Von Grachten und Trachten

Im Mittelalter ging es dem Adel richtig gut. Die Wittelsbacher waren groß und mächtig, das Herzogtum Straubing-Holland reichte bis an die Nordsee. In Niederbayern feiern sie die goldenen Zeiten bis heute. Und auch in Delft sind manche Wappen noch weiß-blau.




Der Ehrengast sollte am Montag nach der Wahl kommen. Die Straubinger FDP hatte Plakate an die Laternen gehängt. "Bienvenue, Monsieur le President" stand darauf. Jetzt lehnt das Begrüßungsplakat auf Presspappe im Stadtarchiv an altem Gemäuer. "Unsere neueste Jagdbeute", sagt Dorit Krenn, die Stadtarchivarin und freut sich über das wohl einmalige Stück. Denn der Staatsbesuch des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy am 3. März fiel aus. Monsieur le President hatte wohl Terminschwierigkeiten.

Es gab eine Zeit, da wären abgeblasene Staatsbesuche nicht der Rede Wert gewesen in Straubing, am Fuße des Bayerischen Waldes gelegen, wo die Donau durch den fetten Gäuboden strömt. Damals kamen regelmäßig Kaiser und Könige in die Stadt, da wurden im gotischen Rittersaal unter der imposanten Holzdecke Reichstage abgehalten, da heirateten die Kinder der Fürsten von Straubing in die Herrscherfamilien Europas ein. Und da regierten die Niederbayern nicht nur über das immerhin 140 Kilometer lange Straubinger Ländchen zwischen den Städten Kelheim und Passau, da waren sie zugleich auch noch die Herren von Holland.

Dorit Krenn hat sich für die Wanderung durch die Stadtgeschichte Straubings feste Schuhe angezogen und eine leichte, wetterfeste Jacke. Krenn stammt aus der niederbayerischen Mittelstadt, nur zum Studium ging sie weg, nach Regensburg und Griechenland. Seit 19 Jahren ist sie Archivarin am Ort, ihr Traumjob, sagt sie. Später steht sie am alles überragenden Stadtturm. "Das ist für mich Straubing", sagt Krenn. Wenn die Familie aus dem Urlaub zurückkommt, dann wetteifern sie, wer als Erster den hohen Turm ausmachen kann.

Ihr Heimatgefühl aus Backstein wurde im 14. Jahrhundert errichtet. Wie vieles in der Stadt auf den Hügeln stammt auch der Turm aus der städtischen Blütezeit namens Straubing-Holland. 2003 haben sie deshalb ein Jubiläum gefeiert. Der Botschafter der Niederlande kam zur 650-Jahr-Feier, holländisches Straßentheater, die Volkshochschule lehrte im Schnellkurs Niederländisch für Einsteiger. Es gab auch eine Ausstellung und eine historische Vortragsreihe zu diesem verblüffenden Kapitel niederbayerischer Geschichte, das gar nicht schwer zu erklären ist.

Der deutsche Kaiser Ludwig der Bayer war mit Margaretha von Holland verheiratet. Als der Wittelsbacher sein Erbe unter sechs Söhnen aufteilte, bekamen zwei den Norden des Herrschaftsgebietes zugesprochen, Straubing und eben Holland ­ die Geburtsstunde Straubing-Hollands. Wilhelm, der ältere der Söhne, schlug seine Zelte in den heutigen Niederlanden auf, sein Bruder Albrecht regierte in Straubing. Erst ein Schicksalsschlag brachte die beiden nur durch Bindestrich und Herrscherfamilie verbundenen Landstriche enger zueinander. Nach einer Englandreise war Wilhelm 1357 gesundheitlich nicht mehr in der Lage zu regieren. Albrecht vertrat den umnachteten Bruder an der Nordsee, ohne jedoch auf die Macht in Straubing zu verzichten. So stand also ein Schlaganfall am Anfang einer sieben Jahrzehnte währenden Herrschaft, zwischen deren beiden Zentren immerhin rund 800 Kilometer lagen.

Albrecht verlegte seinen Lebensmittelpunkt nach Holland, aber die erfolgreichen Jahrzehnte seiner Regentschaft haben auch im Norden Niederbayerns Spuren hinterlassen. Der Herrscher legte den Grundstein für den neuen Stadtkern der Residenzstadt Straubing und für das Herzogschloss am Donauufer. Unter dem lebenslustigen Wittelsbacher, seinem Sohn und den Viztümern, so hießen die Stellvertreter der Fürsten, wurde die erste Gasse gepflastert und ein Kloster errichtet. Aus Regensburg holte Albrecht die Karmeliter nach Straubing. Wer dem Karmeliter Englmar heute zuhört, meint, es wäre erst gestern gewesen ­ nicht 1368.

"Nein, für unseren Klostergründer lesen wir keine Messe", sagt der Mönch, "aber für den Sohn." Albrecht II. ist der einzige straubing-holländische Herrscher, dessen Grab in Straubing zu sehen ist. Das wuchtige, aufragende Grabmal aus rot gesprenkeltem Marmor versteckt sich hinter dem Barockaltar der Karmelitenkirche. "Sind zwei Fehler drauf", sagt Englmar, weist auf ein steinernes Spruchband über dem Grab und eine falsche Jahreszahl. Später geht es durch das Kloster, es riecht frisch nach Farbe und Reinigungsmittel ­ gerade wird die Bibliothek restauriert.

Dass sie dieser Tage 640 Jahre in Straubing feiern können, verdanken die Karmeliter neben Herzog Albrecht auch einem Pater namens Petrus Heitzer, der in den Jahren der bayerischen Säkularisierung zwischen 1800 und 1842 einfach die Stellung hielt. Heute macht dem Orden die schleichende Verweltlichung zu schaffen. Pater Englmar ist 80 und einer von nur noch sieben verbliebenen Karmelitermönchen am Ort, mit dem sie übrigens noch etwas gemeinsam haben: Auch die Kirchenprovinz der Karmeliter reichte einmal von Bayern bis tief hinein in die Niederlande.

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Leben im Angesicht der Geschichte, Bert Klapwijk spürt es Tag für Tag. "Ich habe mich um anderthalb Kilometer Akten zu kümmern", sagt der Archivar aus dem holländischen Delft und seufzt, "für ein Leben ist das zu viel." Klapwijk arbeitet bei der "Hoogheemraadschap van Delfland", eine Einrichtung, die man mit dem Begriff Wasserbehörde nur ungenügend übersetzt. Seit dem späten 13. Jahrhundert gibt es die Hoogheemraadschap, die regionalen Wasserverbände in Holland. Deichgrafen, Deichräte, Adelige und Besitzbürger mühen sich seitdem um Wasserhaltung, das Überlebensthema der Küstenregion.

Auch heute noch geht es um Deiche, Kanäle und das Trinkwasser, wenn sich Deichgraf und Räte allwöchentlich zusammensetzen in einem feinen Saal an einem glänzenden Tisch. Kaffeeduft liegt in der Luft, und über den Köpfen der Wasserschützer stößt man, in Stuck gefasst, auf bekannte Formen. Die bayerische Raute in Blau und Weiß, das Zeichen der Wittelsbacher, schmückt das Verbandswappen an der Decke. Der Saal nebenan trägt sogar den Namen "Albrecht hal". In den Fluren hängen Bilder des bajuwarischen Herrschers. Albrecht, erklärt Klapwijk, habe die Wasserräte gestärkt. Sie bekamen neue Privilegien, durften Recht sprechen in Wasserangelegenheiten. Und so kommt es, dass das ehrwürdige Hauptgebäude des Verbandes, idyllisch an einer Gracht in Delft gelegen, auch an der Fassade die baye-rischen Farben zur Schau trägt. "Wir haben Albrecht wirklich viel zu verdanken", sagt Klapwijk.

Immerhin: Die holländischen Wasserverbände gelten als so etwas wie die Keimzelle der Niederlande. Die Niederbayern haben sich also um die Nation an der See verdient gemacht. Dorit Krenn meint, Albrecht und die Seinen hätten das schlummernde Potenzial der Region erkannt. Die küstennahen Städte seien bereits aufgeblüht, der Handel mit Salzheringen setzte in dieser Zeit ein. Albrecht war es, der Den Haag ­ noch heute Sitz von Regierung und Königshaus ­ als Residenz der Grafen von Holland wählte. Und wenn Königin Beatrix dort in jedem September ihre Thronrede hält, dann tut sie das unter einem Holzgewölbe des "Groote Zaal", das nicht zufällig an die ausgeklügelten Zimmermannsarbeiten im fernen Straubing erinnert.

"Umgekehrt", sagt Krenn, hätten sie den Holländern den Rittersaal im Herzogschloss nachgemacht. Nicht das einzige Beispiel des wechselseitigen Transfers. Das sichtbarste ist wiederum ein Grab: In der Straubinger Kirche St. Jakob liegt Ulrich Kastenmayr ­ ein reicher Straubinger Kaufmann, in holländischer Kleidung, mit holländischen Gebetsbändern in den Händen. Bei der Anfertigung der naturalistischen Figur soll Jan van Eyck beteiligt gewesen sein. Die Wittelsbacher haben den Altmeister der flämischen Malerei gefördert und nicht nur das: Während Albrechts bayerische Entourage in Holland das Buchhaltungswesen einführte, die Rechnungen jener Zeit mit Ornamenten ausschmückte und an der Küste die Haager Liederhandschrift entstand, ein Liederbuch für beide Landesteile, in höfischer, ritterlicher Tradition, reisten Herolde aus dem Nordwesten nach Niederbayern. Die heutige Sprachbarriere soll damals leichter überwindbar gewesen sein. Aus Holland sei das Papageienschießen nach Straubing exportiert worden ­ ein Zeitvertreib für Schützen, die mit der Armbrust tönerne Vögel von einer Stange zu schießen versuchten.

In Niederbayern leben nicht nur die Experten mit der Geschichte. Wohl nirgendwo sonst in der Republik beschäftigen sich so viele Menschen in ihrer Freizeit mit dem Leben im späten Mittelalter. Es gibt Ritterspiele im Umkreis von Burganlagen, es gibt mittelalterliche Märkte, und es gibt die große Fürstenhochzeit von Landshut, bei der eine ganze Stadt den Sprung in die Vergangenheit wagt.

Christoph Thoma, Sprecher des Fördervereins dieses Spektakels, sitzt neben dem Turm der Martinskirche in einem Zimmer mit dicken Wänden und kleinen Fenstern und schwärmt: "Die Hochzeit zwischen der polnischen Prinzessin Hedwig und dem Wittelsbacher Herzog von Landshut ist das prunkvollste Ereignis in unserer Geschichte."

Und weil es so schön war, schlüpfen Tausende Landshuter noch heute alle vier Jahre in die Rolle von Landsknechten, Hofdamen und Musikern von 1475. Damit es nicht zu Überschneidungen mit den Olympischen Spielen oder Fußballturnieren kommt, gibt es die Fürstenhochzeit nur in Jahren mit ungerader Zahl.

Wenn 2009 die vier Wochen dauernden Feierlichkeiten stattfinden, steht bei Thoma allerdings die Ernsthaftigkeit, die Authentizität im Vordergrund. Drei Chronisten hätten damals als Augenzeugen aus der Hochzeitsstadt berichtet. Die Feierlichkeiten ließen sich im Detail nachstellen, der Speiseplan, die Schlaflager, der Ablauf. "Sagen Sie nicht verkleiden", bittet Thoma, die Menschen würden sich kostümieren: "Für Klamauk wären ich und meine Mitstreiter vom Förderverein nicht zu haben." Die Männer lassen sich schon monatelang vorher Haare und Bärte wachsen. Brillen, Modeschmuck oder falsches Schuhwerk, all das verbietet sich bei Deutschlands größtem historischen Echtzeit-Rollenspiel.

Das Festspielfieber in Niederbayern ist für Thoma auch Ausdruck der Mentalität. "Jeder Niederbayer ist eigentlich ein Theaterschauspieler", sagt der hauptberufliche Journalist. Irgendwann würde jeder Landshuter mit dem Hochzeitsfieber angesteckt. Natürlich spielte auch schon Thomas Vater seine Rolle im Festival, verfasste geschichtsphilosophische Sätze über die Hochzeit von 1475, die noch "im Schoße der alten Zeit" stattgefunden habe, über der aber bereits die "Unruhe und Spannung einer Endzeit" lag. Tatsächlich ging es bei der Vermählung um ein Bündnis der Wittelsbacher mit den polnischen Königen, um Bundesgenossen im Kampf gegen den Sultan. Die Türken hielten seit 1453 Konstantinopel, die abendländischen Herrscher fühlten sich bedroht. Thoma junior hat dafür einen eigenen Begriff: Es ging hier im Grenzland, am Rande Böhmens, um "ganz frühe Ostpolitik".

Eigentlich ist es ganz einfach: Wer auf den alten Landshuter Straßen der Neustadt und Altstadt den Kopf in den Nacken legt und die Autos ausblendet, schaut in den Himmel des 15. Jahrhunderts mit gotischen Giebeln, der Burg auf dem Fels und dem 130 Meter hohen Backsteinturm der Martinskirche. Was liegt da näher als ein Dokumentarspiel? Christoph Thoma drückt es drastischer aus: "Die Kulisse schreit danach!" Ganz zu Beginn, 1902, war es eine Gewerbeausstellung, für die eine Attraktion gesucht wurde. Man kam dann darauf, den im Rathaus als Historiengemälde verewigten Hochzeitszug wieder aufzuführen. Eine weitsichtige Gewerbeförderung: Wenn heute in Landshut Hochzeit ist, besuchen mehr als 120000 Menschen die Stadt.

Etwas kleiner spielen sie auch in Straubing mit ihrer Geschichte. Hier wird ein frühbürgerliches Trauerspiel gegeben, ebenfalls in den ungeraden Jahren. 2011 kommt die Causa Agnes Bernauer das nächste Mal zur Aufführung. Ein Festspielverein, Ehrenamtler, Laienschauspieler sind wie in Landshut Träger der Schau. Jedoch wird hier nicht die ganze Stadt bespielt, sondern nur der Hof des Herzogschlosses.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Der junge Herzog Albrecht III. von Straubing hatte sich eine Bürgerliche zur Frau genommen. Die Ehe war zwar legitim, doch die Kinder aus dieser Verbindung hätten ihren Anspruch auf Macht verloren. Die Erbfolge war in Gefahr, und der Adel murrte über die Baderstochter am Hof. Also handelte der Schwiegervater in München. Während der junge Ehemann auf einem Jagdausflug weilte, wurde der Bernauerin der Prozess gemacht. Angeklagt wegen Verrats und Zauberei, ersäufte man sie zur Strafe am 12. Oktober 1435 in der Donau.

"Generell stellt sich der Niederbayer ja gern dar", meint auch Edeltraud Fischer vom Festspielverein Agnes Bernauer. Sie ist zwar eigentlich aus Köln, aber längst vom niederbayrischen Spieltrieb angesteckt. Anders als in Landshut wird die Bernauerin als Historienspiel aufgeführt. Ein professioneller Regisseur inszeniert das Stück mit einer Laienspielschar in 15 Aufzügen an 19 Abenden auf einer Theaterbühne. Die Archivarin Dorit Krenn freut sich auf die Spiele. "Wenn dann die Bernauerin abgeführt wird und die mittelalterliche Glocke im Schlossturm läutet, läuft es mir immer kalt den Rücken hinunter", sagt sie und schüttelt sich beim Gedanken leicht.

Mit großen Gefühlen einer starken Frau endete auch die Geschichte Straubing-Hollands: Jacobäa von Bayern war die Enkelin von Albrecht, dem ersten Straubing-Holländer Herzog. Sie kämpfte mit ihrem Onkel Johann um die Macht an der Küste, obwohl sie dafür als Frau im Wittelsbacher Bayernreich gar nicht infrage gekommen wäre. Elf Jahre dauerte der erbitterte Erbfolgekrieg, bei dem die Frau in Rüstung zwar den Onkel überlebte, jedoch am Ende dem Machtanspruch Phillip von Brabants weichen musste.

Tragisch war das Leben und Sterben der bayerischen Herrscherin in Holland, viermal heiratete sie, erst beim letzten Gatten soll es Liebe gewesen sein. Doch dann raffte sie die Schwindsucht hin. In Holland ist "Jacoba van Beieren" unvergessen, in Niederbayern spielt sie nicht mal eine Nebenrolle in einer His-torienaufführung: Jacobäa war nie im Stammland der Wittelsbacher, sie sprach Französisch. Als junges Mädchen wurde sie mit dem Dauphin des französischen Königs verheiratet. Aber Johann von Valois starb, bevor er es auf den Thron schaffen konnte.

Die Geschichte lebt ­ und erhält auch neuen Stoff für die Zukunft. Der im März ausgefallene Staatsbesuch aus Frankreich fand nun doch noch in Straubing statt. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Nicolas Sarkozy verlegten ihre deutsch-französischen Konsultationen auf den 9. Juni.

Eingefädelt wurde das Spitzentreffen vom Bundestagsabgeordneten Ernst Hinsken, der auch als Tourismusbeauftragter der Bundesregierung fungiert. Als waschechter Niederbayer war Hinsken im vergangenen Jahr natürlich auch bei den Agnes-Bernauer-Festspielen dabei. Der Schirmherr wünschte den Besuchern, was der geschichtsbewussten Region ohnehin regelmäßiges Anliegen ist: "Ein unvergessliches Erlebnis."