Führung in der Polizei

Christian Barthel hat zwei Jahrzehnte lang Polizistinnen und Polizisten für den höheren Dienst ausgebildet. Seine Diagnose: Die Polizei hat ein Führungsproblem.






Je penibler die Regelwerke, desto notwendiger wird es, sie im Alltag zu unterlaufen, sagt Christian Barthel über paradoxe Anforderungen in der Polizeiarbeit

brand eins: Herr Barthel, angesichts der Skandale um rechtsradikale Kreise in der Polizei und Einsätzen, die mit tödlichen Schüssen auf Verdächtige enden: Funktioniert die Führung im Polizeiapparat?

Christian Barthel: Leider nicht immer und nicht überall. Führungsaufgaben in der Polizei sind nicht ganz unkompliziert. Die sogenannte Polizeidienstvorschrift 100 regelt das Einsatzgeschehen der Streifenpolizei im Detail, von Großlagen wie Demonstrationen oder Geiselnahmen bis zum Alltagsgeschäft, etwa häusliche Gewalt. Das ist das Gebetsbuch in der Polizei-Ausbildung. Diese starke Verregelung ist auch absolut notwendig, schon weil die Polizei Gewalt ausüben kann. Aber neben dem Gebetsbuch gibt es die Alltagspraxis.

Ein Beispiel: Nach dem Legalitätsprinzip müssten Polizisten eigentlich jeden noch so banalen Rechtsverstoß ahnden, von Fußgängern, die eine rote Ampel ignorieren, bis zu Fahrradfahrern auf dem Gehweg. Das ist nicht machbar, also muss der Polizist entscheiden, welche Maßnahme sich lohnt. Die Alltagspraxis weicht das Legalitätsprinzip auf, nicht aus bösem Willen der Beteiligten, sondern um die Organisation arbeitsfähig zu halten.

Ein Polizist, der sich in jeder Sekunde an alle Regeln hält, wäre sofort arbeitsunfähig. Seine Kollegen würden ihn sehr schnell fragen, ob er noch ganz dicht ist und die Polizei lahmlegen will. Je penibler die Regelwerke, desto notwendiger wird es, sie im Alltagsbetrieb zu unterlaufen.

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