Die große Unbekannte

Seit Langem steht, vielmehr wächst sie im Schatten ihrer Konkurrenz aus dem Spreewald. Dabei ist die niederbayerische Gurke europaweit der Star auf dem Feld.




Offensichtlich wird das Dilemma der niederbayerischen Gurke bei einem Verkehrsunfall im Winter 2004: An einem Februartag nimmt ein 18-jähriger Opelfahrer ohne Führerschein einem Lastwagen die Vorfahrt. Kurz darauf liegen etwa 20000 Gläser mit eingelegten Gurken im Graben einer Straße bei Pfarrkirchen. Der Opelfahrer heißt Daniel Küblböck, er hat einmal einen dritten Platz in der RTL-Sendung "Deutschland sucht den Superstar" belegt. Zwar klappte es mit der anschließenden Karriere nicht, den ausgebildeten Kinderpfleger kennt aber trotzdem selbst Jahre später noch jeder Deutsche mit Fernsehanschluss.

Nun ist die niederbayerische Gurke dem Sänger Küblböck nicht nur zahlenmäßig weit überlegen. Sie hat nachweislich auch mehr Erfolg: Von allen namhaften Supermärkten zwischen München und Flensburg wird sie angefordert, sie liegt als Scheibe auf den deutschen Burgern von McDonald's, mischt sich als Würfel in Fischkonserven oder bis zur Unkenntlichkeit zerschreddert in Saucen wie Relish. Im Sortiment von Lebensmittel-Produzenten und Konservenfabrikanten ist sie als Honiggurke zu finden, als Senfgurke, Bärlauchgurke, Gurkenschnitzel, Dillschnitte, in "Urlaubsträumen aromatisch-würzig", "Grillspaß herzhaft-würzig", als Schlemmertöpfchen, Sticksi, Knax oder Knaxino. Geboren wird die Gurke hier, in der Region an der Grenze zu Österreich und Tschechien. Die größte zusammenhängende Anbaufläche für Einlegegurken in Europa liegt nämlich keineswegs, wie oft vermutet, im Spreewald, sondern in Niederbayern. Kurzum: Die niederbayerische Gurke ist ein wahrer deutscher Superstar. Das weiß nur kaum jemand.

Für mehr als 50 Bauern in der Region ist sie inzwischen zu einer der wichtigsten Einnahmequellen geworden. Für Menschen wie den 56-jährigen Max Unverdorben, der in abgetragener Latzhose auf seinem Hof steht und sich hin und wieder über die Nasenflügel streicht, mit Fingern, unter deren Nägeln diese lockere, humusreiche Parabraunerde sitzt, in der die Gurken so gut gedeihen. In ruhigem Ton stellt Unverdorben erst einmal klar, worum es hier eigentlich geht: vorwiegend um die vermutlich aus Indien stammende warzige Einlegegurke, etwa neun bis zwölf Zentimeter lang, Wasseranteil mehr als 95 Prozent. Eine einjährige Pflanze ist es, von der zwischen Ende Juni bis Anfang September rund 100000 Tonnen und somit etwa 65 Prozent der deutschen Gesamtproduktion geerntet werden. In ganz Niederbayern braucht man dafür so viel Platz, dass der Gurkenanbau problemlos etwa 2000 Fußballfelder ruinieren könnte.

Max Unverdorben würde davon schon mehr als 30 benötigen, auf die er Ende April zunächst mit einem eigentümlichen Anhänger hinausfährt, um das Land mit endlosen Bahnen einer Art schwarzer Müllsäcke zu überziehen. Einen Meter breite Mulchfolie ist es, unter der sich zur Bewässerung ein kleiner Tropfschlauch befindet und die schließlich in kurzen Abständen von einem Sägerät durchstoßen wird. Zwei bis drei Saatkörner schießt die Maschine jeweils drei Zentimeter tief in den Boden; Unverdorben muss mehr als eine Million Körner säen, bevor er ernten kann. Damit die Pflanzen früher wachsen und das Feld schließlich wie ein grünes Netz überziehen, wird noch ein wärmendes Vlies über die Bahnen gelegt. Mancher Mensch hat es nicht so gut wie eine bayerische Gurke.

Die Gurke bestimmt das Leben

Etwa zwei Monate kann der Landwirt dann hoffen, dass rechtzeitig alle Erntehelfer eintreffen, die er für die Saison braucht. Deutsche seien die Ausnahme, sagt Unverdorben, "die arbeiten zwei bis drei Tage, dann sind sie weg". So kommen die Hilfskräfte fast ausschließlich aus Osteuropa. 90 Einladungsschreiben an vorher kontaktierte Interessenten hat Unverdorbens Frau Gertraud heute Morgen zum Arbeitsamt gebracht; 14 gingen nach Rumänien, 76 in die Slowakei. 60 Euro hat das gekostet ­ pro Stück. Ob sich die Investition gelohnt hat, wird sich erst in ein paar Wochen herausstellen, wenn eine Flotte von Kleinbussen auf dem Hof eintrifft. Vergangenes Jahr kamen 30 Erntehelfer weniger als erwartet, weil sie in Irland noch einen Saisonjob gefunden hatten, für den pro Stunde mehr gezahlt wurde als die tariflich festgelegten 5,10 Euro bei den Unverdorbens.

In den Sommermonaten verwandelt sich der Hof dann in ein Miniaturdorf. Rund 30 einfache Zimmer hat das Paar für die Erntehelfer eingerichtet. Obendrein werden zehn Wohn-Container aufgestellt, die sich außerhalb der Saison in der Scheune neben den Traktoren und dem Berg aus Futtermais stapeln. Jeden Morgen um 5.30 Uhr zieht die Kolonne hinaus auf die Felder. Frauen mit türkisfarbenem Kajal unter den müden Augen und junge Männer mit nach hinten gedrehten Schirmmützen. Nach maximal zwölf Stunden kehren sie zurück, die Hemden um die Taillen gebunden wie ermattete Wanderer. Nicht selten sind die Unverdorbens dann Chefs und Herbergseltern zugleich, die eine geschwollene Hand behandeln oder zum Zahnarzt fahren müssen. Danach setzen sie sich an die Bücher. Die Lohnkos- ten eines Tages verschlingen 40 bis 45 Prozent des Ertrages. Manchmal klettern sie auch auf 55 Prozent. "Den Arbeitstag hätten wir uns dann schenken können", sagt Gertraud Unverdorben. Er endet selten vor zehn Uhr abends.

Als eine einzige lange Sieben-Tage-Woche geht der Sommer dahin. Die Gurke bestimmt das Leben. Bei Sonne kann man ihr fast beim Wachsen zusehen, bei Regen ist sie wie eingefroren. So gibt ein Gemüse vor, wann geschlafen, wann gegessen, wann gearbeitet wird. Es ist ein hartes Geschäft, finanziell, aber vor allem körperlich, obwohl Gurken schon lange nicht mehr in gebückter Haltung gepflückt werden müssen. Eine Maschine wird inzwischen eingesetzt, deren Rasanz verheißender Name allerdings im Missverhältnis zur Wirklichkeit steht: Statt majestätisch über sie hinwegzugleiten, rumpelt der sogenannte Gurkenflieger im Kriechgang über die Erde; 100 Meter pro Stunde. Aus der Ferne ähnelt er ein wenig den Konstruktionen, wie man sie aus Filmen wie "Tollkühne Männer in ihren fliegenden Kisten" kennt. Kastenförmige, mit weißem Stoff überzogene Tragflächen rechts und links, dazwischen ein Traktor ­ Hans Steiger hat ihn geliefert.

Genau 25 Jahre ist es her, dass der Landwirt mit ausgeprägter Tüftel-Leidenschaft für einen Kollegen sein erstes Exemplar gebaut hat. "Der wollte endlich eine Maschine", erinnert sich Steiger und blickt konzentriert auf seinen Computer-Bildschirm mit Gurkenflieger-Fotos, "damit man beim Ernten nicht mehr die ganzen Pflanzen zertrampelt."

Steiger machte sich an die Arbeit, schweißte, schraubte, baute nach Gefühl ­ und zeichnete die Pläne erst, als er fertig war. Wie er es bei allen Erfindungen macht; seinem Kohl-Ernteband, der Salat-Erntemaschine, der Rückgewinnungsanlage von Zucker. Knapp zwei Monate später rollte der erste Gurkenflieger aus seiner Scheune. Gewicht (ohne Traktor): knapp zwei Tonnen; Spannweite (mit Traktor): 21 Meter. Bordbesatzung: ein Pilot auf dem Traktorsitz und 24 arbeitende Passagiere, die ihre gesamte Reise allerdings in Bauchlage und verteilt auf die beiden ­ um Blutstau zu verhindern ­ 15 Grad nach oben weisenden Tragflächen verbringen müssen. Im Idealfall baumeln die Arme gestreckt nach unten, Spülhandschuhe schützen vor den kratzigen Pflanzen. Direkt vor dem Kopf läuft ein Förderband entlang, darauf können die Gurken gelegt werden. "So sieht's bei der Ernte aus", sagt Steiger und klickt auf ein Foto, das von hinten eine eigentümliche Gesellschaft auf einer Art Matratzenlager zeigt.

Mehr als 200 seiner bodenständigen Spezialflieger hat Steiger schon gebaut, die auch im Ausland im Einsatz sind. Momentan liegt noch ein Exemplar in der Scheune, das in den nächsten Wochen nach Russland verschickt wird; sogar aus der Ukraine ist kürzlich eine Bestellung eingetroffen. Auch Niederbayerns Konkurrenz im Spreewald arbeitet längst mit den Maschinen. Kurz nach dem Mauerfall ist Steiger in den Osten gefahren und hat seine Erfindung dort spontan auf einem Feld vorgeführt, auf dem nur Frauen russischer Piloten arbeiteten. "Los, bitte mal reinlegen!", habe der Vorarbeiter den Frauen auf Russisch zugerufen ­ da seien alle weggelaufen. "Die hatten Angst", sagt Steiger und verschluckt kichernd fast den Rest des Satzes, "das Ding würde mit ihnen abheben!"

Der Gurkenflieger hat die Arbeit vereinfacht, mühsam ist sie dennoch geblieben. Steiger arbeitet schon daran. Eine Verbesserung soll bald der "Wellness-Flieger" bringen. Nun ist dieser Name ebenfalls etwas irreführend, denn selbst mit dem Wellness-Flieger wird niemand zur Entspannung erst mal Gurken ernten gehen. Aber die Ergonomie soll sich verbessern, der Kopf soll mehr Halt bekommen, die Haltung für die Beine angenehmer werden. Den Prototyp entwickelt Steiger momentan mit Siegfried Kleisinger, einst Professor für Agrartechnik an der Universität Hohenheim-Stuttgart, und der Gurkenerzeuger-Organisation Bayern (GEO), einer Art Mischung aus Interessengemeinschaft und Gurkenbörse.

Die GEO hat ihren Sitz in einem unscheinbaren Bau in Aholming. Eine Kaffee-küche und ein paar Büroräume mit Messe-Fotos und Gurkenglas-Postern an den Wänden. Im Neonlicht sitzen darin ein paar Mitarbeiter, die den etwa 30 in der GEO zusammengeschlossenen Bauern vor allem zur Erntezeit einen Großteil der Organisation abnehmen. Wenn alles schnell gehen muss, denn eine gepflückte Gurke darf auf ihrem Weg vom Feld über die GEO-eigene Sortieranlage bis in die Fabrik nicht länger als einen Tag unterwegs sein.

Die GEO-Mitarbeiter übernehmen auch die Verhandlungen mit den Fabrikanten. Sie geben an die Landwirte weiter, welche Gurkengröße gerade gebraucht wird und verkaufen die Tagesernte für durchschnittlich 22 Cents pro Kilo oft schon, wenn die Gurken noch an den Pflanzen hängen. Ist die Nachfrage gering und das Angebot groß, beschließen sie auch, ganze Wagenladungen auf abgeernteten Kornfeldern zu entsorgen. So bleibt der Preis stabil. Das ist das Geschäft.

Allerdings nur ein Teil davon. Ein anderer besteht darin, mit Vereinigungen wie der Schutzgemeinschaft Bayerische Gurke das Produkt als Marke zu etablieren. So wie es der Spreewaldgurke gelungen ist. Den Begriff "Lebensmittelsicherheit" benutzt GEO-Geschäftsführer Josef Apfelbeck daher gern, weil die großen Unternehmen nicht mehr nur die deutschen Gurken ins Glas lassen, sondern längst auch aus Indien und China importieren. "Einen Stahlträger kann ich natürlich im Ruhrgebiet oder in Indien herstellen ­ er bleibt ein Stahlträger", sagt er. "Aber wenn in Asien Analphabeten Spritzmittel für Lebensmittel verwenden, ohne die Anleitung lesen zu können, kann man die Sicherheit nicht garantieren."

Ein bisschen Verbitterung schwingt in Apfelbecks Sätzen mit. Weniger darüber, dass die Globalisierung auch vor seinen Gurken nicht haltmacht. Mehr ärgert ihn, dass die Politik die Branche im Wettkampf häufig eher behindere als unterstütze. Der Mindestlohn für die deutschlandweit fast 300000 Arbeitshilfen und Erntehelfer sei so ein Beispiel. "Wir holen die ja nicht an der Hundekette her", sagt der Geschäftsführer und verschränkt die Arme vorm Rautenmuster seines Pullovers. "Die kommen freiwillig. Und wenn wir nicht genug zahlen, gehen sie ohnehin woanders hin." Auch dass die Bauern mindestens zehn Prozent deutsche Arbeitnehmer beschäftigen müssen, ist ihm ein Dorn im Auge. "Audi oder BMW würden sich das nicht bieten lassen."

Tatsächlich klingen die Forderungen der GEO fast bescheiden. "Was wir wollen?", wiederholt Apfelbeck und schiebt ein Gurkenglas wie im Verkaufsfernsehen in die Mitte des Konferenztisches. Mit dem Zeigefinger deutet er dann an den Rand des Etiketts. "Wir wollen hier einen Herkunftsnachweis. Damit die Leute wissen: Aha, das kommt aus Niederbayern, das ist Qualität."

So wie es etwa Alfred Fischl junior längst machen könnte ­ jedenfalls bei den eige-nen Produkten der Wasta-Konserven Fischl GmbH & Co. KG, die der 35-Jährige in dritter Generation führt. Wenn Fischl für Fremdfirmen abfüllt, die ihre Produkte aus verschiedenen Anbaugebieten beziehen, ist auch ihm der Herkunftsnachweis verwehrt. Von einst 30 Konservenfabriken existieren in Niederbayern heute weniger als ein Dutzend. Nur drei bauen noch selbst Gurken an, dazu gehört Wasta.

Vorbei an der Vitrine mit den Urkunden und dem "Goldenen Gütezeichenband" für "kontinuierlich hohe Produktqualität" geht Fischl über den Hof, hinein in den Betrieb, wo in der Hochsaison 65 Angestellte und Saisonkräfte arbeiten. Vier Millionen Kilo Gurken liefen in 2007 über die vier Produktionsstraßen, durch mehrere Reinigungsstufen und in Gläser und Dosen, wo der Aufguss dazugegeben wird. Jeder Betrieb hat seine eigene Rezeptur, wenn Fischl im Auftrag produziert, geben seine Kunden das Mischverhältnis und die Zutaten an ­ oder sie liefern, um ihr Geheimnis zu wahren, neben Gläsern und Etiketten den fertigen Aufguss gleich mit an. Er bestimmt das Wesen der Gurke, ihm verdankt sie ihr bis zu vier Jahre währendes Geschmacksaroma und vor allem "ihre Knackigkeit", wie Fischl sagt.

Die Gurke muss raus aus der Anonymität!

Pro Minute produzieren die Maschinen 100 Gläser und 25 Zehn-Liter-Dosen. Gestapelt werden sie in einem gewaltigen Lager. Ein Wald aus Konserven, durch den Fischl wie ein Gutsbesitzer schreitet. Natürlich könne er auch klagen, sagt er. Weil die Gewinnmargen sinken, der Preiskampf zunimmt. Mit der dritten Kommastelle werde inzwischen bei einem Glas oder einer Dose kalkuliert. Kartonagen, Strom, Wasser. "Da hängt so 'n Rattenschwanz dran", sagt der Chef und hebt beide Hände in die Luft. "Aber man muss sagen: Der Job macht auch Spaß."

Jobs, die vorwiegend Freude bereiten, gibt es in der Gurkenbranche vielleicht nicht viele, aber definitiv noch einen weiteren. Ein Amt ist es, das die 27-jährige Bankkauffrau Barbara Brandl vor rund einem Jahr an Michaela Hackl weitergegeben hat ­ das Amt der "Bayerischen Gurkenkönigin". Die Inthronisation der 21-jährigen Neu-Regentin fand auf dem Wallerfinger Volksfest im Beisein der Adelsverwandschaft statt ­ von der Gillamoos-Dirndlkönigin bis hin zur Spargelkönigin. Zwei Jahre dauert nun die Amtszeit, in der es mit Schärpe und kleiner Krone zu repräsentieren gilt. Auf Märkten, Messen und Landwirtschaftstagen, wo Redner kämpferische Sätze formulieren wie "Die niederbayerische Gurke muss raus aus der Anonymität!" und die Königin zustimmend lächelt.

Ihr Wissen verdankt das amtierende Oberhaupt hauptsächlich ihrer Vorgängerin. Die hatte sie einen Tag lang zu einer Art Crash-Kurs in Gurkenkunde auf den Betrieb der Eltern eingeladen. Wie wächst dieses Gemüse, wie wird es geerntet, wie sind die Helfer aus Osteuropa versichert ­ "solche Sachen", sagt die Königin freundlich und rührt im Kaffee. Schon jetzt hat sie davon bei einem Dutzend Terminen profitiert. Am Ende der Amtszeit wird ihr Album mit Bildern, Reden und Einladungen vermutlich ähnlichen Umfang erreichen wie der Ordner, der neben ihrer Vorgängerin auf dem Café-Tisch liegt. Fotos, Zeitungsartikel und Autogrammanfragen. Allerdings hätten die Absender ihren Wunsch auch an die offizielle Amtsadresse mailen können ­ [email protected].

Ob sie das Gefühl haben, dass die niederbayerische Gurke in Deutschland nun schon bekannter geworden sei? Da lächeln die beiden Gemüse-Botschafterinnen etwas verlegen. Schwer zu sagen. Aber ohnehin kann wohl keine Marketing-Idee leisten, was Daniel Küblböck einst für die niederbayerische Gurke unfreiwillig gelang: Schon wenige Tage nach seinem Unfall wurden Gläser, angeblich aus der verunglückten Fracht, bei Ebay angeboten ­ für mehr als 20 Euro pro Stück.