Editorial

Ungeliebt und unentbehrlich

• Ich habe mich geirrt. Als wir vor gut 20 Jahren brand eins gegründet und über die Zukunft der Wirtschaft nachgedacht haben, war ich sicher, dass das Frauenthema bald keines mehr sein würde: In einer auf Kreativität und Wissen bauenden Ökonomie, so dachte ich, würden die Machos verlieren, Frauen immer mehr Chancen bekommen …



Jahrzehnte später akzeptiere ich Quoten, bin noch immer keine Freundin des Genderns, nehme es aber hin. Und kann verstehen, dass es inzwischen Magazine gibt, die sich mit Wirtschaft aus speziell weiblicher Sicht beschäftigen. »Strive« heißt eines von ihnen – und mit dem dortigen Team haben wir uns zum Thema Führung verabredet. Ein Thema, zwei Redaktionen und viele Blickwinkel: viel Spaß mit dem Experiment.

Dass auch in unserem Heft diesmal Frauen eine besondere Rolle spielen, hat weniger mit der Kooperation als mit der Lage zu tun: Die Gleichstellung der Geschlechter ist zweifellos das Führungsthema der Zeit. „Dürfen Männer noch führen?“ war deshalb eine der zur Auswahl stehenden Titelzeilen. Für die lakonischere Variante, die nun auf dem Titel steht, sprach allerdings ein zweiter großer Trend: Die Bereitschaft, eine Führungsposition zu übernehmen, nimmt in der jüngeren Generation kontinuierlich ab, unabhängig vom Geschlecht.

Das deutete sich schon vor sieben Jahren an, als wir uns zuletzt dem Thema widmeten und den „Scheißjob“ an der Spitze beschrieben. Schon damals zwang ein gut ausgebildeter und selbstbewusster Nachwuchs in vielen Unternehmen zu flachen Hierarchien und zugewandteren Chefs, als Folge der Pandemie haben sich die Ansprüche noch mal erhöht. Seit sich ganze Belegschaften ans Homeoffice gewöhnt haben, überbieten sich die Firmen mit Lockangeboten, von der Viertagewoche bis zum regelmäßigen Büro-Event. Die Wirtschaftspsychologin Vera Starker hat eine andere Idee: Sie hat ein Konzept gegen Zeitvergeudung entwickelt, die Agentur Klenk & Hoursch lebt es vor.

Vielfalt scheint in der Wirtschaft als wünschenswertes Ziel erkannt worden zu sein, zumindest auf dem Papier. Alle wissen um den Wert unterschiedlicher Blickwinkel, alle wollen mehr Frauen, alle beklagen, wie schwer das sei. Dass es funktioniert, beweisen die IT-Firma Thoughtworks und die GLS-Bank. Gemeinsame Essenz: Diversity ist eine Führungsaufgabe, für ganz oben.

Dabei geht es um weit mehr als darum, den Frauenanteil zu erhöhen. Wer wirklich andere Blickwinkel bei der Entscheidungsfindung will, muss auch in anderen Milieus suchen. Warum sind so wenige Arbeiterkinder an der Spitze von Unternehmen? Wo sind dort Menschen mit Behinderung zu finden? Wie gelingt der Austausch zwischen Jung und Alt?

Führung war nie einfach, wurde aber lange als eher lästige Nebensache behandelt. Doch inzwischen fehlt es überall an Arbeitskräften, von der Zufriedenheit der Belegschaft und der Motivation der Teams hängt die Zukunft vieler Firmen ab. Der gern als weich beschriebene Führungsanteil am Spitzenjob wird damit entscheidend.

Ob er damit attraktiver wird? ---