Ich brauche keinen Chef

Denn ich habe schon einen: mich selbst.





• Es begann mit dem klügsten Mädchen der Schule, das später selbstverständlich das beste Abi machte und sonst dafür bekannt war, dass sie sich mit niemandem verabredete. Außer mit mir, dem dicken Jungen, Trottel, Außenseiter. Warum, verstand ich nicht, denn sie war interessant, lustig und schlau. Aber ich hatte keine Freunde, also machte ich mir keine Gedanken – ich hing einfach gern mit ihr rum. Eines Tages sagte sie einen Satz, der bei mir hängen blieb:

„Du musst immer tun, was du wirklich willst.“

Kurz darauf saß ich wieder mal unentschlossen vorm Telefon (Festnetz!), weil ich gern dieses Mädchen angerufen hätte, aber … Ja, die alte Geschichte. Doch dann hörte ich eine Stimme in mir. Sie sagte: „Du musst immer tun, was du wirklich willst.“ Also nahm ich den Hörer ab und wählte ihre Nummer. Von diesem Moment an hatte ich einen Chef.

Das Mädchen und ich wurden Freunde, was auch schön war, aber vor allem traute ich mich in Zukunft, auch andere Mädchen anzurufen.

Mein Chef war ein echter Patriarch: wohlmeinend, freundlich, klug – aber streng! Ausreden gab es nicht. Da war zum Beispiel die Sache mit der Höhenangst. Die war …, sagen wir: ausgeprägt. Bereits auf einem Tisch zu stehen reichte mir für Schwindelgefühle. Deshalb stand ich auch nie auf einem Tisch. Bis mir mein Chef erklärte, dass ich doch wohl nicht den Rest meines Lebens im Flachland verbringen wollte. In den folgenden Jahren jagte er mich auf alles, was höher war als eine Giraffe: Dächer, Türme, Gerüste, Treppen mit rutschigen Stufen, selbstverständlich ohne Geländer, und schwankende Brücken über sehr tiefen Abgründen. So ging es Jahre.

Bis ich sogar beim Riesenradfahren Spaß hatte.

Aber das war nur der Anfang. Ich war ein Natural Born Schisser. Meine Haltung zu allem jenseits des Sofas lautete: „Kann ich nicht.“ Und mein Chef antwortete stets: „Mach hin, wir haben noch was vor.“ Also lernte ich, der ich während meiner Schulzeit völlig zu Recht als Außerirdischer betrachtet worden war, wie es ist, auf der Erde zu leben: Ich sprach fremde Menschen an, fuhr allein in ferne Länder, in denen ich niemanden verstand und aus denen ich im Notfall nicht zu Fuß nach Hause hätte gehen können, machte die abwegigsten Jobs in Läden, Fabriken, Lagern, Büros, Ställen und Spielhallen. Es waren Jahre der permanenten Überforderung – und unendlicher Spaß!

Nichts ist besser, als die eigenen Grenzen zu überschreiten.

Irgendwann meldeten sich weitere innere Stimmen. Ich ist viele – das gehört zum kleinen ABC der Selbstfindung. Aber ich hatte keine Ahnung, und so war ich ziemlich überrascht, als in mir völlig neue Personen auftauchten, die vorher vermutlich von Angst verschüttet gewesen waren. Da gab es ein kleines Kind und einen, der permanent rechnete, einen Draufgänger, einen Neurotiker, einen ständig Gelangweilten und so weiter. Mein Chef beschloss, dass fortan bei wichtigen Entscheidungen alle zu Wort kommen sollten.

So betraten wir das Zeitalter der Mitbestimmung.

Die Diskussionen waren in der Regel konstruktiv: Die meisten wollten einfach gehört werden. Manchmal tauchten auch neue innere Figuren auf, einige nur sehr kurz, doch allmählich dünnte sich die Gruppe aus. Eines Tages stellte ich fest, dass ich schon lange keine inneren Diskussionen mehr geführt hatte – alle Beteiligten schienen sich über die Jahre verflüchtigt beziehungsweise zu einer Person vereint zu haben, die lautlos und unauffällig tat, was auch immer zu tun war. Das bin dann wohl ich, dachte ich.

Irrtum.

Ein Freund erzählte mir von einer etwa ein Jahr dauernden Behandlung, die nur über den Körper lief, aber große Auswirkungen auf die Psyche haben konnte. Und ich, der ich den Verdacht hatte, dass ich noch nicht fertig war, beschloss: Das probiere ich aus. Bereits während des Prozesses spürte ich, dass etwas passierte. Ich erinnerte mich an Dinge aus meiner frühen Kindheit, die vielleicht der Grund für meine einst endlose Angst waren. Und mit der Zeit überkam mich etwas, das ich nie zuvor gespürt hatte: eine enorme Leichtigkeit. Ich war frei – und musste nichts mehr kontrollieren.

Nicht mal mich selbst.

Was das hieß, merkte ich erst mit der Zeit. Der Erste, der sich selbstständig machte, war mein Körper. Ich erinnere mich, wie ich eines Tages in der Bahn saß, vom Büro nach Hause, und überlegte, was ich noch einkaufen sollte. Doch als ich – oder sollte ich besser sagen: wir? – ausstieg, trottete mein Körper nicht brav zum Supermarkt, sondern in die entgegengesetzte Richtung, nach Hause. Ich dachte: Soll ich jetzt was sagen? Aber mein Körper wusste offenbar, dass wir nichts brauchten, und wollte seine Ruhe. Also ließ ich ihn einfach machen.

Von da an arbeitete mein kleines Ich-Unternehmen agil.

Eigentlich waren die in der Folge auftretenden selbstständigen Mitarbeiter nichts Neues für mich. Ich wusste, dass sich eine Intelligenz im Darm um den Stoffwechsel kümmert und nebenbei massiv die Psyche beeinflusst. Von der kinästhetisch-körperlichen Intelligenz, mit der Sportler, Artistinnen und Schauspieler reichlich gesegnet sind, hatte ich ebenfalls gehört, genau wie von der emotionalen Intelligenz. Was ich jedoch nicht wusste: Das alles war auch in mir und wartete darauf, endlich zum Einsatz zu kommen. Und so geschah es:

Ich ließ los – sie legten los.

Natürlich nicht alle auf dem gleichen Niveau. Meine körperliche Intelligenz ist sehr schwach. Kein Wunder: Ich verbrachte den Sportunterricht meist auf der Bank und vermied später grundsätzlich Turnhallen – da fehlt die Basis. Dafür ist meine emotionale Intelligenz riesig: In meiner komplizierten Familie brauchte ich viel Einfühlungsvermögen – ein Spitzentraining. Doch allen gemein ist, dass sie am besten funktionieren, wenn ich sie in Ruhe lasse. Heute bin ich besser gelaunt, gesünder, leistungsfähiger, freundlicher und entspannter als je zuvor. Klar, ab und zu gibt es eine Krise – aber kein Vergleich zu früher! Denn ich bin nicht mehr viele, sondern eines: eine gut funktionierende Organisation.

Die Agilität sorgt dafür, dass alle ungestört und frei von Vorgaben ihr Bestes geben können, was ideal ist für mein Leben als Teilzeitfreiberufler, Teilzeitalleinerziehender und Alleinlebender mit eigenem Haushalt, der sich oft um Freunde kümmert, die nicht gut beisammen sind, und der fast immer pleite ist – eine eher komplexe Angelegenheit. Doch bekanntlich besteht Komplexität aus vielen Einzelteilen, die miteinander verknüpft sind, und wenn jedes einzeln angegangen wird, verändert sich auch das Ganze. Manchmal wundere ich mich, wie gut sich alles fügt: Pünktlich, ordentlich und auf akzeptablem Niveau arbeite ich mein Leben ab und habe dabei sogar Spaß.

Der Nachteil der Agilität? Es ist so gut wie unmöglich, Spezialisten, die ans unabhängige Arbeiten gewöhnt sind, von etwas zu überzeugen, dessen Sinn sich ihnen nicht erschließt. Das führt zum Beispiel zu meiner Abneigung gegen Bürokratie. Das passt, weil Bürokratie stets auch Kontrolle bedeutet – und Agilität setzt den Verzicht auf Kontrolle voraus.

Deshalb ist für sie eines essenziell: Vertrauen, die Voraussetzung für jegliche Führung. Mein innerer Chef hat mir immer vertraut, er glaubte sogar an mich, als mein Selbstvertrauen unter null lag. Er glaubte auch, dass es wert sei, den vielen inneren Stimmen zuzuhören, bevor etwas entschieden wurde. Und als er sah, dass wir es allein können, ließ er einfach los. Heute ist er ein bisschen wie Gott: Ich sehe ihn nicht, gehe aber davon aus, dass er eingreift, wenn es echte Probleme gibt. Und wenn er das, wie Gott, doch nicht tut, ist es auch nicht schlimm. Inzwischen vertraue ich mir selbst. ---

Strive mag koop abbinder

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