt. Dabei wollen die meisten gar nicht wandern. Die tschechische Wirtschaft boomt ­ dort herrscht Fachkräftemangel. Die Löhne haben sich seit der Grenzöffnung verdoppelt. Die Kontingente tschechischer Arbeitnehmer, die deutsche Firmen laut Gesetz nutzen könnten, werden gar nicht ausgeschöpft. Selbst der kürzeste Weg ist vielen zu weit: Gerade mal ein Prozent der Beschäftigten im strukturschwachen Grenzkreis Freyung-Grafenau sind tschechische Pendler. "Von einem echten Zusammenwachsen der Wirtschaftsräume sind wir noch relativ weit entfernt", sagt Gerhard Kleinhenz.

Für eine bessere Chancenverwertung seien mehr Infrastruktur und mehr Netzwerke nötig. Es wird daran gearbeitet: Vor allem in den vergangenen Jahren mühen sich Kammern und Behörden um neue Anknüpfungspunkte. Viele Menschen vor Ort sind schon weiter. Nicht wenige Niederbayern, Südböhmen und Oberösterreicher haben ihre Randgruppen-Perspektive längst abgelegt und die neue Freiheit genutzt. Sie machen aus ihren einst abgelegenen drei Winkeln schon jetzt ein lebendiges Dreiländereck.

TSCHECHEN EINDÄMMEN

Kaum war die Grenze offen, kamen die Laster. Tschechischer Zement rollte auf niederbayerische Baustellen, ein Fünftel billiger als die Ware des Baustoff-Fabrikanten Karl Bachl aus Röhrnbach im Grenzkreis Freyung-Grafenau. Schwere Zeiten schienen dem Familienbetrieb in der dritten Generation bevorzustehen. Hatte der Großvater vorm Krieg noch Ziegel nach Tschechien gekarrt, musste sein Enkel nun mit ansehen, wie plötzlich reger Gegenverkehr an seinen Betrieben vorbeizog. "Wir hatten die Befürchtung, stark unter Wettbewerbsdruck zu geraten", sagt der 58-jährige Bachl. "Aber das hat dann alles nicht gestimmt." Stattdessen ist Bachl nach eigenen Angaben zum Marktführer in Tschechien geworden.

Als die Marktwirtschaft in Tschechien Fuß gefasst hatte, versiegte nämlich die Flut. "Die brauchten ihre Baustoffe jetzt selbst", sagt Bachl. Und seine noch dazu. Die Strömungsrichtung schlug um. Profane Mengengüter wie Zement, Ziegel und Dämmmaterial konnte Bachl in solchen Massen im Nachbarland absetzen, dass bald schon die Entscheidung fiel, dort auch zu produzieren. Das erste Werk nahm 1994 den Betrieb auf, das zweite im Jahr 2000, das dritte ist gerade in Bau. Vor allem Dämmstoffe sind in Tschechien gefragt. "Die zahlen ja für Heizöl und Erdgas dieselben Preise wie wir ­ und das bei wesentlich niedrigeren Einkommen", erklärt Karl Bachl die große Nachfrage nach dem energiesparenden Baumaterial.

Das Geschäft floriert. Warum ausgerechnet eine deutsche Firma zum tschechischen Dämmstoffversorger Nummer eins aufgestiegen ist, dafür hat selbst Bachl keine originelle Erklärung, außer vielleicht den frühen Zeitpunkt seines tschechischen Engagements, den er mit der Mentalität der Niederbayern in Zusammenhang bringt: "Wir sind ja Bayerwäldler, keine Hinterwäldler."

Fakt ist für ihn, "dass die Grenzöffnung ein Gewinn war". Für die Region auch. Die Sorge der Anwohner, es könnten Arbeitsplätze verloren gehen und über die Grenze auswandern, erwies sich jedenfalls als unbegründet. Heute beschäftigt die Karl Bachl GmbH 1400 Mitarbeiter und damit rund 50 Prozent mehr als 1989. Die Hälfte der 500 neuen Kollegen hat der Unternehmer in Tschechien eingestellt, die andere Hälfte in Niederbayern.

AUF AUGENHÖHE

Der deutsche Investor kauft einen südböhmischen Betrieb ­ und wird empfindlich: "Ich hatte Angst, dass mich die tschechischen Mitarbeiter für einen Kapitalisten halten ­ mit Zylinder, Zigarre, großem Auto und so." Das mit dem Auto hat gestimmt, und auch sonst erwiesen sich die Befürchtungen von Karl Wisspeintner, Geschäftsführer der damals noch kleinen Elektronikfirma Micro-Epsilon Messtechnik bei Passau, als begründet. "Zur ersten Weihnachtsfeier haben die mich auf eine erhöhte Tribüne gesetzt", erinnert sich der 62-Jährige. "Diese Distanz war mir gar nicht recht." Vermutlich am schlimmsten: "Niemand hat mich zum Tanz aufgefordert." Der demonstrierte Klassenunterschied verhieß keine gute Zusammenarbeit.

Wisspeintner sieht aus wie der Chef vom "A-Team" aus der Fernsehserie und wirkt auch so zupackend. Und er griff zu intelligenten Maßnahmen, um das Verhältnis von deutschem Kapital und tschechischer Lohnarbeit zu verbessern. Er bot den neuen Kollegen keine Jobs als Befehlsempfänger an der verlängerten Werkbank, sondern die Aussicht, weitgehend selbstständig zu arbeiten. Er überließ es ihnen, ob sie deutsch oder englisch kommunizieren wollen, um ein Kulturdiktat zu vermeiden. Und er stellte den tschechischen Geschäftsführer Václav Vomácka nicht nur an, sondern machte ihn zum Teilhaber. Das Ziel all dessen: zusammen wachsen.

Heute können sich die beiden Herren jeweils für eine der ertragreichsten Bekanntschaften ihres Berufslebens halten. Karl Wisspeintner ist dank Vomáckas Produktionsstätte vom Nischenanbieter in der Sensorenfertigung zum Großunternehmer aufgestiegen, jener wiederum vom Kombinatsarbeiter im volkseigenen Betrieb zu dessen Chef nach Privatisierung und Neustart.

Ein Neuanfang war es für beide, als der Vorhang fiel. Vomáckas Betrieb im Südböhmischen, einem selbst für tschechische Verhältnisse unterentwickelten Landstrich ohne Autobahnanschluss, machte dicht. Und Wisspeintner musste Abschied nehmen von den Sonderabschreibungen, die ihn einst ins Örtchen Ortenburg an der Zonenrandgrenze gelockt hatten. 1992 investierte er in Südböhmen: "Das war unsere Chance, in die Großproduktion einzusteigen", sagt er heute.

In der Heimat musste er die Expansion rechtfertigen: vor der Hausbank, die das deutsch-tschechische Projekt am Ende lieber doch einer wagemutigeren österreichischen Bank überließ, und vor seinen besorgten deutschen Beschäftigten. "Ich habe ihnen erklärt, dass ihre Jobs sicher sind, weil wir mit der neuen Produktion neue Märkte erschließen werden." Nicht mehr nur Edel-Elektro für Radioteleskope, sondern auch Einfach-Techno für chinesische Waschmaschinen. Wisspeintner hat Wort gehalten. Die Belegschaft am Stammsitz Ortenburg, die vor allem forscht und ent- wickelt, hat sich auf 200 Mitarbeiter erhöht ­ und damit mehr als verdreifacht. In Tschechien stieg die Beschäftigung von null auf 81.

Wenn sich die beiden Geschäftsführer heute treffen, bemerkt man zwar die Hierarchie. Der Holding-Chef redet mehr und länger, hakt öfter ein. Auch weil der tschechische Partner sich nicht so wohlfühlt in der deutschen Sprache, hält er sich eher zurück. Aber das Kapitalistenklischee ist passé. Auch der gemütliche bärtige 57-jährige Vomáakas fühlt sich längst als Mittelständler.

"Bei Micro-Epsilon sprechen die deutschen und die tschechischen Kollegen trotz des Lohngefälles miteinander auf Augenhöhe", sagt Erich Doblinger von der IHK Niederbayern. Er hat die beiden Elektronikingenieure als Beispiel für "hervorragende grenzüberschreitende Kooperation" mit dem "Cross Border Award" ausgezeichnet ­ einem Preis der "Grenzüberschreitenden Technologieplattform" der Kammern, die seit 2002 den technologischen Austausch im Dreiländereck anregen soll. Was Wisspeintner vermutlich noch besser gefällt: Mittlerweile wird auch auf Augenhöhe gefeiert. "Heute sitzen wir bei Festen auf einer Ebene." Und die südböhmischen Arbeiterinnen fordern ihn zum Tanz auf.

VORSPRUNG ÖSTERREICH

Österreichische Banken und Versicherungen gehören in Südböhmen zum Stadtbild. Deutsche nicht. Die Stadt Gmünd in Österreich lockt mit einem österreichisch-tschechischen Industriegebiet, sogar ein firmeneigener Grenzübergang ist drin. Im Bayerischen Wald gibt's das nicht. "Die Österreicher sind ­ im positiven Sinn ­ viel aggressiver in Sachen Werbung und Marketing", sagt Pavla Hazmuková. Sie soll für Niederbayern die Trommel rühren. Seit zwei Jahren organisiert die Muttersprachlerin für IHK-Mitglieder Kontakte nach Tschechien. Der Vorsprung der Österreicher ist deutlich. Das mag daran liegen, dass sie mit dem Rennrad unterwegs sind. Und schon vor dem Fall der Grenze losgefahren sind.

Die "Internationale Friedens- und Freundschaftstour" ist eine oberösterreichische Erfindung und führte erstmals 1988 von Linz nach Budweis. Ein Jahr später kam Passau dazu. Das regionale Sportereignis erwies sich als äußerst klug eingefädelte Wirtschaftsförderungsmaßnahme: "Im Umfeld des Radrennens haben viele oberösterreichische Unternehmen erste Kontakte nach Südböhmen geknüpft", sagt Rudolf Lackner, Präsident des Oberösterreichischen Radsportverbands.

Offiziell veranstaltet sein Verband die Rundfahrt. In einem korporatistisch verbandelten Land wie Österreich, in dem selbst Radsportvereine das Parteiensys-tem in Rot, Schwarz und Blau nachbilden, waren Firmen und Behörden von Anfang an mit am Start. Alte Fernsehaufnahmen, die Lackner auf seinem Computer im Verbandsbüro in Marchtrenk laufen lässt, zeigen deshalb nicht nur das "spektakuläre grenzbrechende Rennen durch den Eisernen Vorhang", sondern vor allem österreichische Politiker, Verbandsleute und Sponsoren für die Etappen.

"Wir sagen Patronanz dazu", verbessert Lackner. Zu sehen sind das "Oberösterreichische Versicherung-Trikot" und das "Grüne Trikot der Oberösterreichischen Nachrichten". Auch die österreichische Raiffeisenbank fasste im Windschatten der Radler Tritt in Südböhmen. Flugs richtete sie in Budweis eine Filiale ein, die ­ praktisch für den Papierkram ­ auch die konsularische Vertretung Oberösterreichs beherbergte.

Selbst die Behörden gingen mit auf Tour, zum Teil sogar engagierter als von der Polizei erlaubt. Österreichische Motorradpolizisten begleiteten den Pulk bis hinein nach Passau. "Dort verschwanden sie schnell in der Tiefgarage, damit keiner so genau hinsieht", sagt Lackner. Denn offiziell durften sie in Deutschland nicht "amtshandeln", das heißt, den Verkehr regeln.

Inzwischen sind die Hürden dafür niedriger. Die Behördenkooperation in den Regionen hat "Handschlag-Qualität" erreicht, freut sich Lackner. Das erleichtert ihm die Arbeit. Der Aufwand für Visa-Formalien, Versicherungs-Papierkrieg und Zoll-Kontrollen ist stark gesunken. "Niemand versteckt sich hinter einem Passus, jeder macht Sachen möglich. Es ist schön, dass die überregionale Zusammenarbeit so geworden ist."

Deshalb ändert er jetzt auch den Namen des Rennens. Die 21. Rundfahrt 2008 startet nicht mehr unter dem völkerbeschwörenden Titel "Friedens- und Freundschaftstour", sie wird einfach zur "Dreiländertour". Wenn Freundschaft zur Normalität geworden ist, "muss man das nicht mehr so betonen", findet der Verbandspräsident. Überhaupt habe sich einiges verändert. So gibt es inzwischen etwa auch "Patronanz-Etappen" tschechischer Unternehmen. Nur niederbayerische Sponsoren fehlen.

BAYERISCH-BÖHMISCH

Oberbayern brüstet sich mit einem Mann, der ist päpstlicher als manch anderer Papst. Niederbayern hingegen hat einen Mann vorzuweisen, der ist böhmischer als die Böhmen. Das würde Manfred Herre zwar nie von sich sagen, schon wegen seines badischen Akzents. Aber das passt schon. Seine großen Vorbilder ­ Böhmen. Seine Lieblingsmusik ­ böhmisch. Auch hat er lange genug böhmische Wirtshauskultur studiert, um fachgerecht urteilen zu können: "Die Fleischportionen haben sich seit Grenzöffnung verdoppelt."

Eines hat er vielen seiner Nachbarn voraus: Er kennt ihre Blasmusik besser als sie selbst. Seine "Passauer Dreiflüsse-musikanten" treten seit Mitte der neunziger Jahre in Wettbewerben gegen böhmische Blasmusiker an ­ und gewinnen. Selbst bei Auswärtsspielen, "mitten in der Höhle des Löwen". Im Radiokonzert bei Radio Pilsen, wo über ein ganzes Jahr jede Woche eine deutsche gegen eine tschechische Band anblies, entschieden die Anrufer: Die Niederbayern haben es am besten drauf.

Davon profitiert die örtliche Tourismusregion. Herres Combo ist ihr Aushänge- schild bei Touren in die Partnerstädte und auf Volksfesten. Bei Kurkonzerten in Bad Füssing liefert Herre Hunderten Rentnern und Kurgästen einen Grund, an diesem Tag ihre Kurtaxe zu entrichten. Er freut sich auf die Touristen. Sie haben sich den regionalen Sitten und Gebräuchen noch nicht angepasst. "Die Norddeutschen tanzen gern", sagt Herre. "Der Niederbayer käme nicht mal auf die Idee, der hockt sich lieber hin und trinkt sein Bier." Obwohl Herre die tanzenden "Preiß'n" mag, ranzt er sie landestypisch auch mal an ­ mit seinen Mitteln. Erst bringt er sie volkstümlich in Stimmung, dann raffiniert aus dem Takt. "Wir streuen einen bayerischen Zwiefachen ein, Walzer und Polka gemischt, und sehen zu, wie die Paare purzeln, weil sie nicht wissen, wie sie dazu tanzen sollen."

Blasmusik sollte ein Tummelplatz für Ethnologen sein, sie könnten viel lernen. Auch Musikant Herre, gleichzeitig Leiter der Passauer Musikschule, studiert die feinen regionalen Unterschiede des Blechbläsertums im Dreiländereck. "Die bayerische Blasmusik wird rustikal, geradlinig gespielt." Er schiebt die Tasse zur Seite und klopft ­ tik-tik, tok-tok ­ ein paar abgehackte Takte auf den Café-Tisch. Ein pädagogisch prüfender Blick. Angekommen? In der österreichischen Blasmusik dagegen, da höre man immer die k.u.k. Zeit heraus. "Die spielen forsch, schneller und marschmäßig." Er klopft wieder und brummt dazu, es klingt nach uff-tata. Bei böhmischer Musik dagegen, schmelze man dahin. "Ganz lang gezogene, weiche Phrasen, viel einschmeichelnder, mehr Gefühl ­ das sind kleine Sinfonien."

Die Traditionen scheinen die Jahrzehnte der Trennung überlebt zu haben. Während die Österreicher zur Blasmusik marschierten und die Bayern sich am Bier festhielten, haben die Böhmen zu ihrer Musik gesungen und getanzt. "Das sind richtige Volkslieder da", sagt Herre. Zumindest war das früher so. Weil die Tradition in der Kommunistenzeit verpönt war, wurde die Musik am Leben gehalten von Nachfahren tschechischer Blasmusik-Ikonen, die Herre verehrt wie andere ihren Dylan oder Beethoven. Jaromir Vejvoda. Karel Vacek. Jaroslav Skabrada. Herre schwärmt von einem "Fünfer-Gestirn", dessen Melodien weltbekannt seien. Den Blick fragend auf sein Gegenüber gerichtet, fängt er an zu singen. "Rosamunde, schenk mir dein Herz und dein Ja!" Andere Melodie: "Du schwarzer Zigeuner, komm spiel mir was vor!" Der Reporter muss passen. Bildungslücke. "Das ist eine Weltnummer!" Zu den Familien der Komponisten hat Herre schon lange vor der Grenzöffnung Kontakt aufgenommen. "Ich wollte ja wissen, wie schaffen die diesen Klang?"

Die Begeisterung zu teilen liegt Herre am Herzen. Statt es beim Frühstück zu belassen, widmet er dem Begreifbarmachen blasmusikalischer Lebensart den ganzen Tag. Auf Tour hinterm Lenkrad kramt er nach CDs, wechselt von Humtata zu Täterä, stoppt bei einem Band-Kollegen, um dessen rekordverdächtige Sammlung von Mosch-Devotionalien zu zeigen. An der Musikschule hat Manfred Herre sowohl mit seinem Jugendidol Ernst Mosch als auch mit den Söhnen der tschechischen Kapellmeister Seminare veranstaltet und nennt seinen eigenen Stil "bayerisch-böhmisch", bei dem die Brauchtumsgrenzen zerfließen. Denn allen Unterschieden in Stilistik und Klangfarbe zum Trotz: "In der Blasmusik sind die drei Länder ein Kulturraum", sagt der Musikdozent.

KLEINER GRENZVERKEHR

Jede Woche strömen tschechische Arbeiter in den Kurort Bad Füssing. Bis zu 20 Busse karren samstags Arbeitskräfte herüber. Lohnkonkurrenten? Von wegen. Die tschechischen Werktätigen kommen zur Erholung. Kurdirektor Rudolf Weinberger freut sich über die neuen Kunden. "Seit zwei Jahren wächst die Zahl der tschechischen Tagestouris-ten und Übernachtungen", sagt er. "Vorher kamen praktisch gar keine." Sie kurieren in den Thermalquellen Wirbelsäulenprobleme, entspannen Muskeln und Gelenke "oder wollen einfach nur relaxen".

Die Freude über die offene Grenze ist nicht selbstverständlich im niederbayerischen Fremdengewerbe. "Anfangs gab es viele Befürchtungen", sagt Thomas Pfaffinger, Tourismusförderer von der IHK Niederbayern. Was ängstigte sich das niederbayerische Bäderdreieck vor dem böhmischen Bäderdreieck ­ der Preisverfall schien doch programmiert: Warum sollen Touristen noch in Niederbayern urlauben, wenn sie in der Nähe Günstigeres haben können? Doch Überraschung: Reisen bildet. "Unsere Bäder konkurrieren ja gar nicht, sie ergänzen sich", hat Kurdirektor Rudolf Weinberger unterwegs festgestellt. "Die tschechischen Bäder haben vor allem Trinkkuren, wir kümmern uns um den Bewegungsapparat." Auch andere Gastwirte und Hotelmanager, von der IHK zu Kennenlern-Touren nach Tschechien gefahren, wundern sich. Zum Beispiel darüber, dass das Preisniveau niederbayerischer Unterkünfte günstiger ist als das von Prag. Lässt sich mit den Nachbarn vielleicht doch konkurrieren ­ oder sogar kooperieren?

Erste Ansätze dazu gibt es. Neun deutsche und tschechische Hotels haben gerade die Dachmarke Q-Top ins Leben gerufen, unter der sie sich gegenseitig Gäste schicken. Beim Paket "Bayerisch-Böhmisches Hotel-Hopping" wählen die Urlauber zwei Nachtlager aus dem Hotel-Pool für drei Tage diesseits, drei Tage jenseits der Grenze. Marktstudien ermuntern die Wirte, sich auf die neue Zielgruppe einzustellen. Denn sie ist nicht nur groß: Deutschland ist mit rund zehn Millionen Grenzübertritten pro Jahr das beliebteste Reiseziel der Tschechen, ein Drittel der Besucher fährt nach Bayern. Die Gäste sind auch spendabel: Sie geben mit durchschnittlich 85 Euro am Tag mehr aus als deutsche Touristen, wenn sie ins Böhmische reisen (67 Euro).

Von einer gemeinsamen Vermarktung träumen schon die Regionalpolitiker. Schließlich kann jeder von den Attraktionen der anderen profitieren: Viele Touristen buchen in Niederbayern, weil sie von hier aus Tagesausflüge auch ins malerische Cesk'y Krumlov (Krumau) oder in die "Europäische Kulturhauptstadt 2009" ­ Linz ­ machen können. "Wir hätten mehr Chancen, wenn wir zusammen professioneller auftreten wür-den", sagt auch der oberösterreichische Landtagsabgeordnete Friedrich Bernhofer bei der Eröffnung der Dreiländermesse in Passau. "Es gibt gewaltige Potenziale, die zu heben wären."

Ein Rundgang über die Regionenschau zeigt allerdings, dass es damit noch nicht weit her ist. Jeder vermarktet sich selbst. Das Bayerische Pilgerbüro fischt nicht in Tschechisch und Tschechien. Die Südböhmische Tourismuszentrale lockt zwar mit deutschen Broschüren, schreckt aber zugleich mit dem Kernkraftwerk Temelin, einem seiner Hauptsponsoren. Im österreichischen Pavillon endlich ein Vorreiter regionenübergreifenden Marketings: Eine österreichische Region wirbt in Passau mit dem nahen Böhmerwald. Ein Vorbild? Fehlanzeige. "Nein, der ist nicht in Tschechien", erklärt die Hostess. Böhmerwald heiße auch eine Region in Oberösterreich.

SCHATTENWIRTSCHAFT

Um den Touristen die Verständigung zu erleichtern, halten die Industrie- und Handelskammern der drei Regionen Broschüren mit den gängigen Übersetzungen bereit. Damit lässt sich zum Beispiel erfragen: "Jaká je tu nabidka turisticky'ch aktivit?" ­ "Welches Freizeitangebot gibt es hier?"

Reisenden mit dem Ziel Strázny' hilft das kleine Wörterbuch nicht weiter. "Geschlechtsverkehr" steht nicht drin. "Zocken" fehlt auch, genau wie "DVD-Kopie", "sehr günstige Markenkleidung" oder "Gartenzwerg". Aber mangelnde Sprachkenntnisse sind kein Hindernis für irgendwas in Strázny', der Einkaufs-Einsiedelei im unbewohnten Niemandsland gleich hinter dem Grenzübergang Philippsreut. Die hektischen Vietnamesinnen sind alle in der Lage, ein paar Brocken Deutschartiges ­ "Wolle kaufen?" ­ zu sprechen.

Inmitten der asiatischen Wellblech-Hütten thront das "Ingo Casino", ein bizarr angestrahlter Fertighauspalast, "unter deutscher Führung", was merkwürdigerweise jeder Niederbayer betont, der auf das Etablissement zu sprechen kommt. Der Kasino-Werbespot im Lokalfernsehen hat offenbar die richtige Botschaft vermittelt: deutsches Glücksspiel ­ seriöses Glücksspiel.

In diesem südböhmischen Tijuana findet nichts ohne deutsche Beteiligung statt, schon gar nicht im "Amor Club" oder im "Night Club Luna", vor dem eine Tafel in Deutsch avisiert, dass es heute "Neue Mädchen" gebe. Das stehe immer da, sagt der Taxifahrer, der aus Passau regelmäßig Kundschaft herüberkutschiert. Neue Mädchen ­ das stimme aber doch irgendwie. Anders als früher arbeiten in den Clubs keine Tschechinnen mehr, sondern "Weißrussinnen, Ukrainerinnen und so was". Die Tschechinnen hätten inzwischen bessere Jobs.

Und was sagen Polizei- und Zollbehörden zu diesem Strázny'und Gomorrha? Die Stellung Philippsreut, den Grenzposten einen Kilometer vor dem Einkaufsort, haben die Beamten im Dezember 2007 aufgegeben. Seit Tschechien Schengen-Staat ist, ist die Fahrt frei. Dass sie im Hintergrund und Hinterland dennoch enger kooperieren als zuvor, müssen die Beamten, seit sie von der Bildfläche verschwunden sind, anders zur Schau stellen. Deshalb fahren sie je ein deutsches, tschechisches und österreichisches Dienstfahrzeug vor die Dreiländermesse Passau und warten auf einem gemeinsamen Messestand auf besorgte Bürger ­ vor Schaubildern zur Einbruchsicherung von Türen und zur Diebstahlsicherung für Fahrzeuge.

Hat die Kriminalität mit der Grenzöffnung etwa so stark zugenommen? Aussagekräftige Statistiken gebe es noch nicht, antworten übereinstimmend die zur Öffentlichkeitsarbeit abkommandierten Kollegen. Der tschechische Polizist lächelt. Er hat einen aktuellen Fall. Vor Kurzem wurde in Budweis ein Fahrzeug geklaut. Dank der guten Zusammenarbeit der Behörden konnte es zwei Tage später sichergestellt werden.

Das tschechische Auto fand man in einer Garage in Österreich.