Ganz schön anziehend

Für einen Einkauf im Waldkirchener Modehaus Garhammer nehmen die Kunden stundenlange Anfahrten in Kauf. Weil sie dort etwas sehr Seltenes bekommen: Service.




Schon das Parkhaus lässt staunen: Auf sechs Etagen stehen die Autos dicht an dicht. Sie kommen aus Regensburg, Nürnberg, Würzburg und Traunstein, aus dem österreichischen Peilstein und dem tschechischen Budweis. Alle 100 bis 200 Kilometer entfernt, Fahrzeit mindestens anderthalb Stunden. Die nächste Autobahnausfahrt ist 25 Kilometer weit weg. Wer hierher will, muss durch den Wald. Über eine Straße voller Kurven, in denen die Lastwagen nicht überholt werden können. Und immer, wenn man gerade gut in Fahrt ist, kommt eine Ortschaft.

Willkommen in Waldkirchen, einem kleinen Örtchen mitten im Bayerischen Wald, das sich erst seit 35 Jahren Stadt nennen darf. Attraktionen sind die gute Luft, ein Marktplatz ­ und das Modehaus Garhammer. Der Grund, warum so viele auswärtige Autos hier sind.

Garhammer, 1896 als Kolonialwarenhandlung eröffnet, hat eine Verkaufsfläche von 6800 Quadratmetern. Fast so viel wie die Galeries Lafayette in Berlin. Der Umsatz steigt stetig, obwohl die Branche seit Jahrzehnten darbt. Und nicht nur Kunden kommen von weither ­ Einzelhändler aus ganz Deutschland reisen nach Waldkirchen, um das Phänomen Garhammer zu bestaunen: Was machen die da bloß?

Das Erdgeschoss des Modegeschäfts ist bunt und voller Kunden. An langen Stangen hängt dicht gedrängt die Kleidung. Der erste Eindruck: wie bei H&M. Aber der Unterschied ist auch sofort erkennbar ­ es ist zwar voll, aber nicht rummelig. Es wimmelt von jungen Verkäuferinnen, die ständig wieder Ordnung schaffen. Sie sind nicht sofort zu erkennen, weil sie alle unterschiedlich gekleidet sind und auch viele der Kundinnen ihre Jacken abgelegt haben. Nur ein kleines Schild an der Brust verrät die Mitarbeiterin. In der Ecke steht ein Cola-Automat. Eine junge Verkäuferin öffnet für zwei elternlos herumstreunende Kinder die Flaschen und reicht ihnen Strohhalme. Schon

rasen sie mit den klebrigen Getränken durch die Gänge. Eigentlich ein Albtraum für ein Modegeschäft. Bei Garhammer Teil des Services in der Jugendabteilung, die sie augenzwinkernd "Kaos" nennen.

Von dort geht es über eine breite Holztreppe zu einem kleinen Bistro und weiter auf die Herrenetage. Am Treppenabsatz steht ein älterer Herr im eleganten Anzug und grüßt so selbstverständlich, dass der Besucher kurz überlegt, ob er den Mann kennt. Offenbar ist er nicht irgendein Verkäufer. Er verbreitet jene Ruhe, die nur ein Hausherr ausstrahlen kann. Mitten in dem großen Kaufhaus umgibt ihn eine Aura, als arbeite er bei einem klassischen Herrenausstatter.

Es geht weiter, die Treppe hoch in die Damenabteilung, wo das meiste Geld verdient wird. Zwischen beigefarbenen Hosenanzügen von Mexx und bunten Hilfiger-T-Shirts sitzt Emma Oswald mit ihrer Tante Emma Weber und trinkt Kaffee. Sie hat ein Kostüm für eine Hochzeit gekauft und wartet darauf, dass es in der hauseigenen Schneiderei geändert wird. "Die Enkelkinder spielen unten, und meine Tochter schwirrt auch irgendwo herum", sagt die Frau aus Lalling im Bayerischen Wald.

Offenbar hat es hier niemand besonders eilig. Das liegt ­ im Jargon der Einzelhändler ­ an der "Aufenthaltsqualität", sie ist ein Grund, warum die Kunden die lange Fahrzeit nicht scheuen. In allen Abteilungen werden Kaffee, Sekt, Wasser und Snacks gereicht. Überall stehen Sofas und Sitzecken, Blumenkübel mit frischen Tulpen und Narzissen. Für so einen Familienausflug mit Einkaufen und Kaffeetrinken haben manche Kunden schon einen eigenen Namen gefunden: "Garhammern" nennen sie das.

Emma Oswald kommt jedes Jahr mindestens einmal hierher, seit nunmehr 23 Jahren. Das weiß sie genau, weil ihre Tochter damals 17 war und ein Kleid für den Abtanzball brauchte. Manchmal reist sie auch mit dem Frauenbund Auerbach per Bus an ­ ein halber Tag Garhammer und ein halber Tag Kaffeetrinken. So ist es anscheinend bei vielen Kunden: Das Modehaus ist ein Nahausflugsziel, das sich gut mit Besuchen im Bayerischen Wald oder bei Verwandten, mit einem Golf- oder Wellness-Wochenende verbinden lässt.

Dabei bräuchte Frau Oswald von Lalling nur 20 Minuten bis nach Deggendorf, die nächste Stadt. Für die knapp 70 Kilometer nach Waldkirchen ist sie mehr als eine Stunde unterwegs. "In Deggendorf findet man nichts mehr, in den Kruschgeschäften", sagt die Rentnerin, die zu Hause eine Schnapsbrennerei betreibt. Mit "Krusch" meint sie günstige Filialisten wie New Yorker, Takko und H&M, zu deren Zielgruppe sie nicht wirklich gehört, und die auch Niederbayerns Einkaufsstraßen dominieren. Ebenso wenig sagen Frau Oswald die inhabergeführten Modegeschäfte in Deggendorf zu. "Nach einem halben Jahr können sie die Miete nicht mehr bezahlen, und schon gibt es wieder etwas anderes."

Waldkirchen hingegen zieht nicht nur dauerhaft Kunden an, auch in der Bekleidungsbranche ist es eine konstante Adresse. "Garhammer gilt vielen Einzelhändlern als Vorbild", sagt Heijo Gassenmeier, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes des Deutschen Textileinzelhandels (BTE) in Köln. Das macht das Modehaus auch für neue Mitarbeiter attraktiv ­ neulich zog sogar eine Einkäuferin aus dem legendären Kaufhaus des Westens von Berlin in den Süden, um bei Garhammer zu arbeiten.

Noch deutlicher belegen die Zahlen den Vorbildcharakter der Niederbayern: Während die Bekleidungsbranche seit 1992 nach BTE-Angaben 15 Prozent eingebüßt hat, stieg der Umsatz bei Garhammer um insgesamt knapp 60 Prozent auf 34 Millionen Euro im Jahr 2007. Ein Ende des Wachstums ist nicht in Sicht, obwohl eine Marktstudie das schon Mitte der siebziger Jahre prognostizierte ­ Garhammer habe sein Standortpotenzial ausgeschöpft, hieß es. Seitdem hat sich der Umsatz vervierfacht. Die Rendite liegt deutlich über dem Branchenschnitt.

Auch Garhammer hat einst bescheiden angefangen. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg gab es hier vor allem Stoffe, Gardinen und Lebensmittel ­ damals nähten viele Frauen ihre Kleider noch selbst. Das Fundament für den heutigen Erfolg legten Franz Huber und sein Bruder Reinhard, Enkel des Firmengründers Johann Garhammer, vor 30 Jahren: Sie verdoppelten die Verkaufsfläche auf 2000 Quadratmeter und machten den Nahversorger weit über die Grenzen des Landkreises Freyung-Grafenau hinaus bekannt. Der Zeitpunkt war günstig: Das Dorf Waldkirchen wurde zur Stadt erhoben. Auf den Tag der Stadtrechtsverleihung legten die Brüder die Wiedereröffnung und schalteten kühn formulierte Anzeigen in Passau und den umliegenden Kreisen: "Waldkirchen ­ Stadt der Mode".

"Waldkirchen war damals in aller Munde", erinnert sich Seniorchef Franz Huber, der elegant gekleidete ältere Herr aus der Herrenabteilung. "Es war plötzlich nicht mehr das Dorf im Bayerischen Wald." Neben seinem Stehpult am Treppenabsatz wirkt er wie ein Kapitän auf der Brücke, der ruhig die Übersicht bewahrt und die Mitarbeiter dezent auf die Decks verteilt. Mit seinem immer gleichen freundlichen Lächeln schafft es Huber, zugleich präsent und unauffällig zu sein.

Einkaufen und urlauben

Große Aufmerksamkeit, erzählt der 66-Jährige weiter, erfuhr die Werbekampagne damals auch, weil es die Zeit der Gebietsreform in Bayern war. Wer sind wir, nach welchem Zentrum richten wir uns aus, oder sind wir vielleicht selbst ein Zentrum? ­ solche Fragen wurden heiß diskutiert. Bis heute ist Niederbayern eher dezentral strukturiert. Warum also nicht zum Shoppen nach Waldkirchen fahren? Und noch eine andere Entwicklung kam den Hubers damals zugute: Der Tourismus im Bayerischen Wald erlebte einen Aufschwung, und Waldkirchen bekam mit Hallenbad und Eissporthalle eigene Attraktionen. So wurde ein Einkauf bei Garhammer zum Teil des Urlaubsprogramms. Heute sind etwa 15 Prozent der Kunden Touristen, schätzt Huber.

Aber warum kommen Leute aus Würzburg und Nürnberg hierher? Oder gar aus der Landeshauptstadt? Nach Unternehmensangaben kaufen immerhin mehr als 1000 Münchner mindestens zweimal im Jahr mit ihrer Kundenkarte bei Garhammer ein. 3000 Stammkunden kommen sogar aus Österreich.

Jede Kundin eine Königin

Der Schlüssel ist die intensive Kundenbetreuung. "Personal Shopping" heißt das bei Garhammer auf Neudeutsch. Und das geht so: Als Erstes tritt Annemarie Mager auf den Plan. Die 58-Jährige ist so etwas wie die gute Seele in der Damenabteilung. Sie begrüßt die Kundinnen, nimmt ihnen die Jacken ab und bietet ihnen Getränke an. So ergibt sich ein ungezwungenes Gespräch. Ein "Kann ich Ihnen helfen?" ist ihr viel zu banal. Mager schüttelt sich, als ihr der klassische Verkäuferinnen-Satz über die Lippen geht. Wenn die Kundin Beratung wünscht, greift Mager zum Mobiltelefon und ruft eine Modeberaterin heran, die vom Alter und Typ zu der Dame passt.

Zum Beispiel Margrit Wurm. Sie ist 47 und trägt einen kurzen Designer-Blazer mit Kapuzenpulli, Jeans und Stiefel. Gemeinsam mit der Besucherin geht sie die Gänge ab und nimmt alles mit, was der Kundin halbwegs gefällt. Gleich zwei Umkleidekabinen werden belegt, und während der Anprobe bringt Frau Wurm immer neue Ware und kreist den Kundengeschmack im Ausschlussverfahren ein. Angenehm unaufdringlich. Ohne falsche Komplimente. Kein "Das steht Ihnen aber gut". Zwei Stunden, sechs Hosen, zehn Blazer und fünf Blusen später ist die Kundin erschöpft, aber glücklich ­ und dankbar, dass sie all die Kleider nicht selbst tragen musste.

Margrit Wurm hat eine eigene Visitenkarte. Beim nächsten Mal kann die Kundin einen Termin ausmachen. Auf einer weißen Karteikarte notiert die Beraterin Größe, Lieblingsmarken und -farben, die gekauften Kleider und ein paar persönliche Dinge, die sie jetzt nicht verrät. "Dann kann ich nächstes Mal ein paar passende Stücke raushängen."

Jede Modeberaterin hat ihre Stammkunden. Sie weiß, was sie im Schrank hängen haben und oft auch, wie es der Familie geht. So lässt es sich leichter plaudern ­ über die lange Zeit. Eine Beratung kann bis zu fünf oder sechs Stunden dauern und durch sämtliche Abteilungen von der Unterwäsche bis zu den Schuhen führen. "Wir schicken Kunden nicht einfach in eine andere Abteilung", sagt Margrit Wurm. Wegen der persönlichen Betreuung und der enormen Auswahl erledigen viele Kundinnen ihren ganzen Saison-Einkauf. Bons von 2000 bis 3000 Euro sind keine Seltenheit. Jede fünfte Garhammer-Kundin nimmt eine solche Beratung in Anspruch, schätzt Wurm.

Guter Service, zufriedene Kunden. Das klingt einleuchtend. War aber zunächst recht kompliziert. Es gab Neid und Unzufriedenheit, als das Konzept der Modeberaterinnen eingeführt wurde. Schließlich entscheidet Annemarie Mager, welche Verkäuferin bedienen darf und somit die Chance auf eine Provision erhält. "Da waren viele Gespräche nötig", sagt Mager. "Solche Dinge müssen immer sofort angesprochen werden. Die Kunden spüren, wenn es Konflikte gibt."

Heute ist nichts Unangenehmes zu spüren. Tatsächlich liegt bei Garhammer eine fast unheimliche Freundlichkeit in der Luft. Alle paar Meter wird man aufgefordert, Gott zu grüßen. Und die Verkäuferinnen, von denen es ungewöhnlich viele gibt, verstehen es, allein mit Blicken unaufdringlich Hilfsbereitschaft zu signalisieren. Ein Teil davon ist erlernt: Jede Mitarbeiterin bekommt pro Woche 45 Minuten Training.

Die Stimmung hat aber auch mit der Inhaberfamilie zu tun. Franz Huber ist mit Frau Brigitte, Sohn Christoph und dessen Lebensgefährtin den ganzen Tag im Geschäft präsent. Einer der beiden Männer, die sich die Geschäftsführung teilen, steht immer als Ansprechpartner am Treppenabsatz der Herrenetage. Am Stehpult bearbeiten sie Einkauf, Personaleinsatz oder die Werbung. Ein öffentliches Büro, das Nähe und Vertrauen signalisiert.

Die Hubers setzten schon in den siebziger Jahren auf hochwertige Marken und die neuesten Trends. "Manchmal haben wir uns eine blutige Nase geholt, wenn wir den Wunsch nach besonders modischer Kleidung überschätzt haben", sagt Franz Huber. Heute sind viele aus der Region stolz, so ein modernes Modehaus in der Nachbarschaft zu haben. Die 69-jährige Ottilie Blessing sagt: "Die Leute in Passau denken, wir sind hinterwäldlerisch. Die hätten nicht gedacht, dass wir so modebewusst sind." Selbst die Bäuerinnen hätten irgendwann angefangen zu Garhammer zu gehen. Mitgebracht von ihren Schwiegertöchtern. "Dann haben die Verkäuferinnen sie gestylt", sagt Blessing. Sie hat sich gerade eine Hose von Brax gekauft. "Dreiviertellang", sagt sie bedeutungsvoll.

Eine symbiotische Beziehung

Heute ist Garhammer aus Waldkirchen nicht mehr wegzudenken. Das Modehaus beschäftigt 320 Mitarbeiter, die ganze Stadt hat 2532 versicherungspflichtige Arbeitsplätze. An guten Verkaufstagen kommen 5000 bis 6000 Kunden ins Geschäft, halb so viel wie Waldkirchen Einwohner zählt: 10500. Das weckt Begehrlichkeiten. Schon oft bekam Garhammer Angebote, in andere Städte umzusiedeln oder dort Filialen zu eröffnen ­ zuletzt für das neue Einkaufszentrum in Passau, das in diesem Jahr eröffnet werden soll. Die Hubers entschieden jedes Mal dagegen.

"Garhammer gehört zu Waldkirchen. Wir können unsere Unverwechselbarkeit nur hier leben", sagt Christoph Huber, der Juniorchef, der seit zehn Jahren mit im Geschäft ist. Huber, 38 Jahre alt, sitzt in einem schlichten Hinterzimmer-Konferenzraum und ringt nach Worten. Zu viel von den Garhammerschen Geheimrezepten will er nicht verraten. "In dieser regionalen Umgebung, wo die Welt noch ein bisschen in Ordnung ist, wo es andere soziale und regionale Strukturen gibt als in den Großstädten, können wir unsere Stärken besser ausspielen", sagt er schließlich.

Dazu gehört offenbar auch, auf den eigenen Bauch zu hören. Branchentrends und Marktforschungen haben die Hubers nie sonderlich beeindruckt. Anfang der achtziger Jahre, als auf der Düsseldorfer Kö' und der Mö' in Hamburg die ersten alteingesessenen Modefachgeschäfte den Filialen internationaler Luxusmarken weichen mussten, weil sie die Mieten nicht mehr zahlen konnten, setzte Garhammer auf eine stetige Erweiterung der Verkaufsfläche. Und die Hubers bauten ihr eigenes Parkhaus schon, als es den Trend zum Einkaufen auf der grünen Wiese noch längst nicht gab.

Für die Zukunft wünscht sich Christoph Huber, dass sich der Bayerische Wald noch stärker im hochwertigen Tourismussegment positioniert. Mit Wellness, Golfen und Natur ­ passend zur Garhammerschen Kundschaft. Potenzial gebe es auch in Tschechien, von wo immer mehr Kunden den Weg nach Waldkirchen finden, sagt der Juniorchef, der sich stark in der Regionalförderung und im Tourismusverband Ostbayern engagiert. Deshalb wirbt Garhammer inzwischen auch auf Tschechisch und denkt darüber nach, tschechischsprachige Verkäuferinnen einzustellen.

Es ist sieben Uhr. Das Parkhaus ist leer, die Hubers gehen wie die meisten ihrer Mitarbeiter zu Fuß nach Hause. Nach acht Stunden Garhammer ist die Kundin so weichgespült, dass ihre Toleranz gegenüber schlechtem Service rapide gesunken ist. Schwer erträglich sind die drei Minuten, die es dauert, bis beim Italiener die Bedienung auftaucht. "Wollen Sie etwas mitnehmen?", fragt sie direkt. Ohne elegante Einleitung. Ohne Lächeln und ohne Sekt und Sofa. Willkommen in der Normalität.