Alle für eines
Das Ruhrgebiet
Das Ruhrgebiet: größter Ballungsraum Europas, 5,4 Millionen Einwohner auf 4500 Quadratkilometern, einst Motor der industriellen Revolution und des Wiederaufbaus. Jeder dritte Arbeitsplatz hing 1970 an Kohle oder Stahl, heute nicht einmal mehr jeder zehnte. In den vergangenen 30 Jahren wurden in den industriellen Sektoren mehr als 450.000 Arbeitsplätze abgebaut. Jetzt soll der Pott wieder stark werden. Mit beispiellosem Kraftaufwand betreibt die Region den Wandel.
Dortmund ist auf dem Weg in die Zukunft am weitesten vorangekommen. Mit Hilfe von McKinsey & Company entwickelten Vertreter aus Stadt und Wirtschaft – allen voran ThyssenKrupp – vor knapp zwei Jahren einen Bauplan für die Region im Jahr 2010 – das dortmund-project liefert den strategischen Masterplan für die Entwicklung der Region zum führenden Standort für Informationstechnologie (IT), Mikrosystemtechnik und Logistik. Über 500 Millionen Euro wollen die Stadt und private Investoren in den kommenden zehn Jahren in den Standort investieren und mit der Entwicklung der modernen Industrien 70.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Beim dortmund-project, einer Public-Private-Partnership, die allein für 65 Millionen Euro steht, laufen alle Fäden zusammen, von hier werden die rund zehn Einzelprojekte gesteuert.
Mit sichtbarem Erfolg: Schon heute ist die Stadt führender europäischer Standort für angewandte Mikrosystemtechnik. Auch die Bereiche IT und E-Business boomen: Gut 700 Software-Unternehmen haben sich inzwischen in der Region angesiedelt. 850 Firmen in der Transport- und Logistikwirtschaft sowie rund 13.000 Beschäftigte in dieser Branche allein in Dortmund machen das Ruhrgebiet zu einem ernst zu nehmenden Wettbewerber im Rennen um den führenden Logistikstandort in Europa.
Das Projekt erscheint „auch bei kritischer Würdigung im Detail ohne Alternative“, meint der Dortmunder DGB-Chef Eberhard Weber. Die New York Times fand noch deutlichere Worte: Es sei schwierig genug, Pittsburgh in Palo Alto zu verwandeln, heißt es in einem Artikel vom Mai 2000, „aber der in Dortmund stattfindende Umbruch ist in seinen Ausmaßen noch viel gewaltiger“.Dieter Hennig, ThyssenKrupp, Personalvorstand
Konferenzraum, 19. Stock, ThyssenKrupp, Düsseldorf. Der Tisch ist so groß, dass man dem Gegenüber nicht die Hand reichen könnte, selbst wenn man sich quer über die Platte legen würde. Dieter Hennig kommt herein, steuert direkt auf den Besucher zu, will sich neben ihn setzen. Geht aber nicht. Der Pressesprecher zeigt nach drüben, auf die andere Seite, die Gegenseite, denkt man automatisch. Abstand wahren. Egal, macht ja nichts. Dicker Ledersessel, glücklicher Mann.
Dieter Hennig, Arbeitsdirektor im Vorstand von ThyssenKrupp, hat gute Laune. Er kommt aus der Aufsichtsratssitzung, ein Stockwerk darüber. Nicht, dass die Stimmung mies war, aber das hier ist ja mal ein Grund zu uneingeschränkter Freude: „Eine Seltenheit in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Wir haben eine Verpflichtung übernommen, sie gehalten und sie sogar mehr als erfüllt.“
Die Rede ist vom dortmund-project. Es geht um Strukturwandel, einstimmig, einhellig und stark. So stark, dass sogar der Aufsichtsrat aufmerkt. „Beeindruckend“, kommentierte der Allianz-Vorstandsvorsitzende Henning Schulte-Noelle aus der Vogelperspektive. Hennig lehnt sich vor, beschwört die Kraft: „Sogar die Grünen machen mit. Wie die in Dortmund gemeinsam auf ein Ziel zuarbeiten: wirklich toll!“
Jetzt kommen allerdings auch andere an. Jedes Mal, wenn der Konzern umstrukturiere, und Unternehmertum sei steter Wandel, merkt der Arbeitsdirektor an, der ja letzten Endes immer diesen Wandel sozial kreativ an die Verlierer und ihre Interessenverbände zu verkaufen hat, also lebenslanges Krisenmanagement betreibt, jedenfalls, wenn also der Konzern mal wieder „de-investiert“, dann wollen die Standorte „auch so was wie in Dortmund. Jetzt muss mal wieder Normalität einkehren“, sagt Hennig ernst. Gewollt ernst.
Was ist so Besonderes an Dortmund? Alle sind sich einig, sogar die Verbände, deren bisherige, in ihrer Natur liegende Aufgabe es war, die Gegenseite auszubremsen, sollte sie die eigenen Ziele kreuzen. Kommunalpolitik nennt man dieses Kräfte zehrende, aber sichere Wettschleichen. In Dortmund hingegen geben alle Gas. Und ausgerechnet der Thyssen-Krupp-Konzern, der sich aus der Region zurückzieht, gab den Anstoß. Verkehrte Welt? Keineswegs. Denn die Stahlbarone wollten nicht, sie mussten.
1997 war ein dramatisches Jahr, erinnert sich Hennig. Krupp-Hoesch versucht eine feindliche Übernahme von Thyssen. Hennig, damals schon bei Thyssen: „Wir dachten, das sei ein Hörfehler.“ Von der Landesregierung kommt die Ansage: „Fusion erarbeiten! Keine betrieblichen Kündigungen. Ausbildungskapazität aufrechterhalten.“ Wolfgang Clement, damals noch nordrhein-westfälischer Wirtschaftsminister, unterbricht seinen Urlaub und moderiert das Gipfeltreffen auf Schloss Landsberg.
„Ich humpelte da im Laufschuh durch die Gegend, meine Achillessehne war gerissen“, erinnert sich Hennig. Am Karfreitag verkünden die Parteien ihre Fusion und die Konsequenzen: Abbau der Roheisenproduktion in Dortmund. Die Thyssen-Standorte in Duisburg sind günstiger. ThyssenKrupp muss für jeden verlorenen Arbeitsplatz einen neuen schaffen – unterm Strich 3600 – die eigenen Industriebrachen vermakeln, Neuansiedlungen anwerben. Aufräumen. Aufbauen. Ein festes Projekt in den Planzahlen war eine neue Platinenfabrik in Dortmund.
„Aber plötzlich hieß es: Das geht so nicht“, erzählt Hennig. Volkswagen, Hauptabnehmer der Platinen, setzt den Konzern unter Druck. Das Werk muss nach Wolfsburg, sonst bekäme ein anderer Zulieferer den Zuschlag. Ekkehard Schulz, damals Vorstandsmitglied der Thyssen AG und heute Vorstandsvorsitzender der ThyssenKrupp AG, schäumt.
Und hört zum ersten Mal vom Wolfsburg-Projekt. Schulz lädt die Unternehmensberatung McKinsey & Company ein, die Verfasser der Volkswagen-Studie. Nach der Präsentation fragt er: „Können wir so etwas auch in Dortmund machen?“ Nun, Hennig lehnt sich zurück, der Rest ist bekannt. ThyssenKrupp bezahlt eine Studie und stellt ein Team um Personalchef Heinrich Kahmeyer nach Dortmund ab. Das Ergebnis schenkt ThyssenKrupp der Stadt. Die setzt es nun um.
Vor einiger Zeit kam ein Brief vom Oberbürgermeister: „Lassen Sie den Kahmeyer bloß hier.“ Seit über einem Jahr ist der Mann im Ruhestand. Aber weder der Pensionär noch die Gewerkschaften noch sonst jemand in Dortmund will jetzt runter vom Gas. „Dann gab es einen Termin auf Schloss Landsberg“, sagt Dieter Hennig, das Jackett weitet sich. „Dort verkündeten wir die Zahl der Arbeitsplätze, die wir geschaffen haben, mehr als 4000.“ „Nehmen Sie doch noch einen Keks“, sagt der Pressemann, „die hier sind ganz besonders gut.“
Utz Ingo Küpper, Wirtschafts- und Beschäftigungsförderung Dortmund, Geschäftsführer
Wenn man sich im Geschäftsleben trifft, tauscht man Kärtchen aus, legt sie neben die Kaffeetasse, und während man sich warm und hoffentlich sympathisch redet, schaut man sich die Karte des Gegenübers ein wenig genauer an. Auf Utz Ingo Küppers Karte steht vor seinem Namen „Dr. rer. pol.“. Direkt darunter kleiner, aber unübersehbar „M.P.A. (Harvard)“. Und weil Utz Ingo Küpper erst mal höflich Redezeit beantragt, um zu erklären, woher er komme, und dann tatsächlich bei seiner Studienzeit anfängt, scheint schnell klar: Der Mann ist eitel.
Hört man dem Geschäftsführer der Dortmunder Wirtschaftsförderung jedoch ein Weilchen zu, tastender Tonfall, dabei viel Blickkontakt, merkt man: Er ist unsicher, ja, sensibel. Irgendwann hört man, was er wirklich erzählt und notiert innerlich: feste Prinzipien. Sensibilität und ein fester Glaube. Schwierig. Hier schlug die erste Welle der McKinsey-Berater auf. Hier hat es geknallt.
„Die Unternehmensberater dachten, dass sich hier irgendwelche Beamten morgens erst mal ausschlafen und so weiter. Die üblichen Vorurteile“, sagt Küpper und zeigt Verständnis: „Verwaltung ist an sich defensiv. Da werden Schriften verfasst und Unterlagen verschoben, um Entscheidungen zu vermeiden.“ Auch das kennt man. Bei ihm trafen sie sich, schwärmten aus, brachten Studien zurück, diskutierten, stritten.
Und wo immer sie sich gerade durchgewühlt hatten, die Anrufe landeten bei ihm: „Du mit Deinen McKinseys! Ich habe den Schrank voller Gutachten. Kann das nicht die Dienststelle der Gewerkschaftsschule günstiger machen?“ Konnte sie nicht. Unbequeme Fragen gehören zum Handwerk. Dafür werden Fremde gebraucht. Das hat sie zusammengeschweißt. McKinsey, ThyssenKrupp und Küpper.
Küpper kommt aus Köln, dort hat er Wirtschaftsgeografie studiert, das Stadtentwicklungsamt geleitet, dann den Mediapark ins Leben gerufen. Danach war er Entwicklungsdezernent in Nürnberg. Als die CSU die Wahl gewann, wich er dem Parteiproporz, so ist das eben.
Dann kommt er nach Dortmund und stellt Fragen. „Wer kümmert sich um den Einzelhandel? Wer um die Stahlkrise? Wer macht Innovation?“
Niemand. Küpper baut das Amt für Wirtschaftsförderung in eine GmbH um und gibt Studien in Auftrag. Utz Ingo Küpper zieht Folder aus dem Regal. Ein Beweis, dass die Keimlinge bereits vorhanden waren, die tatsächlich im dortmund-project erblühten. Ein Beleg, dass auch hier die Egos aufeinander prallten, die Quittung liefert Küpper mit dem Kommentar: „Stadtentwickung braucht jemanden an der Spitze, denn der Egoismus der Ressorts frisst alles wieder auf.“ Mit Spitze meint er den Oberbürgermeister von Dortmund, Gerhard Langemeyer.
„Unternehmen haben die Verantwortung, Innovationspunkte aufzubauen, statt nur abzuräumen“, sagt Utz Ingo Küpper. Das sagt auch NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement. Das klingt selbstverständlich, ist jedoch, als Forderung formuliert, unbequem. „Wenn Sie da bohren, finden Sie zwar viele Felder, die Unternehmen aber fühlen sich bedrängt.“ Bis zu dem Punkt, an dem sie umdenken, bis zur Public-Private-Partnership wie dem Forschungszentrum für Digitale Bildtechnik, das er in Nürnberg mit Philips und Grundig aufbaute. Bis zum dortmund-project, dem großen Rad, das sie hier drehen.
Doch von allein dreht sich nichts. „Selbst wenn der Oberbürgermeister etwas sagt, wird das noch lange nicht gemacht. Die Leute überlegen sich, wie sie sich dazu verhalten. Da braucht man viele Hände, Allianzen“, sagt Küpper. Verwaltung. So läuft das. Hier ein Rädchen, dort ein Schräubchen. Da muss man schon sensibel sein.
Ullrich Sierau, Planungsdezernent und Stadtrat
Ullrich Sierau: blond, blauäugig, trocken. Norddeutsch. Witze, Anmerkungen und Seitenhiebe muss man hören, dann kapieren, die Mimik gibt nichts preis. Zwischendurch knubbelt er sich das Ohr, setzt sich auf, sieht jung aus, dann wieder nicht. Wie mit einer Stadt. Es kommt darauf an, was man gerade fokussiert.
Jede Epoche hat in Dortmund ihre Monumente hinterlassen. Natürlich finden sich auch hier die charakteristischen Einschübe langjähriger SPD-Regentschaft, die dank ihrer zwanghaften Orientierung zur Arbeiterklasse dem Thema Städtebau gegenüber eher misstrauisch eingestellt war und ästhetischen Protestbeton dazwischengoss. Nicht so alleendurchwoben wie Bochum, ohne den Reichtum und die barocke Enge der modernen Business-City wie Essen. Dortmund ist gemischt. Chaotisch. Nicht unbedingt schön, dafür aber lebendig. Sierau baut hier Symbole hinein, Meilensteine, das Gesicht des neuen Dortmunds. Das Anfassbare, aber auch das Angreifbare. Dortmund hat so viele Freiflächen, andere Kommunen würden sich danach die Finger lecken. „Keine Frage, planerisch machen wir hier die Welle“, sagt er und greift sich ans Ohr. Eine geschickte Geste. Sie nimmt dem Satz den Größenwahn. „Wir haben hier die einmalige Chance zum Umbau und können dabei Flächen ihrer ursprünglichen Nutzung zurückführen.“ Das ist das Problem. Wie weit geht dieser Ursprung zurück? Sind Fördertürme und Hochhöfen schon Geschichte? Sind sie Wunden oder Male? Abreißen, das alles? Integrieren? Sieht das neue Dortmund auch nach dem alten aus?
Sierau, pragmatisch, holt aus. Im Studium zog er nach Dortmund, organisierte eine Bürgerinitiative gegen die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen, kam so zur Politik, leitete das Forschungsinstitut für Stadtentwicklung und arbeitete mit Karl Ganser zusammen, dem letzten Helden der Postmoderne, dem das Ruhrgebiet die neuen Wahrzeichen, Zeche Zollverein, Emscher Park, das Wort Industriekultur verdankt. „Keine Frage“, sagt Sierau und erinnert sich an die Kundgebung am 1. Mai 1977. Irgendwas hat ihn bewegt, als Willy Brandt, „damals Präsident der Sozialistischen Internationale“, Sierau hebt den Zeigefinger, vor 70.000 Menschen eine Rede hält. Mitten im Westfalenpark, im Grünen, standen die Menschen, doch sie guckten immer auf den Hintergrund, wo zwei dunkle Schatten über den Bäumen standen, riesige Wächter, die Höchöfen von Phoenix-West. „Da haben viele Menschen ihre Kraft her, ihren Stolz.“ Natürlich würde das in die Entwürfe für den Technologiepark integriert, wenn sich das rechne. Gerade planen sie „einen Wissenspark, eine Art wirtschaftlich orientiertes Freizeitvergnügen“ für das ausrangierte Stahlwerk. „So ein Ort atmet das Bewusstsein, das man braucht, wenn man sich selbständig macht“, sagt Ullrich Sierau. Aus seinem Mund klingt das weder polemisch noch romantisch, sondern einfach wie ein Argument.
Winfried Materna, Präsident der IHK Dortmund, Unternehmer
Industrie- und Handelskammern sind Zwangsvereine. Ab einer gewissen Größe muss jeder Betrieb eintreten. Die IHK erhebt Beiträge und vertritt dafür die Interessen der Mitglieder gegenüber Politik und Gesellschaft. Und was sind die Interessen? Das hängt natürlich von der politischen Groß- und Kleinwetterlage ab und vom Standort, aber prinzipiell sind sie gleich: Sicherung und Pflege der Wachstumsbedingungen. Verarmt der Humus, ziehen die Großen weiter oder sie sterben. Die kleinen aber bleiben, die Masse. Und die IHK versucht Rahmenbedingungen zu ändern; wirbt für die Region, oft sogar im Ausland, spricht mit Investoren, macht sich Gedanken über die Zukunft, gründet Technologiezentren; sie wirbt, sie visioniert, sie wird politisch. Sie betreibt Wirtschaftsförderung. Sehen Sie das Problem?
So lief das auch in Dortmund. Mit Klaus Günzel, ihrem Hauptgeschäftsführer, der hier all die Jahre den Wandel trieb, der hier Deutschlands erstes Technologiezentrum gründete, der einen Software-Unternehmer als IHK-Präsidenten und somit Aushängeschild einer alten Kohle-, Bier- und Stahlregion installierte. All das geht auf Günzels Kappe, dem aber das Einzelkämpfertum so sehr in Fleisch und Blut übergangen war, dass er Attacken roch, als sich Politik, Gesellschaft und Kultur in seine Richtung drehten und mit vereinten Kräften weitergehen wollten, in seine Richtung. Klaus Günzel hält nichts vom dortmund-project.
Will man ihn jedoch zum Thema befragen, wird er abgeschirmt. Man bekommt einen Termin bei Winfried Materna, dem Präsidenten, dem Aushängeschild. „Wenn ich Dortmund sage, meine ich westfälisches Ruhrgebiet“, stellt er zu Anfang klar und legt den Finger in die andere, die chronische Wunde. Der Verband ist für den Regierungsbezirk zuständig, und der geht weit über Dortmund hinaus. Das kommunalpolitische Wirrwarr ist von Düsseldorf geplant.
Teile und herrsche: Seit Jahren gründet Ministerpräsident Wolfgang Clement neue Agenturen und Verbände, die das Revier erneuern sollen, zentral gesteuert aus Düsseldorf. Die große Strukturreform jedoch bleibt aus. Alle wursteln vor sich hin. Dortmund bleibt ein Einzelfall.
„Die Zusammenarbeit zwischen der Landesregierung und dem dortmund-project klappt ausgezeichnet“, sagt Winfried Materna ohne Zynismus, denn er weiß, das ist ein Pluspunkt. „Die Zeit der großen Namen ist vorbei, Dortmunds Zukunft liegt im Mittelstand“, sagt er. Die Statistik gibt ihm Recht: Firmen mit mehr als 1000 Mitarbeitern haben in den vergangenen 20 Jahren kontinuierlich Mitarbeiter entlassen. Für Wachstum und Arbeitsplätze sorgten die kleinen.
Sein eigenes Softwarehaus gehört zu den größeren. Die Materna GmbH beschäftigt mehr als 1400 Menschen. Da gibt es viel zu tun, wohl auch deshalb wollte sich der IHK-Chef wieder mehr um den eigenen Laden kümmern. Doch Dortmund stimmt, der Standort stimmt, und das dortmund-project ist goldrichtig. „Es hat die Kräfte gebündelt“, sagt Materna. Mitte April hat er sich zur Wiederwahl gestellt. Pech für den Unternehmer Materna: Er wurde als Präsident der IHK bestätigt. Jetzt macht er wieder hauptberuflich Politik.
Gerhard Langemeyer, Stadt Dortmund, Oberbürgermeister
Das also ist Gerhard Langemeyer. Ruhig, besonnen, verhalten, sympathisch. Pastortyp. Hat Archäologie, Kunstgeschichte und Philosophie studiert. War Kulturdezernent. Regiert jetzt die Stadt. Der als Oberbürgermeister? Als Langemeyer die Stichwahl gewann, zweifelte sogar Utz Ingo Küpper: „Ob der das kann?“ Jetzt lieben sie ihn. Und Langemeyer liebt das dortmund-project. Jedes Vorwort, jede Rede, jeder Atemzug: dortmund-project. Wenn das nichts wird, sollen sie ihn abwählen, hat er gesagt. Aber da denken sie nicht dran.
Der Oberbürgermeister sitzt im Büro und beschreibt sein Kind, die Chefsache, wie sie im Rathaus heißt. Bis 2010 sollen 70.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Rund 65 Millionen Euro schießt die Stadt in die Public-Private-Partnership. Die Zeiten der Gießkanne sind vorbei, „investieren statt subventionieren“, sagt Langemeyer und zählt die Elemente des neuen Dortmunds runter, langsam und genüsslich wie Karten beim Skat, wenn jemand weiß, dass er gewinnen wird. Informationstechnologie, Mikrosystemtechnik und Logistik – für die Wachstumsbranchen entsteht ein Ring aus attraktiven Standorten rund um die City. Alles, was in Dortmund Rang und Namen hat, sitzt im Planungsstab. Das dortmund-project ist die größte Koalition, die das Herz Westfalens je erlebt hat. Im Stadtrat gab es eine Gegenstimme, „von einem Alt-Linken“.
Jetzt kommen die Attraktionen, denn „wir haben keinen Kölner Dom, keinen Rhein und keine Alpen“, aber irgendetwas muss sie locken, die Träger des Rohstoffs Wissen. Die Innenstadt bekommt eine Philharmonie, die Kampstraße wird mit Installationen und Lichtquadern wieder Flaniermeile und um den Dortmunder Bahnhof bauen sie eine offene Gebäudelandschaft. Gerhard Langemeyer holt eine Zeichnung, redet weiter und während er die Zukunft beschreibt, benutzt er Schlagworte der Neuen Wirtschaft. Geschwindigkeit, Partnerschaft, Wandel, und anders als bei anderen Politikern kommt das gar nicht komisch rüber. Er scheint zu wissen, wovon er redet.
Langemeyer greift wieder zur Karte und zeigt auf hellgelbe Flächen, mitten in der Stadt. Industriegelände, zwei, drei Planquadrate groß, riesige Areale, alles alte Hoesch-, dann Krupp-Hoesch-, jetzt ThyssenKrupp-Gebiete. „Und hier, das fluten wir mit Wasser. Da kommt ein See hin, mit einem Yachthafen, einem Wohngebiet und allem, was dazugehört.“ Er umkreist ein Gebiet von 30 Hektar, etwa doppelt so groß wie die Hamburger Binnenalster, und tippt mit dem Finger noch mal in die Mitte. Dann blickt Langemeyer auf. Das war sein Ass, Kreuz-Ass. Sein Traum: ein Segelboot auf dem Phoenix-See. Man hat es kurz gesehen, den See, die Türme, die Villen drum herum. Kein Wunder, er glaubt ja selbst dran. Und nebenbei bemerkt: Er freut sich schon.
Udo Mager, dortmund-project, Projektleitung
Das dortmund-project ist nicht der Wandel selbst, es ist der Katalysator des Wandels. Ideen, Menschen, Flächen und Konzepte gab es vorher schon. Jetzt sind sich alle einig und arbeiten daran. Das Ziel ist klar. Die Gefahr: dass alles wieder auseinander läuft, zerfranst, zerredet wird. Das dortmund-project ist der neue Gassenhauer, einfach, einprägsam und daher stark. Gespielt aber wird es von einem komplexen Orchester, und wer das leitet, muss die Partitur beherrschen. Er muss dirigieren können, mit einem Hang zur Einfachheit. Muss reden können. Beide Sprachen beherrschen. Nicht zu laut sein. Freundlich auch. Lust haben. So sein wie Udo Mager.
Im süffisanten Ton eines gut organisierten Jungmanagers zählt er die Projekte auf. Dabei sagt er den einen oder anderen politischen Satz, wie „sozialer Friede entsteht durch Arbeitsplätze, und die entstehen in Unternehmen“, spricht lieber von „konjunktureller Wachstumsschwäche statt Rezession“, wurstelt Hülsensätze, aber abschließend kommt die verbale Faust, „und das find’ ich gut“, und man wacht wieder auf.
Udo Mager ist der Mann, der mit Heinrich Kahmeyer, Ex-Personalchef von ThyssenKrupp und jetzt beim dortmund-project aktiv, durch die Instanzen zieht, der die Wogen glättet, mit der Sparkasse die Venture-Capital-Lücke für die Wettbewerbsgewinner stopft und zusieht, dass die Verwaltung nachzieht. „Wir müssen schnell sein, bei allen Prozessen, die wichtig sind“, sagt Mager. Kommt man wirklich ins Gespräch mit ihm, lehnt er sich zurück und redet wie die Menschen hier eben reden. Entlässt die Worte mit einer Kameradschaft gewinnenden Distanz, horcht ihnen nach, ironisch, lustvoll, wach. Und dafür mag man ihn. Jeder Satz eine Etappe.
Was kommt nach 2010 für Udo Mager? Erst mal wieder ein zurückgelehnter Satz: „Vielleicht Geschäftsführer eines nicht unwichtigen stadtnahen Unternehmens.“ Schön gesagt. Konkret? „Die Geschäftsführung des Flughafens oder der Westfalenhalle“, sagt Udo Mager, horcht hinterher, zieht ein Mündchen, nickt. „Ja. Find’ ich gut.“
Aber erst einmal das dortmund-project: Gründerwettbewerbe, Welcome Package, Internationalisierung. Und die Imagekampagne! Einfache, klare Slogans. Muss jeder verstehen. Taxifahrer, Hausfrau, Metzger. Und Joy 2002: Der Wettbewerb soll noch mehr Jugendliche in die IT-Berufe locken. Und je mehr Dortmunder Bescheid wissen, umso besser hat der Projektleiter seinen Job gemacht. „Hab’ ich Lust drauf“, sagt Udo Mager.
Eberhard Weber, DGB Dortmund, Vorsitzender
„Meine Großeltern“, sagt Eberhard Weber über die beiden Porträts, die neben seinem Schreibtisch hängen. Und bevor der Gast sich blamiert, erkennt er Rosa Luxemburg, da kann der andere nur ... „August Bebel“, vollendet Weber den Gedanken. „Die meisten fallen drauf rein. Aber irgendwie stimmt es ja sogar.“ Er sieht aus wie einer, der viel Zeit in Kneipen verbringt. Oder bei verqualmten Veranstaltungen mit viel Redezeit und Kartoffelsalat. Wenn er spricht, redet jemand, der seine Nase offensichtlich in viele Bücher steckt, und spätestens hier zeigt sich, dass in diesem Dortmund tatsächlich alle wissen, wovon sie reden. Webers Thema: Cluster.
1994 warf er den Begriff in die Runde, wurde dafür ausgebuht. „Kompetenzfeldwirtschaft“ heißt es jetzt in Düsseldorf. Da ist der Begriff bis heute nicht hoffähig. Dann geht es rein in Webers Welt, in der die Modernismen Funken sprühen, „den Kooperationalismus ins neue Jahrtausend überführen“ – „dass in der Leitbilddebatte um das schnelle Dortmund, Armut und soziale Disparität als Standortnachteil betrachtet werden“ – „die Klassengegensätze verwischen, doch die Interessengegensätze bleiben“ – „Co-Management als neuen Wert für paritätische Mitbestimmung“, immer tiefer wühlt sich der Gewerkschaftler in die eigene Geschichte und taucht elf Jahre später wieder auf.
„Ich bin selbst zugezogen. Was mir hier begegnete, das kannte ich nicht“, sagt Weber. 1990 kommt er nach Dortmund, mitten in die Auseinandersetzung um die Stahlwerke Hoesch. „Um halb sechs morgens bekommst du einen Anruf: ‚Wir treffen uns im Fahrradschuppen bei Hoesch‘, hieß es da.“ Punkt viertel nach sechs war der Schuppen voll mit den Vertrauensleuten der Gewerkschaft, 1300 Mann. „Hochmobile, durchsetzungsstarke Experten für Arbeit waren das. Das war das Stahlbad“, sagt Eberhard Weber, so heiß ging es da zu, sechs bis acht Stunden lang. Und mittendrin stand Alfred Heese, der „letzte große Arbeitsdirektor von Hoesch“, nennt Weber ihn. Wieso? Die Leute waren ehrlich. Bemüht. Standen zu ihrem Wort. Egal auf welcher Seite.
Und 1997! Als sie in Düsseldorf die Fusion und damit das Ende der Flüssigstahl-Ära bekannt gaben. Günter Samtlebe, Langemeyers Vorgänger, „der kam auch von Hoesch, hat dort Eisen gekloppt, auch Arbeitsdirektor“, brach den Urlaub ab, tourte durch die Betriebe, beruhigte die Stadt. Hielt den Frieden aufrecht.
Und heute? Weber lächelt. Kommt wieder auf die Cluster: „Dieser Clusteransatz hat etwas mit Planung von Wirtschaft zu tun“, sagt er. „Wir setzen uns Ziele, ordnen sie und machen sie nachprüfbar. Was ich nicht gerade als neoliberale Wirtschaftsführung verstehen würde“, sagt Eberhard Weber sehr zufrieden und grinst zu seinen Großeltern rüber.
Heinrich Kahmeyer, ThyssenKrupp, Ex-Personalchef, jetzt: dortmund-project
Mit 23 Jahren fing Heinrich Kahmeyer bei Hoesch in der Personalabteilung an, bei Alfred Heese, zuletzt Mitglied des Vorstands und Arbeitsdirektor der Fried. Krupp AG Hoesch-Krupp, im alten Hauptgebäude, das aussieht wie ein verrußter englischer Landsitz. Jetzt ist er über 65, seit gut einem Jahr pensioniert und wenn er so zurückblickt, nach all den Fusionen, erst mit Krupp, dann mit Thyssen, kommt Heinrich Kahmeyer, der ehemalige Personalchef von ThyssenKrupp, auf gute 40.000 Arbeitsplätze, die er in seiner beruflichen Karriere abgebaut hat. Eigentlich hat er nichts anderes gemacht, als Stellen abgebaut. Sozialverträglich.
Heinrich Kahmeyer steht auf der Aussichtsplattform des Dortmunder Fernsehturms Florian im Westfalenpark und schaut hinunter. Auf seiner Krawatte sind kleine Teddybären, die Stimme hat etwas Cowboyhaftes, Zögerndes, etwas kratzig, bärbeißig möchte man sagen. Wenn er redet, kneift er seine braunen Augen zusammen. Kahmeyer zeigt auf den neuen Flughafen. Dort unten, neben der B 1, die man hier oben nicht mehr hört, wohnt er mit seiner Frau. Sie hat ihn immer gebeten, das alles vernünftig zu machen. Schließlich wolle sie noch durch die Stadt gehen, erhobenen Hauptes, den Menschen in die Augen gucken.
Düsseldorf sieht man nicht von hier aus. Wo sie ihre Pressekonferenzen halten, bei denen Ekkehard Schulz, der heutige Vorstandsvorsitzende der ThyssenKrupp AG, aussieht, als würde er Kirschkerne kauen, und wo seine Mitvorstände „Opas Stahlhütte der Vergangenheit ist tot“ in die Mikrofone sagen, wenn sie Lust auf Zukunft machen wollen. Auf eine solche „Opa-Stahlhütte“ zeigt Heinrich Kahmeyer, einen von Gleisen zerkratzten Brandfleck im grünen Stadtteppich. „Blasstahlwerk Hörde, Phoenix-Ost“, sagt er, „da gehen bald die Feuer aus.“ Und dann wird Phoenix-Ost geflutet, da kommt er hin, der Badesee!
Und daneben: Phoenix-West, da kommt die MST-Factory hin und das neue Technologiezentrum, das alte platzt aus allen Nähten. Mein Gott, was haben sie geredet! Küpper, wie wütend der war. Was wollt ihr? Ersatzarbeitsplätze? Eine Alibi-Veranstaltung! „Wenn ein Unternehmen sich zurückzieht, tut das weh“, sagt er. Jeden Einzelnen haben sie überzeugt. So lange geredet, bis ganz Dortmund hinter ihnen stand. Einstimmig.
Heinrich Kahmeyer zeigt auf den Rand des Westfalenparks, den Anfang der Konzernmeile entlang der B 1, auf die Bürotürme. Dort ist die Post, die Telekom, dahinten E.ON, die IBM und Continental, und da vorn, da wird der IT-Tower von ThyssenKrupp stehen, auch ein Teil des dortmundprojects, und da hinten, das ist die B 54, wenn man aus südlicher Richtung kommt, und das da: Kleingartenanlagen, er steckt seine Hände ins Jackett, windig hier oben, gibt sich dem Panaroma hin. Guckt auf Dortmund mit seinen braunen Industrielöchern drin, wehmütig, verträumt, gespannt. Wie Männer eben so auf Baustellen gucken.
Ja und jetzt, sagt Heinrich Kahmeyer, jetzt kann er doch nicht aufhören: „Weiterreden, nicht nachlassen“, sagt er. Gerade jetzt, wo er zum ersten Mal in seinem langen Arbeitsleben endlich Arbeitsplätze schafft und keine abbaut. Zwei Tage die Woche ist er dabei. Wenn sie das bloß hinkriegen mit dem See! Der alte Werkstattleiter hat ihm ein Segelboot versprochen, eins aus Stahl.
Dieter Hennig
Was war Ihre größte Überraschung?
Dass alle Beteiligten in Dortmund partei- und verbandsübergreifend mit großem Engagement die Realisierung des dortmund-projects in Angriff genommen haben.
Ihre schlimmste Verzweiflung?
Der Verlust von 4000 Arbeitsplätzen als Auslöser des dortmund-projects.
Ihr persönlicher Lernerfolg?
Dass die Menschen im Revier die Kraft haben, unabwendbare Veränderungen als Herausforderungen anzunehmen und neue Ziele zu suchen.
Ullrich Sierau
Was war Ihre größte Überraschung?
Dass so viele Leute an den Gründungswettbewerben teilgenommen haben.
Ihre schlimmste Verzweiflung?
Die gab es nicht.
Ihr persönlicher Lernerfolg?
Die Tatsache, dass viele Menschen, die an einem Strang ziehen, tatsächlich etwas bewegen können.
Gerhard Langemeyer
Was war Ihre größte Überraschung?
Wie schnell Fachhochschule, Universität und Wissenschaftsministerium eine neue Hochschule, das Dortmunder IT-Center, gegründet haben.
Ihre schlimmste Verzweiflung?
Die Dortmunder Angewohnheit, Dinge erst zu beschließen, um sie dann gleich wieder in Frage zu stellen.
Ihr persönlicher Lernerfolg?
Schnelligkeit ist der Wettbewerbsfaktor unserer Zeit: Nur wer schnell handelt, hat die Nase vorn.
Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.