Jetzt mal ganz in Ruhe!

E-Mail-Terror, Meeting-Inflation, Slack-Alarm – wie soll man sich da konzentrieren? Die Wirtschaftspsychologin Vera Starker empfiehlt, es zu machen wie in manchen Behörden: Bürotür zu, nicht ans Telefon gehen, E-Mail abschalten, Ruhe bewahren. Funktioniert das auch anderswo?





• Die Kommunikationsberatung Klenk & Hoursch AG hat vier Niederlassungen in Deutschland und Kunden wie Continental, Coca-Cola oder die Charité Berlin, mit denen sie sechs Millionen Euro Umsatz pro Jahr macht. Die etwa 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind auf „wicked problems“ spezialisiert, verzwickte Angelegenheiten, bei denen man nie so genau weiß, ob man für die Guten oder für die Bösen arbeitet. Coca-Cola will nachhaltig werden? Eigentlich gut. Aber gehört der Konzern nicht zu den Bösen, weil er so viel Zucker in seine braune Limo kippt? Werden die Menschen dadurch süchtig und krank, während Coca-Cola reich wird? Schwieriger Job also, wenn man für eine solche Firma Nachhaltigkeitskommunikation macht.


 

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Aber Klenk & Hoursch (KH) mag es kompliziert. Krisenkommunikation ist einer der Arbeitsschwerpunkte: Wenn’s richtig knallt und einem alles um die Ohren zu fliegen droht, muss man sofort reagieren, um das Schlimmste zu verhindern und die Deutungshoheit zu behalten. Für solche Fälle stehen bei der Agentur Leute wie Tobias Müller und sein Krisen-Team Tag und Nacht bereit.

Außer vormittags von zehn bis zwölf. Da muss die Krise leider warten, weil bei KH alle Telefone, E-Mail-Programme, Social-Media-Kanäle und Smartphones abgeschaltet sind. Ruhe bitte, Fokuszeit! Vor der Mittagspause wollen sich die Agenturleute ungestört auf ihren Job konzentrieren und klotzen in den zwei Stunden schnell mal weg, wofür sie früher den ganzen Tag (und oft auch noch die halbe Nacht) gebraucht haben.

Daniel J. Hanke, einer der Inhaber von KH, war vor etwa einem Jahr mit der Idee in die Firma gekommen, obwohl er sie am Anfang selbst ein bisschen schräg fand: Mitten am Tag einfach mal zwei Stunden abschalten? In einer Agentur? Mit Kunden, die daran gewöhnt sind, sofort bedient zu werden?! „Wir sind eine Beratungsfirma und verdienen unser Geld damit, erreichbar zu sein“, sagt Hanke. „Und dann stellen wir das Telefon ab.“ Ziemlich verrückt! Andererseits: Wenn eine Agentur wie Klenk & Hoursch nicht verrückte Sachen ausprobiert, wer dann? In den Agenturen sitzen doch die coolen Typen, die sich was trauen, weil sie frei und kreativ und neugierig sind.

Genauso ein Typ ist Hanke. Er ist 48 Jahre alt, hält 15 Prozent der Agentur-Anteile und trägt destroyed Jeans sowie ein fein gemustertes Slim-Hemd zum Drei-Tage-Bart. Nach Feierabend kümmert er sich um die vier Kinder, weil seine Frau gerade ein Referendariat macht und nicht viel Zeit hat. Und am Wochenende fährt er einfach so zum Spaß kurz mal in zehn Stunden 285 Kilometer mit dem Rennrad über die Alpen. Der Mann ist eine Maschine und will noch möglichst lange über die die Berge rasen.

Deshalb hat er sich auf das Fokus-Projekt eingelassen. „Meine Fragen waren: Wie wollen wir in Zukunft arbeiten? Und wie wollen wir in Zukunft noch besser werden?“, sagt Hanke. „Klar war nur, dass es so wie bisher nicht weitergehen konnte: immer mehr Druck, immer mehr Meetings, immer mehr Mails. Immer weniger Zeit. Wir mussten irgendwie rauskommen aus diesem Hamsterrad. Allein deshalb, weil unsere jungen Leute aus der Generation Z so nicht arbeiten wollten.“ Daher war die Fokus-Idee gar nicht so verrückt, wie alle zunächst dachten.

Jetzt sitzt Hanke in seinem Büro an der Münchener Prinzregentenstraße, eine der besseren Adressen der bayerischen Haupt- stadt und bereitet sich auf die Fokuszeit vor. Es ist 9.30 Uhr. Hanke hat festgestellt, dass er am effektivsten ist, wenn er das Time-out mit einer To-do-Liste vorbereitet. Um Punkt zehn ist dann die Tür zu, und Hanke macht das, was er Wissensarbeit nennt. Ideen ausbrüten, Strategien entwickeln, Konzepte schreiben. Weil niemand stört (Klopfen und reinkommen ist in der Fokuszeit auch verboten), flutscht es richtig. Hanke sagt, dass er früher wöchentlich 53 bis 54 Stunden gearbeitet hat. Jetzt schafft er das gleiche Pensum in 43 Stunden und hat 10 Stunden mehr Zeit für seine Frau, seine Kinder und sein Rennrad.

1. Konzentriertes Arbeiten hat Vorrang vor ständiger Erreichbarkeit.
2. Fokus auf die Aufgabe hat Vorrang vor der Bewältigung von E-Mail-Chat-Fluten.
3. Anfragen an andere sind immer überlegt und sinnvoll gebündelt.
4. Meetings sind die Ausnahme – daher müssen sie fokussiert und effizient sein.
5. Digitale Kommunikationsmittel werden zielorientiert und reduziert eingesetzt.

Quelle: Starker/Schneider: Endlich wieder konzentriert arbeiten! RBV Verlag, 2020.

1. Meetings finden nur noch statt, wenn Ziel, Sinn und Zweck klar definiert sind. Sie dauern maximal 45 Minuten, besser nur 25 Minuten. Nur wer etwas zum Thema beitragen kann, wird eingeladen. Handys und Computer werden ausgeschaltet (es sei denn, man braucht sie für Präsentationen).

2. E-Mails werden so selten wie möglich verschickt und gehen nur an Personen, für die sie wirklich wichtig sind. Die Liste der cc-Empfänger wird radikal reduziert. Die Funktion „Antwort an alle“ wird abgeschaltet. Jede E-Mail enthält nur ein Thema, das im Betreff exakt beschrieben wird.

Zwei Stunden lang herrscht Totenstille

Erstaunlicherweise haben die 40 Kunden verständnisvoll auf die tägliche Abschaltung ihrer Agentur reagiert, wahrscheinlich weil sie auch gern Fokuszeit hätten. Durchschnittlich alle vier Minuten wird man in Deutschland durch irgendeine Nachricht von der Arbeit abgehalten. Slack, E-Mail, Telefon, Whatsapp, ein Match auf Tinder oder Kollege Müller, der dringend berichten muss, wie sein Wochenende war. Es ist in vielen Büros fast unmöglich, überhaupt noch eine Phase der Konzentration aus dem Arbeitstag herauszuquetschen. Viele nehmen deshalb Aufgaben, für die man Ruhe braucht, mit nach Hause.

Hanke lernte die Erfinderin der Fokuszeit vor etwa zwei Jahren in Berlin kennen. Da unterstützte die Wirtschaftspsychologin Vera Starker, 50, seinen Bruder bei einem Generationswechsel in der Firma. Starker hatte das Fokus-Konzept zusammen mit anderen entwickelt und bereits in einer Betaversion getestet und angepasst. Sie nennt es TFC: The Focused Company.

Im Zentrum steht eine Art Erwachsenen-Version der Stillbeschäftigung aus der Schule (Handy weg, Klappe halten, Mathe lernen) in Kombination mit der Kundenvermeidungstechnik hartleibiger Behörden. Aber das TFC-Projekt geht weit darüber hinaus. Mit insgesamt 25 Positionen will es komplette Unternehmenskulturen verändern. „Die Wertschätzungsanker des Industriezeitalters: ständige Erreichbarkeit, Dauerpräsenz in Meetings und Überstunden“ seien „aus Sicht des Gehirns fatal und senken unser Leistungspotenzial deutlich“, sagt Vera Starker. „Wissensarbeiter verbringen 60 bis 80 Prozent ihrer Arbeitszeit in Meetings. Das muss man sich mal geben: unendliche Blablabla-Sitzungen und ständige E-Mails. Wie soll man sich da konzentrieren?“ Im digitalen Wissenszeitalter sei genau das Gegenteil notwendig: weniger arbeiten, weniger Meetings, öfter abschalten.

Das klappt bei Klenk & Hoursch, dem ersten von zwölf Unternehmen, die TFC eingeführt haben, fast alles schon ganz gut. Brav klemmen die KH-Leute während der Fokuszeit ihre Verbindungen zur Außenwelt ab. Im Büro herrscht dann zwei Stunden lang Totenstille. Gern legen sie auch am Nachmittag kurz mal eine schöpferische Pause ein, um die Gehirnwellen neu zu justieren. In den E-Mails setzen sie nicht alle auf cc, sondern nur die, die es wirklich betrifft, und am liebsten niemanden.

Aber die Sache mit den Meetings läuft gar nicht gut. Die neue Regel lautet: so wenig Meetings wie möglich, so wenige Teilnehmer wie möglich, so wenig Zeit wie möglich. Das klappt aber nur, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Wer ein Meeting einberuft, muss Ziel, Sinn und Dauer klar definieren und die Verantwortung dafür tragen. Wer zum Meeting kommt, muss pünktlich sein (Zeit ist knapp) und sich konzentrieren. Alle digitalen Tools müssen leider draußen bleiben, es sei denn, es gibt eine Powerpoint-Präsentation oder jemand tippt das Protokoll in seinen Laptop (mit ausgeschaltetem Mail-Programm).

„Beim Thema Meetings“, sagt Hanke, „sind wir vielfach gescheitert.“ Ein Kollege notierte eine Woche lang, wie viel Zeit er am Konferenztisch beim Warten auf die anderen verlor: dreieinhalb Stunden. In einer einzigen Woche! Und wenn die Leute dann da waren, wollten sie über alles Mögliche quatschen, bevor sie sich auf das eigentliche Thema einließen. „Wir hatten die soziale Komponente der Meetings unterschätzt“, sagt Hanke. Nun veranstaltet man einmal pro Woche ein spezielles Smalltalk-Treffen, in dem über alles geredet werden kann, was die Effektivität nicht fördert. Fokussierte Ineffizienz sozusagen. Ob sich die verordnen lässt, darf allerdings bezweifelt werden.

Ein weiteres Thema sind digitale Tools. Weniger ist mehr und spart Ressourcen. Wer seine Firma fokussieren will, mistet die App-Halden besser aus, so der Rat von Vera Starker. Eine Art Digital Detox auf Unternehmensebene. Klenk & Hoursch allerdings haben eine neue installiert. Mit der sogenannten Culturizer-App soll der Wandlungsprozess zur Focused Company für alle Mitarbeiter dokumentiert werden.

Mittlerweile ist bei KH in München die Fokuszeit vorbei. Zwölf Uhr. High Noon. Die Türen gehen wieder auf, Telefone klingeln, Handys vibrieren, Menschen reden auf dem Flur miteinander oder treffen sich im Konferenzraum. Fast wie in einer ganz normalen Firma. Die nächste Krise kann kommen. ---

Foto: © Rainer Störmann

Die Berliner Wirtschaftspsychologin Vera Starker, 50, hat vor etwa drei Jahren zusammen mit ihrer Schwester Anne Starker, einer Architektin, und dem Kulturwissenschaftler Matthias Schneider das Konzept für The Focused Company (TFC) entwickelt. Mittlerweile wenden es zwölf Firmen mit insgesamt rund 25 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an.

Mehr über ihre Arbeit ist in brand eins / thema IT-Dienstleister 2023 zu lesen. Das Heft erscheint am 11. November.

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